Kinderwunschtage in Berlin: Künstliche Befruchtung als letzte Möglichkeit
Sechs Millionen Männer und Frauen in Deutschland wollen, aber können keinen Nachwuchs bekommen. Künstliche Befruchtung ist für sie ein Weg. Am vergangenen Wochenende haben in Berlin die ersten „Kinderwunsch-Tage“ stattgefunden. Eine Reise in die Welt der Reproduktionsmedizin.
Es ist kurz vor Mittag, als Reproduktionsmediziner Heribert Kentenich den Sicherheitscode zu seinem Labor eintippt. Der 70-Jährige möchte wissen, wie sich die befruchteten Eizellen entwickeln, die hier bei 37 Grad heranreifen. Seine neueste Anschaffung, ein Embryoskop, überwacht die Kulturen, aus denen später Menschen werden können. Alle 15 Minuten knipst der Apparat ein Foto, im Zeitraffer wird ein Video daraus. Es zeigt einen leicht ovalen Kreis mit zwei kleinen Kernen. Rund 24 Stunden dauert es, bis sich die Zelle erstmals teilt. Von nun an sprechen Mediziner und Juristen von einem Embryo.
Heike Kraus* kennt solche Schwarz- Weiß-Videos schon länger. Ähnliche Bilder gibt es auch von ihrem eigenen Kind, das im Brutschrank des Fertility Centers Berlin auf dem Gelände des DRK Klinikums Westend die ersten Entwicklungsschritte machte und nun in ihrem Bauch heranwächst. „Für mich ist das ein unbegreifliches Wunder“, sagt die 33-jährige Zahnarztphobie-Therapeutin. Jahrelang versuchten sie und Ehemann Marco* erfolglos, ein Kind zu bekommen. Im Labor diagnostizierten Mediziner die Ursache: Asthenozoospermie – das Ejakulat enthält zu wenige bewegliche Spermien, sie schaffen es nicht auf „natürlichem“ Weg, zur Eizelle vorzudringen.
2015: Fast 67.000 "Kinderwunschbehandlungen"
Sechs Millionen Frauen und Männer in Deutschland sind ungewollt kinderlos, das entspricht jedem sechsten Menschen zwischen 25 und 59. Entgegen der verbreiteten Meinung, dass ein Kinderwunsch oft an der Frau scheitert, liegen die Ursachen in 30 bis 40 Prozent der Fälle beim Mann, ausgelöst etwa durch Mumps in der Kindheit, Diabetes oder Verletzungen des Hodens bei einem Unfall. Ebenfalls in 30 bis 40 Prozent der Fälle lässt sich die Sterilität auf die Frau zurückführen, etwa weil die Eileiter verklebt sind oder zu viele männliche Hormone den Eisprung verhindern. In den restlichen Fällen liegen die Probleme auf beiden Seiten und können nicht eindeutig zugeordnet werden.
Will es auf natürlichem Wege nicht klappen, gibt es mehrere Möglichkeiten, trotzdem Eltern zu werden: Adoption etwa oder eben künstliche Befruchtung. Eine solche Reagenzglaszeugung sollte gut überlegt sein, sagt Kentenich. Denn der Eingriff birgt auch Risiken. Totgeburten treten zweieinhalb Mal häufiger auf. Kinder, deren Eltern unter Unfruchtbarkeit leiden, werden häufiger körperlich beeinträchtigt geboren. „Aber manchmal ist die künstliche Befruchtung die letzte Möglichkeit, ein Kind zu bekommen“, sagt Kentenich. 2015 wurden laut Deutschem IVF-Register – ein Zusammenschluss reproduktionsmedizinischer Einrichtungen mit dem Ziel, die Qualität künstlicher Befruchtungen zu messen – 63.800 Kinderwunschbehandlungen vorgenommen, jeder fünfte Eingriff führte zur Geburt.
Angst vor Stigmatisierung
Doch Statistiken sagen wenig über Einzelfälle aus. Bei manchen genügt eine Behandlung, bei anderen dauert es länger oder klappt nie. Der Erfolg einer Therapie hängt stark von individuellen Faktoren, insbesondere dem Alter ab. Je älter die Patienten, desto geringer die Chancen, ein Kind zu bekommen. Heribert Kentenich riet Ehepaar Kraus zur intrazytoplasmatischen Insemination (ICSI). Das Verfahren eignet sich besonders bei schlechter Samenqualität. Mit einer mikroskopisch kleinen Stechkanüle wird ein Spermium in eine Eizelle gesetzt. Die Hürde für die antriebslosen Samen wird so einfach umgangen. „Ich hatte eine gute Prognose“, erinnert sich Heike Kraus. Denn ihr Körper verfügt noch über genug Eizellen. Im Gegensatz zu Samenzellen können Eizellen nicht neu produziert werden, sondern erschöpfen sich im Laufe des Lebens.
Trotzdem haderte die 33-Jährige lange mit der Entscheidung. „Ich fand, das war irgendwie gegen die Natur“, sagt sie. Bis heute hat sie ihrer Familie nicht erzählt, wie das Kind gezeugt wurde. Hinzu kam die Angst vor Stigmatisierung. Da oft mehrere Eizellen eingepflanzt werden, liegt die Wahrscheinlichkeit für Zwillinge bei 22 Prozent – zehn Mal höher als bei natürlicher Schwangerschaft. „Bei Zwillingen heißt es dann schnell: Guck mal, die sind aus dem Reagenzglas“, sagt Heike Kraus. Ein Irrglaube, denn nur 16 Prozent aller Zwillinge stammen aus dem Labor. Im Urlaub entschieden sich Heike und Marco dann doch, den Versuch zu wagen. Die künstliche Befruchtung begann mit der obligatorischen Hormonbehandlung, damit in den Eierstöcken möglichst viele Eibläschen, sogenannte Follikel, gebildet werden. „Ich hatte überall Einstiche am Bauch, fühlte mich unwohl und dick“, erinnert sich Kraus. Doch der „Hormoncocktail“ zeigt Wirkung. Die Eizellen reifen und können ambulant entnommen werden. Unter dem Mikroskop injizieren Kentenichs Laborassistentinnen jeweils ein Spermium in eine Eizelle. Gefilmt vom Embryoskop, reifen die befruchteten Zellen heran. Die Aufnahmen des embryonalen Überwachungsapparates zeigen am fünften und sechsten Tag bereits so viele Zellen, dass das bloße Auge sie nicht mehr zählen kann. In diesem Stadium werden die Eizellen in die Gebärmutterschleimhaut der Frau eingepflanzt. Dafür hat der Arzt nur ein relativ kleines Zeitfenster. Je genauer er den optimalen Augenblick trifft, desto größer sind die Chancen.
Die Behandlung ist sehr teuer
Heike und Marco Kraus müssen nun eine wichtige Frage abwägen: Wie viele befruchtete Eizellen sollen eingesetzt werden? Je mehr Embryonen, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft. Andererseits: auch Mehrlingsschwangerschaften werden dann wahrscheinlicher. Deshalb hat der Deutsche Gesetzgeber die Anzahl der einzusetzenden Embryonen auf höchstens drei beschränkt. Das Ehepaar ist sich einig: Zwei sollen es sein. Die restlichen lassen sie auf Eis legen. Bei der Kryokonservierung werden überschüssige Eizellen bei minus 196 Grad eingefroren, um sie für eine spätere Behandlung auftauen zu können. Zwar ist die Schwangerschaftsrate bei tiefgekühlten Eizellen etwas geringer, dafür erspart das Verfahren weitere unangenehme Hormonbehandlungen und Eizellentnahmen. Das Familienglück auf Bestellung hat allerdings ein Preisschild. Das günstigste Verfahren, eine reine Insemination mit hormoneller Stimulation, bei der Ärzte ein Samenkonzentrat direkt in die Gebärmutter spritzen, wird mit 500 Euro Eigenanteil veranschlagt. 10 000 Euro mussten Heike und Marco für die ICSI-Behandlung, Medikamente und den Kryotransfer zahlen. Ohne Geld geht es nicht.
Bei Doreen Behrens* und Klaas Oberland* sah es erst so aus, als ob ihnen ihr Babywunsch erfüllt würde, das Embryo wuchs bereits im Mutterleib. Dann kamen die Schmerzen, floss Blut. Die 38-Jährige verlor ihr Kind nur wenige Wochen, nachdem es eingepflanzt wurde. „Ich habe mich dafür gehasst, meinen Freund, jeden“, erinnert sie sich. Doch sie wollten nicht aufgeben, einen weiteren Versuch wagen. Das war 2012, dann verlor Doreen Behrens ihren Job bei einer Fotoagentur. „Es war nicht die Kündigung, die mich schockierte, sondern das Wissen, dass wir nun zu wenig Geld für die Behandlungen hatten.“ Bis dahin war sie diejenige mit dem regelmäßigen Einkommen gewesen, die auch die Behandlungen finanziert hatte. Ihr Freund Klaas hangelte sich als Freiberufler von Auftrag zu Auftrag. „Das Geld reicht kaum bis zum Ende des Monats“, sagt er. Eingeführt wurde die Zuzahlung 2003 von der rot-grünen Regierung. Kanzler Gerhard Schröder forderte das Volk auf, den Gürtel enger zu schnallen.
Nur für Verheiratete
Bis dahin trugen die gesetzlichen Krankenkassen vier Versuche, weitere drei zur Hälfte. Nun erstatteten sie nur noch einen Teil – und nur für drei Versuche. Nach der Gesetzesänderung knickte die Zahl der Kinderwunschbehandlungen ein. Wurden 2003 noch 80.400 künstliche Befruchtungen vorgenommen, halbierte sich die Zahl ein Jahr später auf 37.600. Nicht nur die Kosten machen es nun vielen Paaren schwer, ihren Wunsch zu erfüllen. Es gibt weitere Bedingungen, damit die Krankenkassen wenigstens einen Teil der Kosten übernehmen dürfen. Beide Partner müssen mindestens 25, Frauen dürfen nicht älter als 40, Männer nicht älter als 50 sein. Samen und Eizellen müssen von beiden Partnern stammen, fremde Samenspenden schließt die Kassenleistung aus. Der umstrittenste Punkt: Die Partner müssen verheiratet sein, so steht es im Paragraph 27a Sozialgesetzbuch zur gesetzlichen Krankenversicherung. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, sind die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet, für mindestens drei Versuche jeweils 50 Prozent der Kosten zu tragen. Hier aber haben die Kassen Spielräume. Im Konkurrenzkampf schießen einige mehr zu oder übernehmen einen vierten Versuch.
Eine medizinische Leistung, abhängig vom Trauschein? „Das wird der Lebenswirklichkeit in der Bundesrepublik nicht gerecht“, kritisiert Reproduktionsmediziner Kentenich. Tatsächlich leben immer mehr Kinder bei unverheirateten Paaren. In Berlin wird nur noch jedes zweite Kind von verheirateten Eltern geboren. Zahlen darüber, wie viele Babys nicht geboren werden, weil ihre Eltern sich eine künstliche Befruchtung nicht leisten können oder ein Trauschein für sie keine Option ist, gibt es nicht. „Für uns waren die Kosten zweitrangig“, sagt Heike Kraus. Das Ehepaar hat Glück, denn die Kasse erstattete 98 Prozent ihrer Auslagen. Und es hat sich gelohnt: Sechs Wochen, nachdem die befruchtete Eizelle in die Gebärmutter eingesetzt war, zeigen Ultraschallaufnahmen einen kleinen zusammengerollten Körper – und ein schlagendes Herz.
* Namen geändert