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Nach einer Razzia gegen kriminelle arabische Großfamilien wird ein Verdächtiger abgeführt.
© Paul Zinken

Arabische Großfamilien in Berlin: Kann der Staat kriminellen Clans die Kinder wegnehmen?

Die Hürden sind hoch, ein Kind zu dessen Schutz aus der Familie herauszuholen. Auch, wenn die schwerkriminell ist. In Neukölln werden zwei Fälle geprüft.

Falko Liecke sagt keinen Namen, er redet nur von einer „einschlägig bekannten arabischen Großfamilie“. In Berlin hat man da die große Auswahl: Es gibt rund zehn. Liecke aber meint speziell, ohne es zu sagen, die Familie R., der berüchtigtste arabische Clan. Urteile gegen Mitglieder dieser Großfamilie ergingen wegen: Erpressung, Körperverletzung, Raub, Diebstahl und Hehlerei. Die Jugendgerichtshilfe betreut 14 inzwischen strafmündige Kinder der Großfamilie R.

Liecke, der Jugendstadtrat von Neukölln, hat derzeit zwei Mitglieder dieser Großfamilie „besonders im Auge“. Der eine neun, der andere 14 Jahre alt. „Beide“, sagt Liecke, „auf dem besten Weg zum Intensivtäter.“ Die Taten, die sie in ihrer jeweiligen Schule begangen haben, sind auch beachtlich. „Es gab Gewalt gegen Lehrer und Sozialarbeiter und heftige Beleidigungen. Sie sind extrem auffällig“, sagt Liecke.

Damit sie in Zukunft unauffälliger werden, lässt Liecke derzeit prüfen, ob man die beiden Kinder aus ihrer Familie nehmen kann. Zumindest vorübergehend, für ein Jahr zum Beispiel. Der CDU-Politiker, stellvertretender Bürgermeister von Neukölln, will nicht länger zusehen, wie sich junge kriminelle Existenzen bilden. Deshalb der Gedanke, betroffene Kinder aus ihrer familiären Umgebung zu lösen. Solch eine Forderung hat Tom Schreiber, SPD-Abgeordneter im Abgeordnetenhaus, schon vor drei Jahren erhoben.

Das Verfahren ist kompliziert

Doch die Kluft zwischen Forderung und Realität ist riesig. Das weiß auch Liecke. „Wir können nicht einfach Kinder rausholen. Das ist rechtlich sehr problematisch“, sagt er. „Dafür gibt es hohe Hürden.“ Sein Schreckensszenario sieht so aus: Ein Familiengericht „haut uns unsere Entscheidung um die Ohren“ und lässt das Kind zurück in die Familie bringen. „Das wäre ein Gesichtsverlust für uns.“ Es wäre zugleich ein Signal an die Familie. „Dann würde sie denken: Der Staat kann uns nichts anhaben.“ In den vergangenen drei Jahren wurde in Neukölln kein Kind aus einer Familie genommen.

Der Staat kann der Familie durchaus etwas anhaben, allerdings nur, wenn ganz bestimmte Punkte erfüllt sind. Annette Gabriel, Pressesprecherin der Berliner Zivilgerichte, sagt, wie kompliziert so ein Verfahren ist. Erstmal könne ein Gericht gar nicht anordnen, dass ein Kind aus einer Familie herausgenommen werde. „Als stärkste Maßnahme“ könne es nur die elterliche Sorge für das Kind teilweise oder sogar ganz entziehen. Dann müsse ein Vormund bestellt werden, entweder das Jugendamt oder oft die Arbeiterwohlfahrt. Dieser Vormund entscheide, wo sich das Kind aufhalten solle. Wie oft in Berlin Kinder tatsächlich aus Familien genommen wurde, konnte sie nicht sagen.

Die Hürden für diese Maximalmaßnahme, sagt Annette Gabriel, „sind aus verfassungsrechtlichen Gründen sehr hoch angesetzt. Es handelt sich gerade nicht um eine Strafmaßnahme gegenüber den Eltern, weil diese ihren Erziehungsmaßnahmen nicht hinreichend nachkommen.“ Es gehe allein um die Sicherung des Kindeswohls. Stets müsse auch die Verhältnismäßigkeit beachtet werden.

Im Klartext bedeutet das: Das Gericht muss prüfen, ob sich durch mildere Maßnahmen, etwa Unterstützung durch die Kinderhilfe, das Problem lösen oder erheblich verringern lässt. „Dabei ist immer abzuwägen, ob der Gewinn, nämlich den bereits eingetretenen oder zumindest absehbaren Schaden für das Kind abzuwenden, auch wirklich höher ist als die negativen Folgen“, sagt Annette Gabriel, selber Richterin. Gerade der Verlust der elterlichen Bezugsperson sei oft ein massiver Einschnitt, der auch für das Kind schädlich sein könne.

Schaden für das Kind muss abzusehen sein

Und wenn die Eltern und Geschwister in kriminelle Aktivitäten verwickelt sind? Was ist dann? Dann ist erstmal gar nichts. „Allein kriminelles Verhalten der Eltern, sofern sich dadurch nicht unmittelbar ein Schaden für das Kind ergibt, der anders nicht abzuwenden wäre, dürfte kaum ausreichen, die elterliche Sorge zu entziehen“, sagt Annette Gabriel.

Es gibt viele Berichte, dass es für Sozialarbeiter und Familienhelfer schwer sei, zu den betroffenen Familien vorzudringen, weil die jede Hilfe ablehnten. Doch solche Blockaden sind keine Argumente für Lieckes und Schreibers Pläne. „Allein die Verweigerung, Kontakt mit Sozialbehörden aufzunehmen, dürfte nicht ausreichend sein“, sagt die Gerichtssprecherin. Es müsste bereits „ein Schaden für das Kind, etwa eine psychische oder physische Schädigung eingetreten oder zumindest abzusehen sein.“

Auch bei ausgeprägtem Schulschwänzen muss der Einzelfall geprüft werden. „Es gibt Kinder, die so intelligent sind, dass sie trotz häufigen Schwänzens keine Probleme haben, im Unterricht mitzukommen“, sagt Annette Gabriel. Sollte jedoch dadurch ein Schaden für das Kind eintreten, müsste nach vergeblicher Anordnung milderer Maßnahmen geprüft werden, ob die Trennung von den Eltern für das Kind das richtige Mittel darstelle.

Liecke trifft sich in dieser Woche mit Rechtsexperten seiner Behörde; die Runde will klären, wie man die Fälle des Neun- und des 14-Jährigen bewerten muss. Im November setzt sich Liecke dann mit Familienrichtern zusammen. Das ist dann die eher abstrakte Ebene.

Auf der realen bewegt sich die Neuköllner Sonderarbeitsgruppe „Kinder- und Jugendkriminalität“. Zwei Mitarbeiter kümmern sich seit einiger Zeit um problematische Familien, suchen Kontakt, informieren, reden, hören zu. Es geht um Prävention, es geht darum, sagt Liecke, dass eine Straftat verhindert wird. Die AG-Mitarbeiter betreuen derzeit 30 bis 35 Fälle, rund 35 sind auf einer Warteliste. Verstärkung ist in Sicht. In Kürze wird die AG auf drei Mitarbeiter aufgestockt.

Frank Bachner

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