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Sport- und Beratungsangebote für übergewichtige Kinder. Ein Drittel von ihnen nimmt dadurch wirklich ab.
© dpa

Adipositas-Tag: In Berlin ist jedes vierte Kind zu dick

Übergewicht bei Kindern hat gesundheitliche und psychische Folgen. Sport und Therapien können helfen – auch gegen Ausgrenzung.

Einer jener trüben Herbsttage, an denen es nicht so richtig hell werden will. Kinderärztin Susanna Wiegand ist gerade dabei, ihre letzten Patienten mit aufmunternden Worten zu verabschieden. Einige Jugendliche harren noch eine Weile vor dem Eingang des Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité aus. Es fällt auf, dass die meisten von ihnen stark übergewichtig sind. Trotz herbstlicher Kälte sind sie nur mit dünnen T-Shirts bekleidet.

„Die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, sind nicht nur ein bisschen dick, sie sind chronisch krank“, sagt Wiegand. Viele von ihnen sind rund ein Drittel schwerer, als es ihrem Alter und ihrer Größe entsprechend sein dürfte. Seit 16 Jahren leitet die zierliche Frau mit dem resoluten Händedruck die Adipositas-Sprechstunde für Kinder und Jugendliche. In einem von insgesamt drei solchen Zentren in Berlin. Mehr als 1000 junge Patienten werden hier pro Jahr behandelt. Dabei werden auch die Familien und die individuelle Lebenssituation der Patienten mit einbezogen.

In Berlin ist jedes vierte Kind übergewichtig

„Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind in Deutschland ein ernstes Problem“, warnt Baptist Gallwitz, Präsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. Gemeinsam mit anderen Gesundheitsorganisationen führt sie am heutigen Dienstag weltweit einen Adipositas-Tag mit vielen Veranstaltungen und Projekten durch, um das Problem stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In Berlin ist dieses Problem besonders offensichtlich. Hier gilt laut medizinischen Studien inzwischen etwa jedes vierte Kind als übergewichtig.

„Dabei gibt es große Unterschiede je nach Bezirk und je nach Sozialschicht“, sagt Kinderärztin Wiegand. Adipöse Kinder und Jugendliche haben an ihrer Krankheit oft auch psychisch schwer zu tragen. Und die Begleit- und Folgeerkrankungen von Übergewicht sind erschreckend. Viele Kinder leiden schon in jungen Jahren an beginnenden Herz-Kreislauferkrankungen, an Gelenkserkrankungen wie Rheuma oder Gicht. Einige haben schon eine Fettleber, Bluthochdruck, Stoffwechsel-Störungen oder Gallensteine. Jugendliche mit Altersdiabetes sind längst keine Seltenheit mehr.

Aus dicken Kindern werden oft übergewichtige Erwachsene

Daneben steigt der Leidensdruck, anders zu sein. Durch die Stigmatisierung als fett, dumm, krank, als nicht normal. Oftmals fühlen sich adipöse Kinder und Jugendliche von allem ausgeschlossen. Oft ziehen sich Betroffene immer weiter zurück. Um noch mehr zu essen. Und aus dicken Kindern werden später oftmals stark übergewichtige Erwachsene. Die haben schlechtere Chancen sich im Berufsleben zu etablieren, schlechtere Chancen in der Partnerwahl. „Eingeschränkte Teilhabe“ nennt Susanne Wiegand das.

„Viele dieser Kinder, die von klein an stark übergewichtig sind, haben überhaupt kein Körpergefühl“, sagt Kinderärztin Wiegand. Dass sie es lernen, daran arbeitet sie täglich. Die Familien werden in die Therapie mit eingebunden. Denn Abzunehmen ist eine Lebensumstellung. Nicht nur für die Betroffenen, auch für das gesamte Umfeld. Besonders wichtig sei es, Kinder aus sozial schwachen Familien und aus Familien mit Migrationshintergrund zu erreichen, sagt Wiegand. Das Risiko für Adipositaserkrankungen bei diesen Kindern ist laut aktuellen Statistiken doppelt so hoch wie bei anderen Kindern.

Die 12-jährige Kati ist erstmals vor rund anderthalb Jahren zum Bewegungsprogramm Fidelio im Sport-Gesundheitspark Berlin gekommen. Ihre Mutter konnte das übergewichtige Mädchen dazu überreden, zwei bis drei Mal pro Woche an einem speziellen Sportprogramm teilzunehmen. Der Reha-Sport wird von der Krankenkasse bezuschusst.

Zum Sport kommen die Kinder, die es wirklich schaffen wollen

Laufen, Hüpfen, Klettern, Toben – was für viele Kinder selbstverständlich ist, müssen Adipöse oft erst mühsam lernen. „Bei unserem Reha-Sport-Programm werden Kinder nicht gehänselt oder ausgegrenzt, weil sie langsamer, unsportlicher oder dicker sind als andere“, sagt Martina M., die Mutter von Kati, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Sie schwärmt: „Hier akzeptiert jeder jeden so, wie er ist.“ Tochter Kati nickt.

Wer Kati gemeinsam mit den anderen Kindern beim Sport erlebt, wie sie sich beim Fußballspielen gegenseitig den Ball abjagen, beim Brennball über den gelben Linoleumboden der Sporthalle flitzen, beim Seilspringen im Kreis dem Rhythmus der anderen folgen, kann kaum glauben, dass viele dieser Kinder vor rund einem Jahr noch Mühe hatten, ein paar Treppenstufen zu schaffen. Ohne dabei vollkommen aus der Puste zu geraten.

Trainer George, studierter Sportwissenschaftler, lobt zwei Jungen, die gerade ihre Liegestütze geschafft haben. „Toll habt ihr das gemacht!“ Der Trainer sagt: „So schnell wie diese Kinder hier haben nicht alle bei uns Fortschritte gemacht.“ Von den 24 angemeldeten Teilnehmern pro Gruppe kommt die Hälfte regelmäßig zum Training. Das sind die, die es unbedingt schaffen wollen. 50 Einheiten pro Kind zahlen Krankenkassen in der Regel dazu.

Die Fortschritte sind beachtlich, erzählen Eltern, die ihren Sprösslingen von der Tribüne aus zuschauen. „Die Koordination meiner Tochter hat sich verbessert. In der Schule wird sie auch nicht mehr ausgegrenzt“, sagt Martina M. „Durch den Sport ist Kati viel selbstbewusster geworden. Und viel fröhlicher.“

„Umso jünger die Kinder das Problem mit dem Übergewicht konsequent angehen, umso größer sind die Erfolgschancen, den Rest noch durch Wachstum auszugleichen“, sagt Kinderärztin Wiegand. „Ab der Pubertät sind die Erfolgschancen dann wesentlich geringer.“

Zwei Dritteln der Kinder hilft der Sport

Zwischen den einzelnen Runden bestehend aus Trainingseinheiten und Spielen ruft Trainer George seine Sprösslinge immer wieder zu kleinen Trinkpausen auf. Es fällt auf, dass nur Wasser in den Flaschen ist. Zuckerhaltige Softdrinks, die neben Fast Food und einer mangelnden Bewegung als Haupt-Dickmacher gelten, wird man hier vergeblich suchen.

Und wie vielen adipösen Kindern und Jugendlichen kann durch Sport und Therapien wirklich geholfen werden? „Rund ein Drittel nimmt in der Regel dauerhaft ab“, sagt Wiegand. Ein Drittel nehme immerhin nicht weiter zu, was das Leben meist schon verbessere. „Ein Drittel aber erreichen wir trotz aller Bemühungen leider nicht“ sagt die Kinderärztin.

Den Heimweg treten Kati und ihre Eltern gemeinsam mit ihrem Hund zu Fuß an. Trotz eines leichten Nieselregens, der inzwischen eingesetzt hat und herbstlichen Temperaturen. Früher wären sie garantiert mit dem Bus gefahren.

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Alicia Rust

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