Essstörungen: Magersucht und Übergewicht gemeinsam vorbeugen
Amerikanische Kinderärzte weisen darauf hin, dass Fettsucht und Essstörungen häufig gemeinsame Wurzeln haben - und geben Ratschlage, wie man beide verhindert.
Zu dick? Zu dünn? Eltern sorgen sich um das „genau richtige“, gesunde körperliche Erscheinungsbild und Gewicht ihres Kindes. Schließlich ist heute so viel wie niemals zuvor über drohendes kindliches Übergewicht zu lesen, auf der anderen Seite aber auch über Magersucht und andere Essstörungen wie Bulimie bei Jugendlichen. Der goldene Mittelweg scheint schmal zu sein – und schwer zu finden. Schon länger ist bekannt, dass Teenager, die ein paar Kilo zu viel auf den Rippen haben, durch radikale Diät leicht in eine Essstörung rutschen können.
Die gute Nachricht: Beiden Gefahren, zu großer Leibesfülle von Jugendlichen und deren Abdriften in eine Essstörung, kann man mit denselben Strategien vorbeugen. In der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift „Pediatrics“ sind jetzt Empfehlungen des Teams um den Kinderarzt Neville Gorden von der Universität Stanford nachzulesen. Die Amerikanische Akademie der Kinderärzte hat der besorgniserregende Zusammenhang nämlich zu einer Leitlinie bewogen, die sich eigens der Vorbeugung von krankhaftem Übergewicht und Essstörungen bei Jugendlichen widmet. Leitlinien sind wissenschaftlich begründete Behandlungsempfehlungen.
Die Empfehlungen der Experten klingen, als hätte sie allein der gesunde Menschenverstand diktiert, sie stützen sich aber auf Ergebnisse der wissenschaftlichen Fachliteratur. Zunächst nennen die Pädiater drei Verhaltensweisen, die man tunlichst vermeiden sollte. Eltern und Ärzte sollten Heranwachsende nicht ermutigen, eine Diät zu beginnen. Denn auf der einen Seite belegen Studien, dass Diäterfahrungen Heranwachsenden mit ganz normalen Körpermaßen oft erst Gewichtsprobleme bescheren. Nach einer Studie namens „Eating Among Teens“ waren unter den anfangs normalgewichtigen Teenies, die sich an einer Diät versucht hatten, nach fünf Jahren doppelt so viele Übergewichtige wie in der Vergleichsgruppe ohne solche Erfahrungen.
Diäten können aber auch den Weg in eine Essstörung bahnen, wie eine zweite Studie zeigt. 37 Prozent der Jugendlichen, die wegen einer Essstörung ärztliche Hilfe suchen, hatten zunächst ganz harmlos mit einer Diät begonnen, weil sie sich zu dick fühlten. Ein anfangs ganz vernünftiger Plan geriet hier außer Kontrolle.
Abnehmen? Wenn, dann nur langsam
Die amerikanischen Kinderärzte betonen, dass auch Heranwachsende, die nicht die Kriterien für eine Magersucht erfüllen, durch zu schnelles Abnehmen krank werden können. Sie riskieren Herzprobleme und Gallensteine, durch Missbrauch von Abführ- und Entwässerungsmitteln und Erbrechen aber auch Störungen des Mineralstoffhaushalts. Heranwachsende, für deren Gesundheit es gut wäre, ein paar Kilo abzunehmen, sollten das langsam tun und von Kinder- und Jugendärzten dabei begleitet werden.
Zweite Empfehlung: Eltern sollten sich den Smalltalk über das eigene Gewicht und das der anderen Familienmitglieder verkneifen. Studien zeigen, dass es schon kleinere Mädchen verunsichert, wenn ihre Mütter mit dem eigenen körperlichen Erscheinungsbild unzufrieden sind. Vor allem sollten Eltern ihre Kinder niemals wegen ihres Gewichts kritisieren.
Zu diesen Ratschlägen kommen zwei Empfehlungen. Die Erwachsenen sollten den Heranwachsenden dabei helfen, auf gutem Fuß mit ihrem eigenen Körper zu stehen, ihn zu mögen und gut zu behandeln. Also zum Beispiel Sport zu treiben, weil es Spaß macht und mit dem Ziel, fitter und leistungsfähiger zu werden, aber nicht, um abzunehmen. Tatsächlich ist die Hälfte der jungen Mädchen und ein Viertel ihrer männlichen Altersgenossen in den USA mit ihrem Körper unzufrieden. Diese Jugendlichen treiben weniger Sport und nutzen häufiger Strategien wie das Sich-Übergeben oder auch Abführmittel, um ihr Gewicht zu kontrollieren.
Wichtig: Gemeinsam in der Familie essen
Zweite Empfehlung: Die Familien sollten versuchen, auch mit ihren älteren Kindern eine Mahlzeit gemeinsam einzunehmen. „Das muss nicht jeden Abend sein“, sagt Gorden pragmatisch.
„Solche einfachen, aber durch wissenschaftliche Studien gedeckten Ratschläge zur Prävention sind Gold wert“, lobt der Kinderarzt und Hormonspezialist Martin Wabitsch von der Universitätsklinik Ulm. Er war selbst federführend bei der Leitlinie der deutschen Fachgesellschaften zur Adipositas, dem krankhaften Übergewicht, bei Kindern und Jugendlichen aus dem Jahr 2009 tätig. Deren Neufassung wird nach seiner Auskunft auch Aussagen zur Verbindung zwischen Übergewicht und Essstörungen enthalten.
Obwohl es in beiden Fällen ganz zentral um das Essen und die körperliche Bewegung geht, sind traditionell verschiedene Fachgesellschaften zuständig. Kinder- und Jugendpsychiater für Verhaltensstörungen, Kinderärzte für Probleme, die die körperliche Entwicklung betreffen.
Wabitsch sieht die Entwicklung des Körpergewichts in der sensiblen Teenager-Phase als großes Thema an, bei dem allerdings viel falsch gemacht werden kann. Während einige Programme zur Behandlung schweren Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen in Studien zumindest mäßige Erfolge zeigten, sieht er Vorbeugungsprogramme, die allein beim Verhalten des Kindes ansetzen, kritisch. „Wo ein übertriebenes Schönheitsideal, eine dominierende Lebensmittelindustrie und eine bewegungsunfreundliche Umgebung aufeinandertreffen, sind solche Ansätze eher kontraproduktiv und spielen nur vor, dass etwas getan wird.“
Wabitsch plädiert dafür, sich nicht zu sehr auf die Frage zu fixieren, was und wie viel gegessen werden soll und darf. Sondern in den Blick zu nehmen, wie und wo das geschieht. „Straße und Kino sind zum Beispiel keine Orte, an denen man regelmäßig seine Mahlzeiten einnehmen sollte.“
Ein Abendessen oder ein spätes Sonntagsfrühstück mit der Familie kann selbst für Jugendliche erfreulich sein. Vorausgesetzt, die Erwachsenen halten sich an die Empfehlungen der amerikanischen Pädiater, genießen das Essen und kritteln nicht ausgerechnet während der gemeinsamen Mahlzeit am eigenen Aussehen oder dem der Kinder herum.