Bewegungsmangel an Berliner Schulen: Warum Kinder nach der Kita dick werden
Damit sich Kinder ausreichend bewegen, sind Kitas und Schulen gefragt. Doch vor allem Letztere tun sich schwer damit, den Alltag richtig zu gestalten.
- Maria Fiedler
- Ronja Ringelstein
Vorsichtig setzt Diana einen Fuß vor den anderen. Sie balanciert auf einem Seil ein paar Zentimeter über dem Grasboden, blickt konzentriert nach vorn. Ihre kleinen Hände klammern sich an zwei Strippen über ihr fest. Die Umgebung, den weiten Garten, die anderen rennenden, spielenden, rufenden Kinder, hat sie in dem Moment völlig ausgeblendet. Vielleicht fühlt sich die Vierjährige in ihrem pinkfarbenen Kleid in diesem Moment ein wenig wie eine Ballerina. Aber gleich, wenn das Mittagessen beginnt, ist sie wieder Kita-Kind. Eines von 150 in der Bewegungskindertagesstätte Lichtenberg.
Die Kita, in der Diana jeden Tag klettern, balancieren, eislaufen und schwimmen kann, gehört zu den 21, die der Landessportbund Berlin (LSB) mit seiner Trägergesellschaft übernommen hat. „Der Bereich Bewegung muss in der Kindererziehung einen großen Stellenwert haben“, sagt Heiner Brandi, der LSB-Direktor. Auch andere Kitas in Berlin haben es sich mittlerweile zur Aufgabe gemacht, Bewegung besser in den Alltag von Kindern zu integrieren.
Soziale Lage oft ausschlaggebend für Übergewicht
Denn viele Kinder in Deutschland sind einfach zu dick. In Berlin ist zwar eine langsame Verbesserung zu erkennen. Der Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder im Einschulungsalter liegt berlinweit seit 2011 unter zehn Prozent, wie die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales mitteilt. Auch die Körperkoordination hat sich verbessert. Doch das liegt vor allem an zugezogenen Familien der Mittel- und Oberschicht. Kinder aus sozial benachteiligten Familien, also solchen mit geringerer Bildung und geringerem Einkommen, sind viermal so häufig übergewichtig wie ihre sozial besser gestellten Altersgenossen. Ein Kitabesuch von mehreren Jahren zeige zwar deutlich positive Effekte, wie die Senatsverwaltung feststellte. Komplett könne er nachteilige familiäre Rahmenbedingungen aber nicht kompensieren.
Das Robert-Koch-Institut hat in seiner Langzeitstudie KiGGS festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus seltener am Vereinssport teilnehmen. Auch gibt es laut der Studie die Tendenz, dass mit zunehmendem Alter das sportliche Bewegungsverhalten stetig abnimmt, insbesondere bei den Mädchen.
„Die soziale Lage ist ein großer Indikator für die Beweglichkeit von Kindern“, sagt auch Andrea Möllmann-Bardak, stellvertretende Geschäftsführerin vom Verein Gesundheit Berlin-Brandenburg. „Finanziell schlechter gestellte Familien leben häufig in prekären Sozialräumen, in denen es oft weniger Möglichkeiten gibt, sich frei zu bewegen.“ Diese Quartiere seien viel zu dicht bebaut. Außerdem mangele es an Spielplätzen. Hier müsse etwas getan werden, findet Möllmann-Bardak.
„Bewegung bedeutet nicht nur Übergewicht verhindern"
In der Sportkita Lichtenberg gibt es eine Bewegungsbaustelle, die mit Kisten, Autoreifen und Rohren ausgestattet ist. Hier können sich die Kinder selbst Autos bauen. In dem 5000 Quadratmeter großen Garten dürfen sich die Kleinen damit austoben, wenn sie nicht gerade hopsen, klettern oder schaukeln.
„Bewegung bedeutet nicht nur Übergewicht verhindern, sondern auch eine Förderung der Feinmotorik, eine bessere Körperkoordination, ein größeres Selbstbewusstsein und eine bessere Gefahreneinschätzung“, betont Susanna Wiegand, Kinder- und Jugendmedizinerin an der Charité. Dabei sei aber vor allem die unangeleitete Bewegung ausschlaggebend. Die Eltern ließen ihre Kinder häufig nicht mehr auf Bäume klettern oder im Dreck spielen. Viele Kinder könnten nicht einmal richtig fallen. Sie verletzen sich bei den ungefährlichsten Stürzen.
Bewegung muss in den Alltag integriert werden
Wirkungsvoll sei es, die Verhältnisse zu verändern, um mehr Bewegung in den Alltag der Kinder zu bringen – Wiegand nennt es Verhältnisprävention. So könnten Schulwege attraktiv und sicher gemacht, die Bürgersteige ausreichend breit gestaltet oder „Hopsekästchen“ auf die Wege gemalt werden. Es brauche genügend Spielplätze und Freiflächen sowie eine Anpassung der Verkehrswegeplanung. In Berlin gehe das nicht in allen Stadtteilen gleich gut voran. Nötig ist es besonders in den sozialen Brennpunkten.
Damit sich Kinder ausreichend bewegen, seien aber vor allem die Einrichtungen gefragt, in denen die Kinder sind, sagt Gesundheitsexpertin Möllmann-Bardak. Sie müssten Bewegung besser in den Alltag integrieren. Vielen Kitas gelänge das schon recht gut.
„Jedes Kind hat einen natürlichen Bewegungsdrang.“
In der Lichtenberger Kita bekommen die Kinder, von denen viele praktisch den ganzen Tag dort verbringen, täglich ein umfassendes Sportangebot. Allerdings spielerisch vermittelt. „So, dass man gar nicht merkt, dass man gerade Sport macht“, erzählt die Kita-Leiterin Birgit Schmieder. Dafür werden die Bewegungseinheiten in kleine Geschichten verpackt. Die Kinder sollen zum Beispiel einem fiktiven Maler helfen, seine Farben einzusammeln. Sie schwirren aus, rennen etwa zu roten Hockern, gelben Bällen oder grünen Spielzeugbaggern und tragen die Sachen zusammen.
Um dem besonderen Bewegungsanspruch der Kita gerecht zu werden, haben einige der 23 Mitarbeiter eine spezielle Ausbildung zur Fachkraft für Psychomotorik – ein Fachbegriff, der das Zusammenspiel zwischen der Persönlichkeitsstruktur und der Bewegung einer Person bezeichnet.
Kinder wissen, was sie sich zutrauen können
Bei ihrer Arbeit hat Schmieder eines festgestellt: „Jedes Kind hat einen natürlichen Bewegungsdrang.“ Der werde den Kindern aber im Alltag durch zu wenig Bewegungsmöglichkeiten und eine – oft ungewollte – „Umerziehung“ abgewöhnt. Dabei sollen Kinder am besten mindestens einmal täglich ins Schwitzen oder außer Atem geraten. Die Sorge der Eltern, dass sich die Kinder dabei verletzen könnten, ist oft unbegründet: Kinder, so hat es Schmieder beobachtet, wissen, was sie sich zutrauen können und was nicht.
Im Gegensatz zu vielen Kitas tun sich Schulen schwerer damit, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Der Schulsport reiche nicht aus, um das von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Pensum von 60 Minuten moderater bis intensiver Bewegung am Tag zu erreichen, sagt Möllmann-Bardak. Und wenn Kinder aus Ganztagsschulen erst spät zu Hause seien, bleibe wenig Zeit für Sport im Verein oder mit den Eltern.
Viele Kinder seien zwar noch schlank und sportlich in der Kita-Zeit, sagt Möllmann-Bardak – „platzen dann aber auf wie ein Popcorn“, wie ein Kita-Leiter es ausgedrückt habe. Auch Kita-Leiterin Schmieder hat diese Erfahrung gemacht. Erschreckt habe sie sich, als einige ihrer ehemaligen sportlichen Schützlinge wieder vor ihr standen – deutlich dicker als zu Kita-Zeiten.
In drei Phasen sind Kinder besonders gefährdet
Der Grund dafür ist laut Susanna Wiegand, dass es drei „sensible Phasen“ gebe, in denen Kinder besonders gefährdet seien, zuzunehmen. In der Kleinkindphase zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr. Nach der Einschulung. Und in der Pubertät.
Um zu verhindern, dass schlanke und sportliche Kita-Kinder zu dicken Schulkindern werden, führt der LSB seit zwei Jahren bereits in mehreren Bezirken Motoriktests bei Drittklässlern durch. Mit der Initiative „Berlin hat Talent“ werden die motorischen Fähigkeiten von Kindern zwischen acht und zehn Jahren in den Bereichen Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Koordination geprüft. „Die Testergebnisse bestätigen uns, dass der allgemeine Gesundheitszustand der Berliner Kinder gar nicht so schlecht ist. Allerdings häufen sich die negativen Auffälligkeiten, je schlechter die soziale Lage der Familie ist“, sagt LSB-Direktor Brandi.
Bewegen muss sich jeder selbst
Wenn Kinder durch Bewegungsdefizite auffallen, wird das Gespräch mit den Eltern gesucht, um ihnen Angebote für die Bewegungsförderung ihrer Kinder zu machen. Außerdem kooperieren inzwischen rund 180 Sportvereine mit fast 300 Schulen. So werden rund 800 Gruppen wöchentlich, zusätzlich zum Schulsport, betreut.
Neben Übergewicht sind auch mangelnde Fitness, Haltungsschäden, motorische Schwierigkeiten, Herzkreislaufleiden, Diabetes II, Unzufriedenheit und Aggressivität mögliche Folgen von zu wenig Bewegung. Damit Schulkinder und Jugendliche nicht diese Erfahrung machen müssen, ist es wichtig, dass Kindergarten und Eltern sie von Anfang zu selbstständiger Bewegung animieren. „Die Treppe hochgetragen werden bei uns wirklich nur die Kleinsten. Sobald sie laufen können, gehen wir mit allen gemeinsam die Stufen hoch“, erzählt Kita-Leiterin Schmieder. Bewegen muss sich eben jeder noch selbst.
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