Spurensuche zum Berliner AfD-Gutachten: Hat ein Verfassungsschützer vom „Typ Maaßen“ das Geheimpapier durchgestochen?
Ein Geheimgutachten des Berliner Verfassungsschutzes zur AfD-Einstufung gelangte zur Partei, eine Blamage für Innensenator Geisel. Die Gemengelange ist diffus.
Auch wenn Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) nicht direkt involviert war – dass aus der Verfassungsschutz-Abteilung der Innenverwaltung ein entlastendes Prüfgutachten zur AfD an genau jene Partei durchgestochen wurde, trifft ihn politisch mit voller Wucht. Dabei hatte Geisel doch sogar 2018 den Leiter der Abteilung ausgetauscht, die Kontrolle über den Nachrichtendienst wurde verschärft.
Nun wittern Geisels Koalitionspartner wieder Chancen: Die Linke, ohnehin für die Abschaffung des Nachrichtendienstes, spricht von einem „handfesten Skandal“. Der Verfassungsschutz sei „bei der Verteidigung der Demokratie ein Teil des Problems, nicht der Lösung“. Die Grünen sehen das „ohnehin schon angeschlagene Vertrauen in die Bekämpfung von Rechtsextremismus durch Berliner Behörden weiter beschädigt“.
Bei genauerem Hinsehen tut sich eine ganz andere Dimension auf – gekränkte Eitelkeiten und ein Beamter, dem die Kritik aus der rot-rot-grünen Koalition am Verfassungsschutz so gar nicht gefällt und der unter Geisel erst Chef des Referats Rechtsextremismus beim Verfassungsschutz geworden ist.
Ob dieser Beamte den als „Verschlusssache“ eingestuften, 43 Seiten starken „Zwischenbericht“ des Berliner Verfassungsschutzes an die AfD durchgestochen hat, ist aber unklar. Einiges spricht dafür, anderes nicht.
Auf jeden Fall sei er ein „Maaßen-Typ“, heißt es. Hans-Georg Maaßen war bis November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, bekannt für seine rechtskonservative Linie und Offenheit gegenüber der AfD, der am Ende darüber stolperte, dass er sich nur noch von Feinden umgeben sah.
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Die AfD nutzt das Gutachten jedenfalls für eine konzertierte Aktion. Das der Partei zugespielte Papier enthielt ein Begleitschreiben mit dem Zusatz: „Berlin im Jahr 2020“. AfD-Fraktionschef Georg Pazderski ließ sich jedoch mehrere Wochen Zeit, um dann damit am Mittwoch an die Öffentlichkeit zu gehen.
Die AfD versucht, den Fall für sich auszuschlachten. Sie behauptet, durch politischen Druck solle das entlastende Gutachten verschärft und die Partei vom Prüffall zum rechtsextremistischen Verdachtsfall hochgestuft werden.
Damit könnten dann nachrichtendienstliche Mittel gegen die AfD eingesetzt werden - Observationen, Abhörmaßnahmen, V-Leute. Parallel steht auf Bundesebene eine Entscheidung bevor, ob die gesamte Partei zum Verdachtsfall erklärt wird. Und in Brandenburg klagt die Partei gegen die im Juni begonnene Beobachtung.
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Genannt wird im Schreiben auch jener Leiter des Referats Rechtsextremismus in der Berliner Verfassungsschutzabteilung. Demnach soll Verfassungsschutzchef Michael Fischer ihm den Auftrag erteilt haben, „zum gewünschten Ergebnis“ zu kommen. Das habe nicht geklappt, weil das Referat neutral geprüft habe. Der Referatsleiter habe sich geweigert, das Gutachten zu ändern.
Der Beamte hätte sich also im Schreiben an die AfD selbst loben müssen als harten Beamten, der das Recht gegen politische Einflussnahmen verteidigt. Oder, so heißt es aus Sicherheitskreisen, der Referatsleiter ist von einem anderen Beamten prominent vorgeschoben worden, um ihm zu schaden.
Auch der Büroleiter von Ex-Innensenator Henkel ist in dem Referat tätig
Von einem Beamten, der über das Weiterreichen des Gutachtens hinaus denkt – für seinen eigenen Vorteil oder um jemandem zu schaden. Dem Innensenator vielleicht? Das zumindest ist gelungen.
In dem Begleitschreiben heißt es auch: Der Referatsleiter werde wegen seiner Weigerung, das Gutachten zu ändern, „nun in die Wüste geschickt“, und: „Allen anderen Leuten die am Gutachten mitgearbeitet haben, könnte es bald ähnlich gehen.“ Im Referat Rechtsextremismus ist auch der frühere Büroleiter von Frank Henkel (CDU), Geisels Vorgänger als Innensenator, tätig.
In jedem Fall ist klar: Wer Beamter bleiben will, überlegt sich sehr genau, ob er als geheim eingestufte Behördenpapiere durchsticht, zumal an eine Partei, die unter Rechtsextremismusverdacht steht. Nach Tagesspiegel-Recherchen soll bereits vor einiger Zeit und unabhängig von dem Zwischengutachten zur AfD klar gewesen sein, dass der Referatsleiter geht.
Der Referatsleiter wollte oder sollte angeblich ohnehin gehen
Auch dazu gibt es verschiedene Versionen: Entweder wollte der Beamte selbst gehen, oder er musste gehen. Eine Version lautet: Angeblich soll er unzufrieden gewesen sein, habe den Verfassungsschutz verlassen wollen.
Die andere Version: Der Verfassungsschutzchef habe im Referat aufgeräumt – und zwar völlig unabhängig vom Gutachten. Auch von einer möglichen Racheaktion des Beamten ist die Rede. Zuzutrauen wäre es ihm, heißt es aus informierten Kreisen. Ein „Maaßen-Typ“ eben.
Bevor der Beamte vom Abteilungschef mit der Leitung des Rechtsextremismus-Referates betraut wurde, führte er das Islamismus-Referat. Jenen Bereich also, der wie Polizei und Justiz dabei versagt hat, den Anschlag des Islamisten Anis Amri am 19. Dezember 2016 zu verhindern.
Der Beamte musste hinter verschlossenen Türen auch im Amri-Untersuchungsausschuss als Zeuge aussagen, er sei dort von den Abgeordneten „ziemlich gegrillt“ worden, heißt es. Mit ordentlicher Ausstattung und mehr Befugnissen hätte der Nachrichtendienst mehr tun können, soll er dem Ausschuss gesagt haben.
Wie Rot-Rot-Grün in Berlin mit dem Verfassungsschutz umgeht, missfiel ihm offenbar. Aber reicht das, um seine Karriere als Beamter zu riskieren? Er soll noch einige Jahre vor sich haben bis zur Pension.
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Einen Haken hat auch die etwa von der AfD kolportierte Mutmaßung, auf politischen Druck hin sollten die Prüfergebnisse zur AfD verschärft werden, um sie beobachten zu können und damit einen politischen Gegner klein zu halten.
Abteilungsleiter Fischer, der den Referatsleiter dort im Bereich Rechtsextremismus postiert hatte, könnte es sich gar nicht leisten, kein rechtlich sauberes Gutachten vorzulegen und am Ende vor Gericht zu scheitern. Um die AfD zum Verdachtsfall zu erklären, müssen „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte“ für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung nachgewiesen werden.
Eine dezidierte Abwägung habe aber gefehlt, die Standards dafür seien nicht eingehalten worden, befand des Grundsatzreferat der Abteilung. Wegen der methodischen Mängel werde das Gutachten nachgebessert. Und selbst dann ist weiter unklar, ob es für eine Beobachtung der AfD reicht.