Architekturdebatte (6): Große Stadt – kleines Denken
Die Stadtentwicklung beschäftigt die Politik angeblich mehr als jedes andere Zukunftsprojekt. Tatsächlich herrscht aber seit Jahrzehnten ein Tunnelblick. Stadtplaner Harald Bodenschatz hat aufgeschrieben, woran es hapert und was geschehen muss.
Nach dem Ende eines wenig inspirierenden Wahlkampfes kam endlich die frohe Botschaft: Stadtentwicklung ist den Politikern doch nicht egal! Ganz im Gegenteil: Wir – erst Rot-Grün, dann nun eher Rot-Schwarz – haben jetzt das zentrale Thema für Berlin gefunden: die A 100. Wir wissen zwar nicht genau, was wir aus diesem Thema machen sollen, aber gerade das ist unsere Vision: Wir lassen das viele Fördergeld doch nicht verrotten!
Zunächst versuchen wir mal ganz ernsthaft, es woanders zu investieren. Das wäre uns die liebste Option! Wie lang wir das versuchen, darüber sind wir uns nicht einig, aber so ist die Politik. Wenn das dann doch nicht gehen sollte, weil die böse Bundesregierung nicht mitspielt, dann bauen wir halt – halb begeistert, halb verbittert – die Straße. Keiner soll aber sagen, wir denken nicht über Legislaturgrenzen hinaus und kochen nur unser eigenes Parteisüppchen. Nein, dann bauen wir die Autobahn, die in den 1990er Jahren vorgedacht und von Schwarz-Rot auf den Weg gebracht worden war.
Diese Botschaft ist mehrfach interessant: als Beweis für die unglaublichen Pirouetten der Parteipolitik und für die Abhängigkeit dieser Stadt vom Tropf, sicher auch als Zeichen der väterlichen Strenge des Bundes gegenüber der zickigen Hauptstadt. Aber ebenfalls Ausdruck der unerbittlichen Gleichgültigkeit des Senats gegenüber den Bezirken – erinnert sei nur an die Klage des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, eines grünen Kernlandes, gegen den Autobahnbau.
Vor allem aber ist die Botschaft ein Beweis dafür, wie Berlin wieder einmal im Vergleich der Metropolen seine Nase vorne hat. Während etwa Paris darüber nachdenkt, wie denn der Boulevard Périphérique, die Stadtautobahn, welche die Innenstadt umkreist und vom Umland hart trennt, ein wenig urbanisiert werden kann, während dort der öffentliche Nahverkehr nicht nur in der Innenstadt zügig ausgebaut wird, sind wir hier mächtig stolz darauf, ein Stück Stadtautobahn weiterbauen zu dürfen – zur Rettung des Verkehrs und zur Rettung der Wirtschaft. Dafür lassen wir die S-Bahn ein wenig verrotten – man kann ja nicht alles haben wollen.
Egal, wie man zur A 100 steht – eines ist klar: Das ist nicht das Schlüsselprojekt, das Berlin in die Zukunft führt, es ist ein Projekt von gestern, für manche von vorgestern – was ja keineswegs in jedem Falle schlecht ist. Weit wichtiger aber ist ein anderer Aspekt dieser Botschaft: Das Thema Stadtentwicklung ist zwar in aller Munde, aber es ist unsäglich versimpelt, ja geradezu verbrannt. Es rückt mögliche programmatische Überlegungen für Berlin in den Schatten, ebenso die strategischen Projekte, die zur Umsetzung eines Stadtentwicklungsprogramms nötig wären.
Die Botschaft, das ist ein positiver Aspekt, wirft allerdings die entscheidende Frage auf: Was ist denn überhaupt die Aufgabe der öffentlichen Hand im Feld der Stadtentwicklung? Gelder von auswärts abgreifen? Das war bestes West-Berliner Talent, das auch heute noch gefragt ist. Aber wir benötigen darüber hinaus unbedingt pragmatische Visionen einer besseren Stadt, ein Stadtentwicklungsprogramm, um nicht im richtungslosen Herumstochern zu enden.
Ein Stadtentwicklungsprogramm muss die großen Aufgaben der nächsten Jahre benennen, also Prioritäten setzen. Es muss deutlich machen, was der öffentlichen Hand wichtig ist. Ein solches Programm kann und darf aber nicht am Schreibtisch entstehen, sondern muss die zivilgesellschaftlichen Akteure schon bei der Formulierung einbinden, nicht nur informieren. Das ist vielleicht die stärkste Lehre, die wir aus dem Wahlergebnis ziehen können. Der Erfolg der Piraten ist ja kein Erfolg ihres Programms, sondern Ausdruck eines wachsenden Misstrauens gegenüber der überkommenen Parteipolitik, auch der Grünen.
Brachgefallene Gebiete, Eröffnung des Flughafens Schönefeld und benachteiligte Quartiere: Berlin steht vor zahlreichen Herausforderungen.
Ein Stadtentwicklungsprogramm hat nur begrenzte Spielräume, es muss die überkommenen großen städtebaulichen Herausforderungen anpacken: die weitere Gestaltung des Zentrums, des Schaufensters der gesamten Stadtregion, insbesondere die Gestaltung der ehemaligen Altstadt im Osten des Zentrums; eine neue Sinnstiftung und Nutzung für brachgefallene Gebiete – ein Topthema Berlins, der Hauptstadt der Zwischennutzungen; die sozialverträgliche Stabilisierung benachteiligter Quartiere – sei es in der Innenstadt oder am Stadtrand, und nicht zuletzt: die erneute Ausbalancierung der Stadtregion, in der sich nach der Eröffnung des Flughafens Schönefeld und der Schließung von Tegel die Gewichte verschieben werden. All diese Herausforderungen stehen nicht für sich allein, sondern sind vielfach miteinander vernetzt, sie benötigen keine isolierten Pläne, sondern ein vernetzendes Stadtentwicklungsprogramm, wie es auch in anderen großen Metropolen erarbeitet worden ist und wird.
Das ist die große Herausforderung, die zentrale Aufgabe der öffentlichen Hand: Vernetzen, Zusammenführen, ein Stadtentwicklungsprogramm erarbeiten, das gegen den Trend der Isolierung, der Fragmentierung, des Auseinanderdriftens, der Auflösung des Zusammenhalts wirkt. Gute Ideen, Vorschläge, Projekte gibt es in unserer kreativen Stadt zuhauf. Der einzelne Investor, die einzelne Bürgerinitiative sieht, das ist verständlich, nur das eigene Grundstück, die eigene Nachbarschaft. Die öffentliche Hand muss über den Tellerrand blicken – räumlich wie zeitlich, zugunsten auch späterer Generationen.
Strategische Orte sind Stadträume von übergeordnetem Interesse. Dazu gehören diejenigen Bahnhöfe und Flughäfen, wichtigen Straßen und Plätze, Gebietszentren, Wasserlagen, Grünräume und Verkehrs-Trassen, die für das Funktionieren des Großraums Berlin entscheidend sind, aber nicht nachhaltig gestaltet sind. Hier verbietet sich eine isolierte Betrachtung von vorneherein.
Das sogenannte Rathausforum, der große „Freiraum“ zwischen Alexanderplatz und dem künftigen Schloss, ist das vielleicht prominenteste Beispiel isolierter Betrachtung. Hier tobt der Streit, ob und wie stark und in welcher Form der Freiraum wieder bebaut werden soll. Ob und wie und an welche Geschichte erinnert werden soll. Hier wurden munter rekonstruierte Altstadtbauten, Wasserbecken, Ruinenparks oder Wälder gezeichnet. Dabei wurde nur allzu oft vergessen, dass der angebliche Frei-Raum alles andere als „frei“ ist wie eine grüne Wiese am Stadtrand.
Er hat nicht nur eine ungeheure historische Tiefe, die die archäologischen Ausgrabungen und die große Ausstellung „Berlins vergessene Mitte“ erst wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben, sondern er muss auch verschiedene Fragmente des Zentrums miteinander vernetzen – die Reste der Altstadt östlich der Grunerstraße und westlich der Karl-Liebknecht-Straße. Und er muss einen Sinn erhalten – über den Stadttourismus und das Wohnen hinaus. Wenn wir ein paar Schritte weiter westlich gehen, wird das noch deutlicher: Hier bauen wir ein Schloss wieder auf, ohne uns vorher klargemacht zu haben, wie das nähere und weitere Umfeld gestaltet werden soll. Wie wir aus der jetzigen verfahrenen Situation mit neuem, unverkrampftem Schwung wieder herauskommen, ist völlig unklar.
Hauptbahnhof, Steglitzer Kreisel, Kurt-Schumacher-Platz: nicht verbundene Inseln in der Stadt.
Ein weiteres Beispiel ist das Areal um den Hauptbahnhof. Bis heute tun sich die Akteure schwer zu klären, wie denn der so wichtige Übergang vom Bahnhof in die Stadt, also die beiden Plätze nördlich und südlich des Bahnhofs, gestaltet werden soll. Offen ist weiter, wie das ganze Gebiet – historisch über lange Zeit eine von Barrieren umgebene Insel – mit der umliegenden Stadt, dem nahe gelegenen, aber gefühlt weit entfernten Moabit im Westen, dem Wedding im Norden und dem Gebiet östlich des Schifffahrtskanals besser vernetzt werden kann.
Am äußeren Rand der Innenstadt finden wir im Südwesten ein weiteres Beispiel, ein seltsames Monument West-Berliner Fördergelder-Städtebaus: den Steglitzer Kreisel, ein Riesenbau, der schon von Weitem die Innenstadt ankündigt und einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt an der bedeutenden Ausfallstraße nach Potsdam markiert. Der Standort des Kreisels war einmal der Standort des Dorfes Steglitz. Die Reste des Dorfes wurden zugunsten des Kreisels spurlos beseitigt – das einzige Beispiel einer Komplettentsorgung eines mittelalterlichen Dorfes im Großraum Berlin. Der Kahlschlag-Kreisel, früher mit typisch Berliner Schnauze zum höchsten Rathaus Europas nobilitiert, dämmert seit langem leer stehend vor sich hin – und kostet die öffentliche Hand jeden Monat eine Unsumme.
Warum passiert hier seit Jahren nichts? Das Haus gehört der öffentlichen Hand, die es ja schon einmal retten musste. Schon seit längerer Zeit wird verzweifelt ein Investor gesucht, der das kaum wirtschaftlich zu betreibende Hochhaus übernehmen soll. Eine umfassendere Lösung erscheint blockiert. Denn eigentlich wäre es sinnvoll, den Hochbau nicht isoliert zu betrachten, sondern in einem erweiterten Rahmen, der auch das Umfeld einbezieht. Denn südlich des Kreisels erstreckt sich ein riesiger unwirtlicher Platz, der nicht einmal einen Namen hat, und westlich verläuft eine überbreite Autostraße, die nach dem erfolgreichen Rückbau der Steglitzer Schlossstraße völlig anachronistisch wirkt. Hier wäre also Spielraum für eine städtebauliche Neuordnung, eine Umwidmung von Verkehrsflächen. Diese wäre vielleicht wünschenswert, ist aber nicht machbar. Denn der zuständige Bezirk hat offenbar nicht die personellen oder finanziellen Ressourcen, die dafür notwendig sind. Gut gespart! So gut, dass eine womöglich sparsame Lösung gar nicht mehr geprüft werden kann, weil die Ressourcen fehlen.
Es gibt noch ein anderes wichtiges Tor zur Innenstadt: den Kurt-Schumacher-Platz. Heute wird dieser Ort noch durch Flugzeuge gemartert, morgen aber wird er von diesem Lärm befreit. Und nicht nur das: Dann wird er ein entscheidendes Bindeglied zwischen dem neu zu nutzenden Flughafengelände und der Innenstadt. Diese Schlüsselrolle des Platzes im Norden ist bislang nicht ausreichend gewürdigt, die Debatten über die Nutzung des Flughafens Tegel sind wiederum zumeist Inseldebatten.
Ist Stadtentwicklungspolitik in Berlin überhaupt noch möglich?
Ist Stadtentwicklungspolitik in Berlin aber überhaupt noch möglich? Wie soll aus dem mühsamen Nebeneinander von Bezirken und Senat ein zukunftsträchtiges Stadtentwicklungsprogramm entstehen? Wie kann eine Zentralverwaltung, die nur wenig Spielraum hat, wieder handlungsfähig werden? Die jungen Fachleute von Think Berl!n haben einen bedenkenswerten Vorschlag unterbreitet: BERLIN gestalten! Hinter diesen schlichten Worten verbirgt sich eine einleuchtende Argumentation: Die Instrumente zur Gestaltung Berlins sind stumpf geworden.
Das darf aber nicht heißen: Vergessen wir die öffentliche Hand, delegieren wir die Stadtentwicklung an private Investoren und Bürgerinitiativen! Wie soll aber die inzwischen eher zahnlose Verwaltung wieder voll handlungsfähig werden? Kurzfristig ist das nicht zu erreichen. Daher bedarf es dringend einer Zwischenlösung. Think Berl!n schlägt vor, eine neuartige, kleine operative Planungsabteilung, eben „BERLIN gestalten“, eine Art Urban Task Force, einzurichten, die versucht, an Orten mit besonderen Herausforderungen strategische Planungsprojekte auf den Weg zu bringen. London hat mit einer ähnlichen Abteilung gute Erfahrungen gemacht.
Berlin hat die schräge Botschaft vernommen. Aber Vorsicht: Vielleicht war alles nur eine Show, eine kleine Ablenkung, bevor der Vorhang aufgeht, und ein Stadtentwicklungsprogramm verkündet wird, ein Manifest der Nachhaltigkeit? Neue Wohnungspolitik, neue Mobilitätspolitik, Klimaschutz, attraktive Orte der Bildung, energetische Gebäudesanierung, Einbindung von Zivilgesellschaft und Wirtschaft?
Hier gilt es, mindestens zwei Stränge zusammenzuführen, die in der Wissenschaft, der Fachwelt, der Verwaltung und der öffentlichen Diskussion oft getrennt werden: die große Frage des nachhaltigen Verkehrs zugunsten von Fahrrädern, Straßenbahnen, E-Mobilität, die meist ohne räumlichen Bezug diskutiert wird, und die Frage der Qualifizierung des öffentlichen Raums, der Straßen und Plätze, auf denen die Straßenbahnen, die Fahrräder, die E-Mobile und die Fußgänger sich alle zusammen wiederfinden müssen. Noch schöner wäre es, wenn dieses Programm mit strategischen Projekten untersetzt wird und einen öffentlichen Akteur erhält, der wieder handlungsfähig ist: BERLIN gestalten!
Zum Nachlesen: Think Berl!n
Harald Bodenschatz, Architektursoziologe, forscht unter anderem zu Zentrumsplanung in der postindustriellen Gesellschaft. Als Stadtplaner arbeitet er zur Erhaltung historischer Stadtkerne.