Nach Özil-Rücktritt: „Es darf keine Doppelstandards geben“
Rassismus ist für Jugendliche mit Migrationsgeschichte Alltag, sagt der SPD-Politiker Orkan Özdemir. Ein Gespräch über Mesut Özil und das Gefühl, „Deutsche auf Widerruf“ zu sein.
Mesut Özil hat eine Integrationsdebatte ausgelöst, hieß es kürzlich in der Tagesschau. Können Sie so etwas noch hören?
Mit Sprache machen wir sehr viel. Wenn es heißt, Özil hat eine Integrationsdebatte ausgelöst, gehen wir von einem Defizit der Betroffenen aus. Özil hat viel mehr eine Debatte um Rassismus ausgelöst.
Gibt es denn ein Rassismus-Problem in Deutschland, wie Özil behauptet, werden viele sich jetzt fragen.
Solch eine Frage zu stellen, ist schon ein Affront. Unterschiedliche Studien von unterschiedlichen Stiftungen und Instituten haben ergeben, dass Rassismus in Deutschland weit verbreitet ist. Das muss man ernst nehmen und nicht wegschauen.
Können Sie verstehen, warum Özil von der Nationalmannschaft zurückgetreten ist?
Nachdem, was er erlebt hat, ist das eine logische Konsequenz. Der DFB hat ihn fallenlassen.
Aber hat er nicht selber auch einen Fehler gemacht, in dem er sich mit Staatspräsident Erdogan hat abbilden lassen?
Er hat sich mit Erdogan abbilden lassen zu einer sehr ungünstigen Zeit. Als jemand, der Erdogan sehr kritisch sieht, finde ich das falsch. Er hätte das nicht tun sollen. Dennoch leben wir in einem freien Land und wenn er sich mit Erdogan ablichten lassen will, soll er das auch tun. Was viel interessanter ist, ist, wie das Foto aufgenommen wurde: Er ist nicht der erste Fußballer, der sich mit schwierigen Persönlichkeiten hat ablichten lassen. Aber bei Özil wurde die Sache sofort dazu genutzt, um seine Zugehörigkeit zur deutschen Nationalmannschaft in Frage zu stellen.
Als Nationalspieler hat Mesut Özil eine Vorbildfunktion. Er hat sich mit Erdogan ablichten lassen in einer Zeit, in der dieser Wahlkampf führt. Das ist doch ein fatales Signal.
Absolut. Es darf aber keine Doppelstandards geben. Niemand kann mir erzählen, dass von den 24 Fußballern, die zur WM gefahren sind, die weißen Deutschen unsere deutschen Grundwerte hoch- und runterbeten können. Hier kann man fragen: Wie viele Fotos wurden DFB-Botschaftern mit Machthabern aus Saudi-Arabien bei dieser WM? Wie viele Fotos wurden DFB-Botschaftern mit Machthabern aus Saudi-Arabien bei dieser WM gemacht? Wie viele mit Putin? Wie kritisch hat sich der DFB zu der Tatsache geäußert, dass die WM in Russland stattgefunden hat?
Eine Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien zeigt, dass 61 Prozent der Deutsch-Türken sich viel mehr mit der Türkei identifizieren als mit Deutschland – Tendenz steigend. Können Sie das auch im Alltag beobachten?
Ich beobachte eine generelle Radikalisierung der Menschen. Das zeigt schon die Debatte um das Foto von Özil mit Erdogan. In dieser Heftigkeit wäre das vor zehn Jahren nicht denkbar gewesen.
Welche Fragen wirft das für Politiker wie Sie auf?
Die Erfahrungen, die Özil heute gemacht hat, machen Jugendliche mit Migrationsgeschichte tagtäglich. Wie kann man sich mit einer Gesellschaft identifizieren, in der man ständig vor Augen geführt bekommt, dass man nicht dazugehört? Wenn dann Erdogan sagt: Egal, ob ihr hier lebt, ihr gehört zu uns, und wenn es hier keine Gegenangebote gibt, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass diese Jugendlichen das Angebot auch annehmen. Man darf nicht vergessen, dass wir von Jugendlichen sprechen, die nicht immer alles politisch durchdringen.
Sie führen die Identifizierung vieler deutsch-türkischer Jugendlicher mit der Türkei auf den niedrigen Bildungsstand zurück?
Das kann man so nicht sagen. Die letzte Studie des Essener Zentrums zeigt ja gerade, dass mittlerweile Deutsch-Türken mit einem hohen Bildungsgrad ganz besonders sensibilisiert sind für Rassismus, Diskriminierung bewusster wahrnehmen und dementsprechende Reaktionen zeigen.
Zurück zur Identifizierung vieler Deutsch-Türken mit Erdogan. Lassen sich da generelle Aussagen über alle Deutsch-Türken herleiten?
Ich finde in dieser Debatte bezeichnend, dass alle darauf herumhacken, dass sich Menschen mit Wurzeln in der Türkei mit Erdogan identifizieren. Ganz ehrlich: Ich kenne viele Deutsch-Polen, die nicht alle gegen die polnische Regierung mit ihrer Rechtsaußenpolitik sind. Viele Russischstämmige verehren Putin. Wie viele Ungarn, die in Berlin leben, sind gegen Orban? Wie viele Italiener gegen die rechtspopulistische italienische Regierung?
Kommen wir zurück zum Rassismus in der Gesellschaft. Dieser trifft im Fall Özil ganz besonders die Gruppe der Deutsch-Türken.
Hier gibt es eine Botschaft: Ihr seid Deutsche auf Widerruf. Wenn ihr euch konform benimmt, seid ihr Deutsche. Wenn ihr euch nicht konform benehmt, dann seid ihr ganz schnell ausgeschlossen.
Können sich Deutsch-Türken unter den gegebenen Umständen jemals akzeptiert und angenommen fühlen?
Das ist eine Grundsatzfrage, die wir gesellschaftlich diskutieren müssen. Was muss passieren, wie muss der Umgang untereinander sein, damit man sich akzeptiert fühlt, damit man ein neues Verständnis von Deutschsein schafft. Die Normen, die als Bedingung vorliegen, sind nicht so gesetzt, dass sich alle darin wiederfinden können. Das betrifft nicht nur Deutsch-Türken, sondern auch schwarze oder muslimische Deutsche.
Haben Sie Beispiele für den Alltagsrassismus?
Sie brauchen sich nur Studien zur Arbeitsmarkt- und Wohnsituation anschauen. Hier sind real existierende Diskriminierungsmuster offengelegt worden. Frauen mit Kopftuch werden demnach weniger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Mit einem türkischen oder arabischen Namen werden Menschen weniger zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen. Ich selbst habe anderthalb Jahre eine Wohnung gesucht, obwohl ich zusammen mit meiner Frau ein gutes Einkommen habe.
Was können Politiker in Berlin tun, damit sich das Zusammenleben frei von Diskriminierung und Rassismus gestalten kann?
Erst einmal passiert in Berlin einiges. In Arbeit ist gerade das Landesantidiskriminierungsgesetz, das von der Landesantidiskriminierungsstelle aufgelegt wurde. Zweitens: Die Nivellierung des Partizipations- und Integrationsgesetzes muss vorangetrieben werden. Wir müssen darauf achten, dass das alles keine Sollgesetze werden, nach dem Motto: Es wäre schön, wenn es so wäre. Es müssen verpflichtende Gesetze sein, die Diskriminierung und Rassismus nicht nur auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ahnden, wo sie nur sehr nachzuweisen sind.
Orkan Özdemir ist Diplompolitologe, seit 2012 Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg und integrationspolitischen Sprecher der SPD im Bezirk.
Hülya Gürler
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