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Neben den Beinen ein anderer Körperteil, der trainiert werden will. Mesut Özil.
© Andres Kudacki/dpa

Integration und Rassismus: Was habe ich mit Mesut Özil zu tun?

Das Leben mit zwei Herzen und die Enge der Identität. Ein Essay zur Debatte um den Rücktritt Mesut Özils aus der deutschen Nationalmannschaft.

Mesut Özil ist Fußballer. Jedenfalls war er das bis vor ein paar Wochen, bis die deutsche Öffentlichkeit den Türken Özil entdeckte. Eigentlich ist eine solche Feststellung nicht richtig. Sie ist zumindest unvollständig. Denn Özil war schon immer ein Türke, vielmehr der Türke. Der Türke in der deutschen Nationalmannschaft. Er war so etwas wie ein Vorbild.

Ein Vorbild für die Integration. Ein junger Türke aus Gelsenkirchen, der international erfolgreich Fußball spielt, und ein junger Fußballer, dessen Eltern aus der Türkei stammen, das sind zweierlei Dinge. Beide Sätze aber implizieren etwas Drittes, nämlich dass Migrantenkinder in Deutschland einfach nicht in Ruhe gelassen werden. Sie haben selten Zeit, sich zu entwickeln, sich in Widersprüche zu verwickeln oder auch nur störrisch zu sein ohne eine Bevormundung. Schon gar nicht, wenn sie sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden haben wie Mesut Özil.

Nun gibt es einen Fall Mesut Özil, und dieser Fall macht alle Irrtümer und Schwächen der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland deutlich. Doch dieser Fall wird nicht dazu führen, dass sich irgendetwas verbessert. Auch nicht durch immer neue Integrationsgipfel und gut gemeinte Projekte. Die Bevormundung nimmt zu.

Schablonenhaft ist unsere Wahrnehmung von Migranten geblieben

Sie hat ihre Ursachen in den Ängsten der Einheimischen vor selbstbewussten Neubürgern. Sie tarnt sich als politisch korrekte Haltung. Rassistische Vorurteile legen sich einen Mantel der Freiheit um. Dadurch werden sie nicht besser, sondern infamer und gefährlicher. Kaum hat sich der Fußballer geäußert, ist der erste deutsche Politiker, der ihn kommentiert, einer mit türkischer Herkunft: Cem Özdemir. Inzwischen fällt auch niemandem mehr auf, wie dieser Ethno-Zirkus funktioniert, wie stilbildend und stigmatisierend er inzwischen geworden ist.

Das Stigma beginnt schon dort, wo die potenzielle Vielfalt in einem Menschen nicht mehr gesehen wird. Die stigmatisierte Figur ist eine Gegenfigur zur literarischen, die den Menschen in seinen Widersprüchen zu akzeptieren und zu erfassen versucht. An einer misslungenen literarischen Figur erkennt man die Schablone, das Klischeehafte. Schablonenhaft ist weitgehend unsere Wahrnehmung von Migranten geblieben. Ist da Platz für einen englisch twitternden jungen Gelsenkirchner, der zum internationalen Fußballstar avanciert ist?

Özil verlässt die deutsche Nationalmannschaft. Nun ist der Großinquisitor nackt. Doch wer ist dieser Großinquisitor eigentlich? Es ist jener Chor, der in den letzten Wochen nicht aufhörte zu fordern, Özil möge sich erklären, für die Aufnahmen mit dem türkischen Präsidenten. Der Ton war dabei nicht zimperlich. Beleidigungen und Beschimpfungen haben den Betroffenen persönlich erreicht und sie haben getroffen. Sie haben deutlich gemacht wie dünn die Decke der Gemeinschaft ist, die wir uns über gezogen haben. Unter dieser Decke wird es jetzt zunehmend kalt.

Was bedeutet Staatsbürgerschaft in unserer Gesellschaft?

Man kann über den türkischen Präsidenten streiten. Ich habe in deutschsprachigen Zeitungen nicht nur einmal über ihn geschrieben, in den letzten Jahren waren diese Artikel alles andere als freundlich. Er ist aber nicht der einzige umstrittene Präsident auf dem Globus, nicht der einzige, der sein Volk mehr spaltet als eint.

Was wird hier also verhandelt? Türkische Innenpolitik? Deutscher Patriotismus, oder sollte man sagen: Nationalismus? Vor allem drängt sich die Frage auf: Darf die Herkunft eines Menschen, eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland, alles andere überlagern? Wir haben keine Übereinkunft darüber, was Staatsbürgerschaft in unserer Gesellschaft heute bedeutet. In Zeiten, in denen das Abstammungsrecht herrschte, mag diese Definition einfach gewesen sein. Aber heute, mit fast 20 Millionen Menschen, die auch eine fremde Herkunft haben?

Özil spricht von zwei Herzen, die er in sich trägt. Davon hat auch schon Goethe gesprochen, der bekanntlich kein Türke war, sich in der Enge einer Identität aber unwohl fühlte. Auch deshalb wurde ein Weltliterat aus ihm. Einer, der sich fremde Zungen anverwandelte wie keiner vor ihm.

Doch was wird aus dem, der nicht verstehen kann, was das Bild mit den zwei Herzen bedeutet? Der Migrant ist in seinen Augen eine Totgeburt, als Bürger, als Patriot, als Nationalspieler.

In den nächsten Jahren müssen wir uns wahrscheinlich daran gewöhnen, dass es mehr „einfache“ Herzen geben wird, die sich nicht darum scheren, was das „Ausland“ zu dem sagt, was sie meinen. Denn das Ausland ist jedem von uns nahegerückt. Und deswegen wird mancher glauben, auf die Barrikaden gehen müssen, um sich sein eigenes Land wieder anzueignen. Gefühle werden da wach, die nichts Gutes verheißen, aber irgendwie auch nicht überraschend sein können.

Deutschland ist nie ein Einwanderungsland geworden

Seien wir doch ehrlich: Welcher Türke wächst in Deutschland nicht mit der Überheblichkeit seiner Umgebung auf, wenn es um seine Herkunft geht? Wer sich das gefallen lässt, genießt bei weltoffenen Menschen Ansehen, wer aber aneckt, findet sich sehr schnell in einem imaginären Anatolien wieder, das an deutschen Stammtischen öfters beschworen wird als in türkischen Wohnküchen.

Hand aufs Herz: Deutschland war nie ein Einwanderungsland, und es ist aller Mühe zum Trotz auch nie eines geworden. Schon gar nicht für Menschen aus muslimischen Ländern. Und da beginnt der Rassismus.

Deutschland ist ein Land, das Einwanderung erfährt. Man könnte auch sagen, dem Einwanderung widerfahren ist. Einwanderungsland zu sein aber bedeutet, einen mühsamen Weg der Anwerbung einzuschlagen. Dieser Weg ist lang und vor allem er hört nicht an den Grenzpfosten auf. Zudem ist er mit Respektsteinen markiert. Wir sind dabei, diese Steine einzeln beiseitezuräumen, im Glauben, dass es dann ein besseres Fortkommen geben wird. Ohne Respekt aber wird es keine Anerkennung und ohne Anerkennung kein Auskommen geben. Anders als mancher Fußballfunktionär scheint zumindest die Kanzlerin das zu wissen. „Mesut Özil hat jetzt eine Entscheidung getroffen, die zu respektieren ist“, ließ sie verlautbaren.

Zafer Şenocak lebt als Schriftsteller in Berlin. Anfang Oktober erscheint bei der Edition Koerber sein Buch „Das Fremde, das in jedem wohnt. Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten“.

Zafer Şenocak

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