Özils Rücktritt und Alltagsrassismus: „Die Dunkelhaarigen werden als erste verhaftet“
Die Debatte um den Rücktritt von Mesut Özil aus der Nationalelf reicht weit über den Fußball hinaus. Wie weit reichen Rassismus und Ausgrenzung im Alltag? Zehn Menschen berichten.
Seit Monaten stand Fußballweltmeister Mesut Özil in der Kritik. Und das nicht nur sportlich. Seit seinem Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan war er auch Ziel politischer und rassistischer Anfeindungen. Wie sehen das andere Menschen mit Migrationshintergrund? Sie sind in Deutschland geboren oder leben seit Jahrzehnten hier. Sie sind als Künstler, Politiker oder Unternehmen erfolgreich. Trotzdem erleben auch sie immer wieder unterschiedliche Formen von Ausgrenzung. Hier berichten sie über ihre Erfahrungen mit Rassismus in ihrem Alltag – und nehmen Stellung zu Özils Äußerungen bei seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
„In Deutschland existiert ein struktureller, institutioneller Rassismus“
„Mich ärgert, dass Mesut Özil für etwas gerade steht mit jetzt katastrophalen Folgen, was er offenbar falsch eingeschätzt hat und wo er falsch beraten war. Er sagt ,mein Präsident’: Fußball ist doch immer Politik, das müsste auch Özil wissen. Er hat Erdogan Wahlhilfe geleistet, er wusste anscheinend gar nicht, worauf er sich da einlässt. Es wird ja auch vermutet, dass unterschwellig die Geschichte seines Beraters Erkut Sögüt mitschwingt, der aus Hannover stammt und sich womöglich selber in Deutschland nicht anerkannt fühlt. Trotzdem kann man sich auch mit einer doppelten Identität anders verhalten, wie man an Gündogan und Emre Can ja sieht.
Die türkische Community in Deutschland ist seit dem Putsch in der Erdogan-Frage gespalten. Özil, der ja auch eine junge Generation vertritt, steht jetzt für Pro-Erdogan. Dabei geht es doch darum, hier in der Demokratie demokratische Gruppen und die Meinungsfreiheit in der Türkei zu unterstützen. Eins der Mädchen aus meinem Fußballerinnen-Film ,Mädchen am Ball’ hat mir vor kurzem erzählt, wie die Erdogan-Frage ganze Familien spaltet; sie treibt einen Keil in die Community.
Aber Özil hat auch Recht: In Deutschland existiert ein struktureller, institutioneller Rassismus. Ganz offenbar beim DFB, das ist schrecklich, aber auch anderswo. Bei den Recherchen zu meinem NSU-Dokumentarfilm ist es mir immer wieder begegnet, wie schnell sogenannte Migranten kriminalisiert werden. Die Dunkelhaarigen werden als erste verhaftet. Hier muss die Gesellschaft sich sehr viel mehr sensibilisieren, im Alltag, auf Ämtern, in der polizeilichen Ausbildung, in den Schulen. Denn es wird immer wieder ausgegrenzt: In Deutschland geborene Menschen fühlen sich nicht beheimatet, fühlen sich nicht als Deutsche.
Einer der Brüder der jungen Kölner Boxerin aus meinem Film ,Ein Mädchen im Ring’ arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei Ford. Er engagiert sich dort, ackert, ist im Betriebsrat und hat nie die Chance bekommen aufzusteigen. Die berufliche Anerkennung wurde ihm verweigert. Er ist total frustriert, und er wählt Erdogan. Es hat mich schockiert, aber man darf sich nicht wundern. Gegen all diese Spaltungen müssen wir angehen, nur so lässt sich das Problem an der Wurzel packen.“ Aysun Bademsoy, Jahrgang 1960, lebt als Filmemacherin in Berlin
„Ich habe überhaupt kein düsteres Bild von Deutschland“
„Durch die Äußerungen von Mesut Özil haben wir eine erhitzte Debatte. Ich glaube, dass Özil eine Ansammlung von Erfahrungen gemacht hatte. Aber Deutschland ist nicht viel rassistischer als andere Länder. Es gibt genauso wie woanders hierzulande den Alltagsrassismus. Aber Deutschland ist ein tolerantes Land, die Leute können hier integriert werden. Und es gibt viele positive Dinge, die man sich vergegenwärtigen muss. Ich habe überhaupt kein düsteres Bild von Deutschland. Und resignativ bin ich auch nicht.“ Bilkay Kadem, Stiftung Fairchange und Ex-Integrationsministerin in Baden-Württemberg
„Er hat die Deutschenfeindlichkeit befördert“
„Wenn man ein Land schätzt, muss man sich selbst um Integrationsleistung kümmern. Ich brauchte keinen Integrationskurs, ich habe den Kontakt zu Deutschen gesucht und mich um meine Integration gekümmert. Und all die Menschen, die sich für Deutschland als zweite Heimat entscheiden, haben mit der Integration kein Problem. In Deutschland gibt es nicht mehr Alltagsrassismus als anderswo. Dieses Land, in dem ich lebe, hat viel Wiedergutmachungsleistungen getätigt. Deutlich mehr als andere Länder.
Der Fußballspieler Mesut Özil trifft mit seinem Auftritt die Ideologie von Recep Tayyip Erdogan voll. Und das muss er wissen, wenn er dies nach außen trägt. Dafür trägt er die volle Verantwortung. Das ist doch absolut verlogen: Özil lebt jetzt zwar in London, aber er hat seine Millionen auf dem Konto auch in Deutschland verdient. Und er ist nicht in der Lage, die deutsche Nationalhymne mitzusingen? Ich finde, dass er sich in Widersprüche verheddert. Er bestätigt meines Erachtens, dass er ein türkischer Rassist ist. Und mit seinem letzten Auftritt, seinem Rücktritt aus der deutschen Nationalelf und seinen Äußerungen, hat er die Deutschenfeindlichkeit noch ein ganzes Stück nach vorne befördert.“ Seyran Ates, Anwältin und Publizistin
„Immer diese Frage: Woher kommen Sie?“
„Obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, bekomme ich Rassismus zu spüren. Natürlich, ich sehe ja auch ,anders’ aus. Manchmal sind die Kommentare gar nicht rassistisch oder ausgrenzend gemeint, glaube ich. Zum Beispiel immer diese Frage: Woher kommen Sie? Vielleicht stellt die auch jemand aus echtem Interesse. Ich habe mir eine Antwort darauf zurechtgelegt, ich sage: ,Meine Eltern kommen aus Indien. Ich bin Berliner beziehungsweise Deutscher.’ Manchmal sind es eindeutige Beschimpfungen.
Mesut Özils Entscheidung, nicht mehr für Deutschland zu spielen, wird einen gewaltigen Flurschaden anrichten – sportlich, aber auch gesellschaftlich. Mein Sohn ist 14 und spielt selbst Fußball. Natürlich gibt es bei ihm und seinen Freunden die Wahrnehmung, dass Özils Geschichte die einer Ausgrenzung ist. Vor allem dadurch wie das WM-Aus in fast allen Medien besprochen und bebildert wurde. Als ich klein war, gab es unter meinen migrantischen Freunden nicht viele, die, wie ich, Fan der deutschen Nationalmannschaft waren. Das änderte sich, als Spieler wie Khedira, Boateng und vor allem Özil dazu kamen.
Nun beobachte ich wieder einen Schwenk zurück. Und: Die Nationalmannschaft war für uns in Diskussionen innerhalb der muslimischen Gemeinde immer ein positives Beispiel: Seht, wer da mitspielt, es tut sich etwas in Deutschland. Das Argument geht jetzt natürlich flöten.“ Mohammad Imran Sagir, 44, ist Geschäftsführer des Muslimischen Seelsorge Telefons in Berlin
„Warum können nach 30 Jahren nicht alle Migranten deutsch sprechen?“
„Bevor ich etwas zur Integration sage, möchte ich darauf hinweisen, dass der Fall Özil vom DFB schauderhaft gemanagt wurde. Für den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel ist Multikulti kein Thema. Er hat von Anfang an versagt, genauso wie Bundestrainer Jogi Löw und Manager Oliver Bierhoff, die für die Führung einer Mannschaft verantwortlich sind. Man hätte deutlich machen müssen, dass das eine politische Aktion von Özil war. Alles andere nehme ich ihm nicht ab.
Wir haben in Deutschland eine immer größer werdende Zahl von Rechtspopulisten. Und in dieser Stimmung wird Özil angegriffen. Das ist leider bittere Realität. Aber das hat mit dem Fall Özil nichts zu tun. Die deutsche Politik bereitet durch ihr Agieren und auch ihr Nichtagieren den Nährboden für Rechtspopulisten. Warum überlässt man auf Bundesebene der CSU die Meinungsführerschaft, die dann noch versucht die AfD rechts zu überholen? Wir müssen über die bisherige Einwanderungs- und Migrationspolitik sprechen, die viele Ziele verfehlt hat wie Spracherwerb: Warum können zum Beispiel auch nach 30 Jahren ihres Lebens hierzulande nicht alle Migranten deutsch sprechen?
Ich habe die deutsche und iranische Staatsbürgerschaft und fühle mich total integriert in Deutschland. Aber auch ich erlebe es, dass ich zum Beispiel im Straßenverkehr ein paar Mal die Woche als ,Scheiß Kanacke’ beschimpft werde. Aber ich kann mich dagegen wehren. Und ich fühle mich in Deutschland nicht eingeengt. Ich bin integriert und werde akzeptiert.“ Kaweeh Niroomand, Sportmanager
„Nach meinem Rauswurf las ich plötzlich Kommentare auf Facebook“
„Auch wenn ich mich im Fußball null auskenne, verstehe ich, was Özil meint. Während der 18 Jahre als Fernsehkommissar bei ,Der Alte’ im ZDF hab ich keinerlei Diskriminierung erlebt. Ich war im ON und beliebt. Nach meinem Rauswurf las ich plötzlich mehrfach auf Facebook Kommentare in der Richtung ,Endlich ist der Neger weg!’. Auch dass ich in den vergangenen dreieinhalb Jahren nie wieder auch nur einen einzigen Drehtag hatte, passt für mich in diese Schublade.“ Pierre Sanoussi-Bliss, 55, Schauspieler
„Plötzlich ist es wieder normal, von 'Ausländern' zu reden“
„Die Diskussion um Mesut Özil verdeutlicht eine gesellschaftliche Entwicklung, die ich als ,tektonische Rechtsverschiebung’ bezeichnen würde. Ich nehme das zum Beispiel an der Sprache wahr, die sich bis weit in liberale Milieus verändert. Plötzlich ist es wieder normal, von ,Ausländern“ zu reden, statt Rassismus sagen viele ,Fremdenfeindlichkeit’. Das hatten wir doch eigentlich überwunden.
Die Veränderung spüre ich auch im Alltag. Wenn ich einen Text über die AfD veröffentliche, bekomme ich in den sozialen Medien sofort Kommentare, die mir naheliegen, ich sollte doch das Land verlassen. Oder in der Berliner S-Bahn: Wenn ich aus Versehen jemanden anremple, werde ich manchmal schon bevor ich mich entschuldigen kann belehrt, dass sich ,so etwas bei uns nicht gehört’. Da ist es dann auch wieder das ,wir’ und ,ihr’.
Diese rassistischen Muster tauchen jetzt auch im Fall Özil auf. Besonders daran ist, dass es hier einen Erfolgsmigranten trifft. Sie sind normalerweise weniger von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen. Im Gegensatz zu Flüchtlingen etwa, die heutzutage für fast jedes Problem in Deutschland verantwortlich gemacht werden. Sie sind dem Rassismus am stärksten ausgesetzt.“ Imran Ayata, 49, ist Autor und politischer Campaigner
„Menschen mit Migrationshintergrund müssen immer mehr leisten“
„Mit der Diskussion um Mesut Özil haben wir jetzt auf einmal wieder die Integrationsdebatte in Deutschland. Und wieder zeigt sich dabei eine Doppelmoral in der Gesellschaft. Ich kann verstehen, dass Özil genug hat, denn irgendwann reicht es auch. Immer wieder wird darüber diskutiert, wer in Deutschland dazugehört und wer nicht. Menschen mit Migrationshintergrund müssen immer mehr leisten, es wird ihnen immer 100 Prozent abverlangt, sie dürfen sich kaum Fehler erlauben. Zugleich werden sie immer wieder ausgegrenzt, weil sie angeblich nicht dazugehören.
Das erfahre ich auch im Alltag. Wenn ich zum Beispiel in der Kneipe vom Service ignoriert oder im Rahmen meiner politischen Arbeit rassistisch beschimpft werde. Man wird einfach nicht wertgeschätzt als Mensch. Ich wünsche mir deshalb, dass sich in der Frage nach der Migration in Deutschland endlich Normalität einstellt. Dass die gesellschaftliche Vielfalt als normal anerkannt wird und diese ewigen Diskussionen um die Zugehörigkeit endlich aufhören.“ Cansel Kiziltepe, 42, ist SPD-Bundestagsabgeordnete aus Friedrichshain-Kreuzberg
„Es muss niemand Opfer sein“
„In meinen Augen darf sportliche Leistung nicht in Zusammenhang mit Diskriminierung gebracht werden. Jedes steht für sich. Seinen Rundumschlag kann ich nicht nachvollziehen. Hier geht es um die sportliche Leistung. Ich selbst habe Glück gehabt. Ich bin in Charlottenburg aufgewachsen und musste nie Diskriminierung erfahren. Ich habe mich immer dazugehörig gefühlt. Man muss einfach zeigen, was man kann, und selbstbewusst sein. Selbst wenn man mit Diskriminierung konfrontiert wird, kann man das nicht auf ein Land schieben. Stattdessen sollte man mutig sein und sich eine Plattform suchen, um die Probleme offen anzusprechen. Es muss niemand Opfer sein.“ Kalonji Tshaba, Unternehmer und Mitglied im Präsidium der IHK Berlin
„Durchtränkt von rassistischen Denkmustern“
„Keine Frage: Das Bild war ein Fehler. Sicher ist aber auch: Die Reaktionen im Anschluss waren durchtränkt von rassistischen Denkmustern. Özil war nicht mehr der junge Nationalspieler, der einen Fehler gemacht hat. Er war jetzt der ,Türke’, auf den der ganze Hass projiziert wurde. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, die auch außerhalb des Spielfelds die Gesellschaft im Würgegriff hält. Wir müssen uns daraus befreien. Ich rufe daher alle auf, die offene Gesellschaft auf dem Fußballfeld sowie auf den Straßen des Landes zu verteidigen. Alles andere wäre Gift für den Zusammenhalt.“ Karamba Diaby, 56, ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus Halle
Zusammengestellt von Sabine Beikler, Paul Starzmann, Christiane Peitz, Oliver Voß und Carla Neuhaus.
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