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Unterwäsche statt Dessous. Kaufhäuser (wie hier Karstadt am Hermannplatz) sind einfach praktisch.
©  Thilo Rückeis

Berliner Dorfplätze: Eine Ode ans Kaufhaus um die Ecke

Shopping wird als Freizeitspaß inszeniert. Doch es gibt auch den Alltag. Ohne Karstadt oder Kaufhof wäre der viel beschwerlicher.

In der Theorie ist, wie immer, alles ganz einfach. Der moderne Mensch fährt fürs Shopping-Erlebnis lieber in eine weiter weg gelegene Mall, als im Kaufhaus um die Ecke einzukaufen. Oder er geht, weil er natürlich nie Zeit hat, gleich ins Internet. Schon klar, dass der Einkauf immer mehr zum Freizeitvergnügen geworden ist, so eine Art Tennis mit der Kreditkarte.

Dieser Trend hat aber den Alltag nicht ersetzt. Und der bringt immer neue Überraschungen und damit Gründe, sich für einen notwendigen Einkauf zum Kaufhaus im eigenen Kiez zu begeben. Die können ganz einfach sein.

Der blitzendste aller Kochtöpfe hat beim Soßenexperiment für die letzte Dinner-Party einen hässlichen braunen Bodenbelag davongetragen, der sich mit herkömmlichen Mitteln einfach nicht entfernen lässt. Bevor er im Müll landet, soll ein neuer her. Die nette Karstadt-Verkäuferin hört sich das Missgeschick mitfühlend an, verschwindet kurz und taucht mit einem weißen Fläschchen wieder auf. „Probieren Sie das mal, bevor sie einen neuen Topf kaufen.“ Es wirkt tatsächlich wie ein Wunder.

Herkömmliche Kaufhäuser haben oft besonders patente Verkäuferinnen und Verkäufer, die mit ihrer Erfahrung echte Lebenshilfe geben können. Natürlich kann man auch alles im Internet recherchieren, wenn man genau weiß, was man will oder braucht. Aber die echte Begegnung macht manchmal mehr Spaß, besonders, wenn, wie in diesem Fall, der Topf nach der Behandlung blitzt wie neu.

Vermutlich wäre es für die Unternehmensbilanz besser gewesen, den teureren neuen Topf zu kaufen. Vielleicht aber auch nicht, denn die Freundinnen in der WhatsApp-Gruppe wollen sich, als sie von dem Topf-Wunder erfahren, alle auch das Mittel besorgen. Wo’s das gibt? Klar, bei Karstadt.

„Kaufhof bietet tausendfach, alles unter einem Dach“

Dort trifft man auch den weißhaarigen Verkäufer mit schwäbischem Zungenschlag, der einen skeptisch anschaut auf die Frage hin, ob das Bettlaken, das da gerade im Sonderangebot ist, auch gut ist. „Wenn es lange halten soll, würde ich lieber das reguläre nehmen. Für richtig gute Qualität muss man immer etwas mehr bezahlen.“ Komisch, hat das nicht schon die Oma immer gesagt? Der Vergleich zu Hause zeigt, der Mann hat recht gehabt. Das teure Tuch ist seinen älteren Geschwistern aus dem Angebot tatsächlich deutlich überlegen.

„Kaufhof bietet tausendfach, alles unter einem Dach“, der Werbespruch aus den 60er Jahren ist so unvergessen, wie der von der Bahn, die nie vom Wetter redet. Diese Zeit ist in der Tat vorbei. Heute braucht es mindestens drei Dächer, um analog alle Einkaufsbedürfnisse zu erfüllen. Was mit Werkzeug, Nägeln und Haken zu tun hat, gibt es in der Regel im Baumarkt.

Dort finden sich auch andere praktische Sachen. Überschneidungen mit dem klassischen Kaufhaus sind eher selten, aber durchaus vorhanden, beim Fensterleder zum Beispiel oder beim Mülleimer. Ein weiteres Dach ist notwendig für all die schönen Dinge, für die man beim Sehen Begehrlichkeiten entwickelt, zwischen dem immergrünen Salat im Foodcourt davor und dem Eis kurz vorm Ausgang danach.

Seit fast 170 Jahren erfindet sich die Branche immer wieder neu

Einkaufszentren haben oft Elektronikmärkte als Ankerläden. So kann auch dort der gute Grund für einen Besuch, zum Beispiel weil man neue Druckerfarbe braucht, damit enden, dass man mit Tüten voller wohlriechender Bodylotions oder angesagter Jeans und Accessoires nach Hause geht.

Seit 1852 die Brüder Abraham und Theodor Wertheim in Stralsund den Grundstein legten mit dem „Manufactur- Modewarengeschäft“, aus dem 1875 ihr erstes Kaufhaus wurde, musste sich die Branche immer wieder neu erfinden oder von Rückschlägen erholen. Das erste Karstadt-Haus wurde 1881 in Wismar eröffnet. Bereits 1885 hatten die Wertheim- Brüder eine Filiale ihres Geschäfts in der Kreuzberger Oranienstraße etabliert. Schon 1843 gab es das „Kaufhaus N. Israel“ an der Spandauer Straße gegenüber dem Rathaus.

Das Wertheim an der Leipziger Straße war zwischenzeitlich das berühmteste Kaufhaus Europas (Aufnahme wohl aus den 20ern).
Das Wertheim an der Leipziger Straße war zwischenzeitlich das berühmteste Kaufhaus Europas (Aufnahme wohl aus den 20ern).
© imago/Arkivi

Im großen Stil begann in Berlin die Kaufhausgeschichte 1894, als die Wertheim-Brüder ihr Haus in der Leipziger Straße eröffneten. In seinen besten Zeiten verfügte es über 106.000 Quadratmeter. Die Nazis enteigneten die Familie 1937. Das Haus an der Leipziger Straße hatte sich in der Zwischenzeit zum berühmtesten Kaufhaus Europas entwickelt.

Kontinuität in der Vielfalt trägt zum urbanen Lebensstil bei

Wertheim gehörte nach dem Krieg zunächst zu Hertie, bis 1994 Karstadt die Hertie-Häuser schluckte. Die Wertheim-Häuser, zum Beispiel an der Schloßstraße in Steglitz und am Kurfürstendamm, behielten zunächst ihre Namen. Erst 2007 wurden die Erben mit 88 Millionen Euro entschädigt.

Der Name Wertheim prägte einst das Stadtbild wie hier in Steglitz. Nach der Übernahme durch Karstadt verschwand er nach und nach.
Der Name Wertheim prägte einst das Stadtbild wie hier in Steglitz. Nach der Übernahme durch Karstadt verschwand er nach und nach.
© Museum Steglitz

Der Abschied vom Namen Wertheim war aus Sicht von Markenexperten unumgänglich. Aber für die Kunden in Berlin war dieser Schritt 2009 sicher genauso gewöhnungsbedürftig, wie die ungewohnte Mischung der Farben Grün und Blau, als Galeria Kaufhof und Karstadt vor knapp zwei Jahren zusammengingen.

Trotz der Umgewöhnung bleiben die Häuser ein Ziel. Eine Großstadt mit vielen Bezirken braucht Dorfplätze, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen über den Weg laufen und um die herum sich kleinere Geschäfte und Restaurants ansammeln. Das sieht in Wedding und Neukölln anders aus als in Steglitz oder in der Wilmersdorfer Straße, aber gerade die Kontinuität in der Vielfalt trägt zum urbanen Lebensstil erheblich bei.

Kaufhäuser sind vor allem für praktisch veranlagte Menschen praktisch

Auch wenn es hipper wirken mag, Dessous in der Mall zu kaufen als Unterwäsche bei Karstadt, ist die Auswahl zwischen verschiedenen Marken im Kaufhaus ein Argument für praktisch veranlagte Kunden. Einkaufszentren haben zwar auch ein großes Warenangebot, aber die einzelnen Geschäfte sind oft auf eine einzige Marke spezialisiert.

Zum Beispiel bei Herrenhemden wird der Einkauf sehr beschleunigt, wenn man auf kleinem Raum die Auswahl zwischen vier oder fünf Marken hat. Männer, die nicht gern einkaufen, wissen das zu schätzen. Bei allen modischen Veränderungen haben die Kaufhäuser ihre Stralsunder Wurzeln nie abgelegt.

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Junge Touristen aus aller Welt, die Berlin in normalen Zeiten ja auch als Einkaufsziel schätzen, müssen nicht bei den Klassikern in der Damenabteilung verweilen. Ein Stockwerk höher gibt es am Kurfürstendamm seit einigen Jahren eine Abteilung mit jungen Marken.

Schnäppchenjäger wissen die Sonderangebote zu schätzen

Und wenn man die bei der Dinnerparty zerbrochenen Gläser und den abgerissenen Knopf ersetzt hat, wenn man in der Spielzeugabteilung ein Plüschtier fürs Kind der Nachbarn erstanden hat, die den Lärm so geduldig ertragen haben, wenn man unten in der Schreibwarenabteilung noch rasch eine Rolle Geschenkpapier besorgt hat, bleibt oft Zeit für einen kleinen Streifzug durch die Lebensmittelabteilung.

Die mag sich von der Corona-Schließung noch nicht wieder ganz erholt haben. Aber Schnäppchenjäger wissen die Sonderangebote zu schätzen, die es dort zum Beispiel bei Süßigkeiten oder Weinen immer wieder gibt.

Mag sein, dass das Interieur von Kaufhäusern im Vergleich nicht mehr wirklich großzügig wirkt, dass die hippsten Fashionlabels woanders locken. Doch egal, was Trends oder Marketingforschung zu Tage fördern, die prosaisch praktischen Gründe ins nächstgelegene Kaufhaus zu eilen, sind auch viele Jahre nach der ersten Berliner Kaufhaus-Gründung nicht ganz wegzuwischen.

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