Jüdisches Leben in Berlin: "Wir sind nicht das auserwählte Volk - auch nicht im Leiden"
Seine jüdischen Vorfahren waren mehr als 300 Jahre lang in Berlin. Sie brachten Wohlstand, gründeten das erste Kaufhaus und blieben doch Außenseiter. Jochen Palenker hat seine Familiengeschichte zum Beruf gemacht.
Im Familiengrab ist noch Platz. Die Israels haben das Gräberfeld 1890 gekauft, doch beerdigt wurden sie dann woanders. Moritz ließ sich scheiden und kam alleine ins Grab. Richards Asche haben sie auf den Elbwiesen bei Theresienstadt verstreut. Andere aus der Familie starben in den USA. So ist hinter dem schmiedeeisernen Gitter auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee Raum geblieben für Jochen Palenker und seine Familie. Im Dezember hat er seine Mutter hier beerdigt. Jetzt gibt es in Berlin noch ihn, seine Frau und seine beiden Kinder.
Seine Vorfahren kamen vor 343 Jahren an die Spree – länger sind wohl nur die Hohenzollern da. Die Israels haben die Stadt geprägt, haben den Reichtum Berlins und ihren eigenen gemehrt; haben der Garnisons- und Militärstadt Eleganz verliehen. Sie gründeten das erste große Kaufhaus in Berlin. Das halbe Nikolaiviertel gehörte ihnen. Es gab pflichtbewusste Kaufleute und schillernde Dandys unter ihnen. Sie haben ihre Angestellten gerecht behandelt und vielen Menschen bei der Flucht vor den Nazis geholfen. Sie könnten im Zentrum der Stadtgeschichte stehen, bekannt, verehrt, anerkannt. Es könnte eine Straße nach ihnen benannt sein. Stattdessen gibt es Stolpersteine. Palenkers Urgroßvater war im Ersten Weltkrieg Adjutant des späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und befreundet mit Generalmajor Erich Ludendorff. 1943 bestieg er mit seiner Frau den Viehwaggon.
Die Israels haben alles getan, um anerkannt zu werden und dazuzugehören. Sie haben sich assimiliert und ihren Glauben so reformiert, dass er möglichst wenig auffiel. Und doch bleibt die Frage, ob Palenkers Vorfahren in diesen mehr als drei Jahrhunderten nicht doch Fremde geblieben sind in ihrer Heimat. Weil sie Juden waren und Juden geblieben sind, Einheimische auf Widerruf, Alteingesessene unter Vorbehalt.
Erst 1812 wurden sie anerkannt, da war die Familie 140 Jahre in der Stadt
Jochen Palenker ist ein schlanker, großer Mann von 56 Jahren, den etwas Weiches und Verletzliches umgibt; er trägt, ist es warm, Polohemden. Wenn er redet, will vieles zugleich aus ihm heraus, manchmal zu viel. Dann redet er in Schleifen, weil ihm gerade dieses und dann jenes noch einfällt, manchmal stockt er und muss nach Worten suchen für all das, was es zu erzählen gibt. Er hat ja auch so viel zu sagen, diese unglaubliche Familiengeschichte, die ihn beschäftigt, die ihn immer mehr besetzt, je älter er wird. Er könnte ja der Letzte sein, der das alles zu berichten hat, wer weiß, ob das die Kinder interessiert. Die suchen mit Mitte 20 ihr eigenes Leben. Er will ihnen die Geschichte nicht aufbürden, die Last der Jahrhunderte.
Jochen Palenker war 13 Jahre alt und zu Besuch bei einer Großtante, die vor den Nazis nach Chile geflohen war. Sie erzählte ihm zum ersten Mal, dass seine Familie besonders war. Ein Kaufhaus hätten sie besessen, steinreich seien sie gewesen. Davon hatte er noch nie gehört. Seine Eltern lebten relativ bescheiden. Auch seine Mutter war vor den Nazis bis nach Chile geflüchtet. Nach dem Krieg hatte sie auf dem Weg nach Israel in Deutschland einen Mann getroffen, den Herrn Palenker, und war hier hängengeblieben. Den chilenischen Pass hatte sie zur Sicherheit behalten. Über die Vergangenheit redete sie ungern. Und so interessierte auch Jochen Palenker die Familiengeschichte wenig. Er lebte in der Gegenwart, machte seine eigene Karriere als Chirurg, verdiente viel Geld, spielte Polo und züchtete Rennpferde.
Doch zunehmend rumorte es in ihm. Schon als Kind hatte er sich oft als Außenseiter gefühlt. Die Freunde durften Fußball spielen, er musste zwei Mal in der Woche zum Religionsunterricht in die jüdische Gemeinde. Auch dort, in der jüdischen Gemeinde, fühlte er sich fremd. Viele waren ihm zu streng religiös, ihre Israelsehnsucht teilte er nicht. Sie hatten sich immer als Deutsche verstanden. „Ab einem gewissen Punkt kotzt es einen einfach an, immer anders zu sein“, sagt Jochen Palenker. 1989 fiel die Mauer, die Familie forderte Häuser und Grundstücke in Brandenburg und Ostberlin zurück. Es brauchte jemanden, der sich darum kümmert und nach den entsprechenden Dokumenten sucht. Jochen Palenker gab die Chirurgie auf und widmete sich gemeinsam mit einem Münchner Cousin der Familiengeschichte. Es habe ihm geholfen, dass er sich von der Pferdezucht her mit Stammbäumen auskenne, sagt er.
Immer Außenseiter sein. Schon sein erster „Berliner“ Vorfahr, Model Riess, kam nicht freiwillig in die Stadt. In der jüdischen Gemeinde Wien war er ein angesehener Rabbiner und Richter. Doch dann hatte die Gattin von Kaiser Leopold I. eine Fehlgeburt – man machte die Juden dafür verantwortlich und verjagte sie. So kamen 1671 einige jüdische Familien in Berlin an. Sie brachten Geld, Bildung und Handelsverbindungen bis in den Orient mit. Sie siedelten sich in der Spandauer Vorstadt an, eine Synagoge jedoch durften sie nicht bauen. Spitzel wurden auf sie angesetzt, weil man ihnen misstraute. Palenkers Vorfahren handelten mit Kleidung, Stoffen, Wein und Gewürzen. Erst 1812 wurden sie preußische „Einländer“. Da waren sie 140 Jahre in Berlin.
Sie gründeten das erste Kaufhaus in der Stadt
Das ganze Arbeitszimmer in seiner Wilmersdorfer Altbauwohnung hat Palenker mit den Ergebnissen seiner Recherchen gefüllt, Regale voller Ordner mit Abschriften aus Archiven, Kopien von Stadtchroniken, Schwarz-Weiß-Fotos, Urkunden, alten Stadtplänen. Er habe Jahre damit verbracht, auch nur die groben Linien des Stammbaums herauszuarbeiten; wenn er davon erzählt, klingt Stolz auf diese Geschichte heraus. Stolz? Nein, nicht Stolz, sagt er schnell. Stolz könne man nur sein auf das, was man selbst erreicht habe – er zum Beispiel darauf, dass er als Arzt bei der Implantation des ersten deutschen Kunstherzens mitgearbeitet habe.
1815 eröffnete Nathan Israel in einem schmalen Haus am Molkenmarkt ein Geschäft für schlesische Leinenstoffe. Der Laden lief gut. So gut, dass seine Söhne Jacob und Moritz einen Häuserblock in der Spandauer Straße kauften und daraus ein großes Kaufhaus machten. Von solchen Kaufhäusern hatten sie von Bekannten in Paris und Amerika gehört. Es war das erste Haus dieser Art in Berlin, und der Mut der Pioniere wurde belohnt.
Ein Ritterschloss gehörte dazu, wenn man oben mitspielen wollte
Jacob blieb trotz des Erfolges ein einfacher, frommer Jude, berichtet die englische Journalistin Naomi Shepherd, die in den 80er Jahren über die Familie schrieb. Er fuhr mit der Pferdebahn zur Arbeit, nahm belegte Brote mit ins Büro und drehte die Gasbeleuchtung ab, um zu sparen. Jacobs Bruder Moritz dagegen hatte irgendwann genug vom Dasein als Kaufhaus-Direktor. Er ließ sich ausbezahlen und kaufte sich ein Rittergut in Schulzendorf im Südosten Berlins. Ein Schlösschen auf dem Land – das gehörte dazu, wenn man ganz oben mitspielen wollte. Moritz Israel begründete damit neben der „Kaufhaus-Linie“ im komplizierten Stammbaum der Israels die „Rittergut-Linie“. Jochen Palenker stammt von dieser Rittergut-Linie ab. Moritz Israel ist sein Ur-Urgroßvater.
Moritz Israel war auch derjenige, der auf dem Friedhof in Weißensee ein Familiengrab kaufte und es mit einem prächtigen schmiedeeisernen Zaun verzieren ließ. Der Zaun steht heute noch. In Schulzendorf stiftete Moritz eine Schule und ließ das Dorf elektrifizieren. Wenn es ihm zu langweilig wurde mit der Bewirtschaftung seiner Ländereien, ging er auf Reisen. 1890 fuhr er mit dem neuen Orient-Express nach Konstantinopel – und wurde entführt. Gegen 400 000 Francs Lösegeld kamen er und die anderen Geiseln wieder frei. Jochen Palenker zieht einen Handelskammerbericht aus demselben Jahr hervor und zitiert amüsiert daraus, wie der Bandenchef dem „Herrn Israel“ zum Schluss auch noch das Opernglas abgenommen habe, um selbst damit über die Bergkuppen zu schauen. „Das Schicksal war manchmal schon sehr hart zu uns“, sagt er ironisch.
Israels wollten preußischer sein als die Preußen
Mittlerweile war Berlin nicht mehr nur Garnisonstadt, sondern die Industriemetropole des Kaiserreichs mit zwei Millionen Einwohnern. Es war auch die Heimat der Juden geworden – 1905 lebten hier mehr als 200 000. Das Kaufhaus N. Israel – von vielen auch das „Harrods“ von Berlin genannt – staffierte die bürgerlichen Wohnungen mit Wäsche aller Art aus, mit Teppichen, Gardinenstoffen, Möbeln und Pelzen. Es belieferte Hotels und Theater, Kasernen und Offizierskasinos, Krankenhäuser und Kirchen. Palenker klickt im Laptop Fotodateien an. Man sieht Hallen mit Tischen voller Stoffballen, großzügige Etagen mit prächtigen Rundgängen, einen Lichthof und einen Speisesaal, den „Erfrischungsraum“. Das Kaufhaus N. Israel stattete 1913 sogar die glamouröse Hochzeit von Kaiser Wilhelms II. Tochter aus, Viktoria Luise heiratete Welfenprinz Ernst August. „Kann schon sein, dass die Familie preußischer sein wollte als die Preußen“, sagt Jochen Palenker.
Mit ihrem Reichtum retteten sie ihre Kinder vor den Nazis
Wer in der Gesellschaft etwas gelten wollte, musste auch im preußischen Heer Karriere machen. Juden aber waren vom Militär ausgeschlossen. Das änderte sich zwar Mitte des 19. Jahrhunderts, doch es blieb sehr schwer für sie, in die höheren militärischen Ränge vorzustoßen.
Richard Israel, Palenkers Urgroßvater, ist es gelungen. Richard ist der Sohn von Rittergutsbesitzer Moritz. Er besuchte die Kadettenschule und wurde Oberst. Im Ersten Weltkrieg stieg er zum Adjutanten von Paul von Hindenburg auf. Auf einem Foto ist er mit Hindenburg und Generalmajor Erich Ludendorff in Masuren zu sehen. Palenker zeigt dieses Bild gerne. Es ist für ihn der Beweis, dass die Familie endlich akzeptiert wurde. Und hatte nicht Wilhelm II. im August 1914 erklärt, er kenne keine Parteien mehr und keine Konfessionen, sondern nur noch Deutsche?
Richard heiratete Bianca aus dem Hause Mosse. Zur Hochzeit schenkte ihm sein Vater das Rittergut in Schulzendorf. Oft waren Künstler zu Gast. Lovis Corinth malte Bianca mit Hut im Garten und die „Kinder der Familie Israel“. Walter Leistikows Ansicht vom Grunewaldsee stiftete Richard der Nationalgalerie. Die Familie gehörte jetzt so sehr zum Establishment – Richard konnte sich nicht vorstellen, jemals zum Außenseiter zu werden. Die Nazis hielt er für eine vorübergehende Erscheinung. Aber mit seinem Freund Ludendorff wollte er nicht mehr auf die Jagd, als der sich immer antisemitischer äußerte.
Die Nazis pressten ihnen den Besitz ab
Ein Foto von Hindenburg mit persönlicher Widmung bewahrte Richard und Bianca noch eine Weile vor der Drangsalierung. 1934 starb Hindenburg, danach half auch das Foto nicht mehr. Die Nazis pressten ihnen das Vermögen und das Rittergut ab. Mit dem Geld, das übrig blieb, verhalfen Richard und Bianca den fünf Kindern und Enkeln zur Flucht ins Ausland. Für sie selbst reichte es nicht. Richard und Bianca wurden nach Theresienstadt deportiert. Sie waren über 70.
Auch die Verwandten, die das große Kaufhaus weiterführten, wurden von den Nazis bedroht. Ein Teil der Familie konnte fliehen. 1939 liquidierte Palenkers Großonkel Wilfrid Israel das Kaufhaus. Als junger Mann hatte er das Leben eines Dandys geführt, als die Nazis an die Macht kamen, fand Wilfrid Israel seine eigentliche Bestimmung: Juden retten. Er arbeitete in Hilfskomitees, nutzte seine Verbindungen in die englische Oberschicht und opferte sein Privatvermögen, um jüdischen Menschen, darunter auch den Angestellten des Kaufhauses, die Flucht zu ermöglichen. Er organisierte Kindertransporte, mit denen jüdische Kinder aus Deutschland nach England und Palästina reisen konnten. 1944 wurde er in einem britischen Zivilflugzeug von der deutschen Luftwaffe über dem Golf von Biskaya abgeschossen.
"Jude, Jude, feiges Schwein" - war auch kürzlich auf Berliner Straßen wieder zu hören
Die Familiengeschichte ist für Jochen Palenker auch eine Last. Vorfahren wie Wilfrid, Richard und Bianca sind zwar Vorbilder für ihn. Weil sie sich für andere einsetzten und alle Bedrängnis stoisch ertragen haben. Es gebe aber auch „seelische Belastungen“ durch den Holocaust, sagt Palenker. Aber das will er nicht so hoch hängen. Andere Familien hätten auch gelitten im Krieg. „Sie müssen sich als Jude von dem Gedanken frei machen, sie seien etwas ganz Besonderes. Wir sind nicht das auserwählte Volk – auch nicht im Leiden“, sagt er. Es sei wichtig gewesen, dass er sich die Familiengeschichte zurückerobert habe – gegen das Schweigen der Eltern. Jetzt wisse er, dass auch er „richtige Wurzeln“ habe. Wurzeln, die tief in die Geschichte Berlins hinabreichen. „Damit geht es mir sehr gut.“
Auf dem Kurfürstendamm brüllten arabische Männer bei Anti-Israel-Demonstrationen kürzlich „Jude, Jude, feiges Schwein“. Ob er sich sicher fühle in Berlin? „Warum nicht?“, fragt Palenker zurück. Er müsse ja nicht mit Kippa auf die Straße gehen.
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