zum Hauptinhalt
Der Unfallort. Der Renault Clio wurde völlig zerstört. Schon vorher kam es an der Stelle zu schweren Unfällen.
© Maurizio Gambarini/dpa

Nach Unfall in Berlin-Mitte: Ein Leben in Trümmern

Vor einem Jahr starb die 21-jährige Fabien bei einem Verkehrsunfall. Ihre Eltern und andere Betroffene fühlen sich vom Staat völlig alleingelassen.

Das Polizeiauto soll mindestens Tempo 90 gefahren sein, als es an jenem Montagmittag vor einem Jahr in den Renault von Fabien Martini einschlug, auf der linken Spur der Grunerstraße schräg hinterm Roten Rathaus, wo auf dem Mittelstreifen Autos parken und regelmäßig auch Privatleute mit hohen Geschwindigkeiten geblitzt werden. Die 21-Jährige, die – nach unterschiedlichen Zeugenaussagen – gerade ein- oder ausparkte, war auf Behördentour, denn zwei Tage später wollte sie ihr Café nahe dem Checkpoint Charlie eröffnen.

„Da sollte ein kleiner Traum für sie in Erfüllung gehen“, erzählt ihre Mutter. Um 17.30 Uhr klingelten Polizisten und Seelsorger bei den Martinis, um ihnen zu sagen, dass ihre Tochter tot ist. Tags darauf habe die „Bild“-Zeitung vor der Tür gestanden; danach meldete das Blatt, dass Fabien wohl das Handy am Ohr hatte. Das Gerät sei nämlich im Fußraum gefunden worden. Dass das Auto eine Freisprecheinrichtung hatte, war ebenso wenig erwähnt wie das von der Wucht des Aufpralls abgerissene Rad, der fortgeschleuderte Scheinwerfer und die zerknitterten Kaugummidosen, die Fabiens Vater später im Innenraum des Wagens fand.

„Wir hatten kein Sparbuch angelegt für den Fall, dass ich mal mein Kind beerdigen muss“

Der mit einer falschen Unfallskizze komplettierte „Bild“-Bericht sowie ein Kondolenzschreiben des Innensenators waren die letzten öffentlichen Aufmerksamkeiten, die den Martinis zuteil wurden. Seitdem leben sie ihren Alptraum allein. Telefonierten Psychologen ab wegen einer Traumatherapie, verhandelten um deren Kosten, suchten sich einen Anwalt, weil Freunde ihnen dazu geraten hatten. Kratzten Geld für Fabiens Beerdigung zusammen.

„Wir hatten kein Sparbuch angelegt für den Fall, dass ich mal mein Kind beerdigen muss“, sagt die Mutter am Freitag im Büro des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) an der Yorckstraße. Fabiens Vater ist kurz an der frischen Luft. Dabei nimmt er schon Tabletten, morgens und abends, um die Tage und die Nächte zu überstehen. Sie müssen weiterleben, für ihren Sohn, der gerade Abi macht. „Er ist der Tapferste von uns“, sagt die Mutter.

Ein Jahr danach. Die Eltern von Fabien Martini wenden sich in ihrer Trauer und Wut jetzt an die Öffentlichkeit.
Ein Jahr danach. Die Eltern von Fabien Martini wenden sich in ihrer Trauer und Wut jetzt an die Öffentlichkeit.
© Stefan Jacobs

Gegen den Fahrer des Streifenwagens wird wegen fahrlässiger Tötung ermittelt

Die Eltern haben sich an Verbände wie den VCD, FUSS e.V. und Changing Cities gewandt, weil zu ihrer Trauer immer größere Wut kommt. Gegen den Fahrer des Streifenwagens – er war mit Sondersignal zu einem Raub unterwegs, der sich als Fehlalarm erweisen sollte – wird wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, aber es gibt noch immer keine Anklageschrift und auch sonst nichts, woran sich die Martinis festhalten könnten. Die Verbände fordern, dass das Land eine Ombudsstelle schafft, an die sich Betroffene nach schweren Unfällen wenden können.

Bei der Polizei heißt es auf Anfrage, man vermittle Angehörigen Kontakte zu psychologisch geschultem Betreuungspersonal, beteilige beispielsweise den Krisendienst und biete später Gespräche mit dem Verkehrsermittlungsdienst an, um das Unfallgeschehen aufzuarbeiten, was gut ankomme. Zum konkreten Fall äußert sich die Behörde allerdings nicht.

Der ADFC fordert eine staatliche Fürsorge für Schwerstverletzte

„Da gibt es tatsächlich nicht viel“, sagt Roland Weber, wenn man ihn auf das Thema Verkehrsunfälle anspricht. „Allein von der Größenordnung des Problems wäre eine strukturierte Nachsorge absolut gerechtfertigt“, sagt der Opferbeauftragte des Landes, der sich – ebenso wie der Weiße Ring – in erster Linie um Betroffene vorsätzlicher Gewalttaten kümmert. Die Zahl der Tötungsverbrechen ähnelt der der Verkehrstoten.

Susanne Grittner vom ADFC, die Kontakt zu vielen Betroffenen schwerer Radverkehrsunfälle hält, bestätigt das Betreuungsdefizit: So müsse die schwerstverletzte Tourenleiterin Beate Flanz sich regelmäßig mit der Versicherung des Lkw-Fahrers, der sie überfahren hatte, um Rechnungen streiten. „Gerade bei Schwerstverletzten halte ich eine staatliche Fürsorge oder Ombudsperson für dringend geboten“, sagt Grittner.

Die Eltern von Fabien wollen am Jahrestag des Unfalls zur Gedenkveranstaltung kommen

Julia Werner hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Man bekommt von keiner Stelle Hilfe und hat auch keine Anlaufstation, an die man sich wenden kann“, resümiert die Mutter des siebenjährigen Constantin, der im Juni 2018 auf dem Weg zur Schule bei Grün von einem abbiegenden Lkw überfahren wurde. „Es waren Familie und Freunde, die uns aufgefangen haben und es bis heute tun“, sagt die Spandauerin, die noch immer arbeitsunfähig ist.

Professionell und empathisch hätten sich nur die Polizisten am Unfallort verhalten. Ein von der Polizei gerufener Notfallseelsorger habe „wortlos mit hängendem Kopf in unserem Wohnzimmer gesessen“, während Angehörige die Schule und die Arbeitgeber informierten. In der Folgezeit seien es wiederum Angehörige gewesen, die Constantins Eltern zu psychologischer Hilfe rieten. Ohne Beziehungen hätte sie ein Jahr auf die Traumatherapie warten müssen, sagt Julia Werner.

Bei der 22-Jährigen Johanna, die im Juni in Charlottenburg von flüchtenden Dieben totgefahren wurde, wollen die Geschwister die Lücke füllen: Sie haben die gemeinnützige Firma „Lichterschatten“ gegründet, die Betroffenen die Hilfe geben soll, die sie sonst nicht bekommen. Und die Eltern von Fabien wollen am Jahrestag des Unfalls zur Gedenkveranstaltung kommen, die für den kommenden Dienstag um 17.30 Uhr in der Grunerstraße geplant ist. Auch wenn es schwer auszuhalten sein wird. Aber das gilt für ihr ganzes Leben seit jenem 29. Januar 2018.

Zwölf Newsletter, zwölf Bezirke: Unsere Leute-Newsletter aus allen Berliner Bezirken können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de

Zur Startseite