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Kluge Köpfe - ein Großteil der deutschen Elite sitzt in Berlin.
© DPA / Kay Nietfeld

Einfluss der Elite: Diesen 20 Berlinern hört Deutschland zu

Wer im Land die Debatten bestimmt, lässt sich messen. Auffällig viele der einflussreichsten Autoren, Wissenschaftler und Ökonomen leben in der Hauptstadt. Und es werden immer mehr.

Berlin ist hip, aber nicht nur für Hipster und Touristen. Berlin wird immer attraktiver für Deutschlands intellektuelle Elite. Keine andere Stadt übt auf sie eine größere Anziehungskraft aus. Welche andere Stadt außer Berlin hat das Zeug zu einem Schauplatz für einen Metropolenroman, wie ihn jüngst Leander Steinkopf mit „Stadt der Feen und Wünsche“ vorlegte? Der klagt zwar vornehmlich über Gentrifizierung und verranzte Weddinger U-Bahnhöfe, was aber zur Kulturkritik gehört wie das Crescendo asiatischer Rollkoffer zu Prenzlauer Berg.

In aller berlinuntypischen Bescheidenheit kann man feststellen: Die Stadt repräsentiert Deutschland nicht nur politisch, sondern auch geistig. Das liegt vor allem daran, dass Berlin seine Attraktivität für Denker, Autoren, Wissenschaftler in den vergangenen Jahren stetig vergrößert hat. Was die „New York Times“ eben erst für die internationale Kunstszene beobachtete – dass sie gern in Berlin arbeitet und lebt – gilt auch für die einheimischen Kulturschaffenden: Berlin erlebt einen kontinuierlichen Zuzug wichtiger deutscher Geistesgrößen. Sie haben ihren ständigen Wohnsitz entweder nach Berlin verlegt oder beziehen für spezielle kulturelle Aufgaben ein festes Quartier in der Hauptstadt.

30 von 100 einflussreichen deutschen Autoren leben in Berlin

Die Zahlen belegen es: 2006 ermittelte die Zeitschrift Cicero erstmals die 500 einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands. Schon damals war Berlin der mit Abstand wichtigste Wirkungsort. 146 der wichtigsten Denker gingen dort ihrer Arbeit nach. Als das Ranking jetzt, ein gutes Jahrzehnt später, wiederholt wurde, sind es bereits 178. Keine andere deutschsprachige Großstadt kommt an die Attraktivität Berlins heran. Mit großem Abstand folgt erst wieder München mit 58 Persönlichkeiten, die es ins Ranking schafften, dann Hamburg, Frankfurt am Main, Wien und Zürich.

Allein von den 100 einflussreichsten deutschen Autoren leben derzeit 30 ständig in Berlin, 2006 waren es nur 25. Zählt man diejenigen hinzu, die in der Hauptstadt ein Zweitquartier bezogen haben, weil sie hier einer längerdauernden Aufgabe nachgehen, sind es insgesamt 42 (2006: 28). Dazu gehören zum Beispiel Margot Käßmann, die aus Hannover kommend am Gendarmenmarkt ihr Büro als Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 aufschlug. Die Bayreuther Opernregisseurin Katharina Wagner, die seit 2010 an der „Hanns Eisler“ Musikhochschule lehrt. Und die Schriftsteller Daniel Kehlmann und Bernhard Schlink, die es immer wieder aus den USA nach Berlin zurückzieht.

Kulturschaffende hoffen auf größere Wirkung

Es liegt nahe, dass sich Kulturschaffende mit einem gesellschaftspolitischen Anliegen von Berlin eine größere Wirkung erhoffen, denn hier gehen die Politiker, Wirtschaftslobbyisten und Spitzenbeamten ins Theater, auf Symposien oder zu Lesungen. Hier trifft man sich in diversen Salons und in den unzähligen kulturellen Treffpunkten, wie den Akademien, Hochschulen und nicht zuletzt in den Redaktionen.

In Berlin ereignen sich auch die wichtigsten Debatten, in die man sich einmischen kann: Das Verhältnis von Kunstfreiheit und Sexismus entzündete sich kürzlich exemplarisch an einem Gomringer-Gedicht auf einer Hauswand in Berlin-Hellersdorf und der junge Berliner Schriftsteller Simon Strauß musste für eine Debatte über jungkonservative Zeitgeisttendenzen herhalten. Der richtige Umgang mit Deutschlands außereuropäischen Kunstsammlungen wird im Humboldt Forum verhandelt. Die Liste der politisch inspirierten Intellektuellen, die es in die Hauptstadt zog, ist lang: Unter anderem Jakob Augstein, Henryk Broder, Maxim Biller, Necla Kelek, Richard David Precht.

Aber was ist überhaupt ein Intellektueller? Jürgen Habermas definierte den Idealtypus einmal als Person, die „wichtige Themen aufspürt und gute Argumente in die öffentliche Diskussion einbringt“. Habermas rangiert derzeit auf Platz 6 des Cicero Rankings und entfaltete seine intellektuelle Wirkung von Frankfurt am Main aus, wo er Anfang der 70er Jahre zum führenden Kopf der „Frankfurter Schule“ aufstieg, Nachfolger des legendären Theodor Adorno. Weil Frankfurt damals auch die so genannte Suhrkamp Kultur beheimatete, lag das geistige Zentrum der alten Bundesrepublik eine Zeitlang am Main. Lang ist’s her. Der Suhrkamp Verlag zog 2010 ins Berliner Nicolai-Viertel und ist nun einer von mehr als 150 Verlagen in der Hauptstadt, nur noch New York City zählt mehr Verlagshäuser. Suhrkamp Chefin Ulla Unseld-Berkéwicz unterhält nun in ihrer Villa in Zehlendorf einen kulturellen Salon, nicht der einzige in Berlin.

Bewertet wird die Präsenz

Das Cicero-Ranking basiert auf der Präsenz von Intellektuellen in den 160 wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Diese werden über elektronische Datenbanken nach Referenzhäufigkeiten durchsucht. Zweitens werden Zitationen über die Suchmaschine Google ermittelt. Zudem wird in der wissenschaftlichen Literaturdatenbank Google Scholar recherchiert, wie häufig auf die einzelnen Personen Bezug genommen wird.

In einem letzten Schritt wird die Vernetzung der Intellektuellen anhand von Querverweisen im biografischen Archiv Munzinger festgestellt. Je wichtiger ein Denker ist, desto stärker haben sich andere mit ihm auseinandergesetzt. So wird auch der interne Einfluss eines Denkers im Milieu der Meinungsführer ermittelt. Der Platz im Ranking ergibt sich dann aus den (gewichteten) Trefferquoten. Politiker werden dabei nicht berücksichtigt. Ihr

Bekanntheitsbonus ist um ein Vielfaches größer, so dass sie alle anderen auf die hinteren Plätze verweisen. Auch die Journalisten, die zwar den Resonanzraum des Medienbetriebs bilden, nicht aber an die Agendasetting Power von Politikern heranreichen. Selbst der beste Kommentar eines Chefredakteurs erreicht nicht annähernd die Aufmerksamkeit eines Satzes wie zuletzt Seehofers „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten“. Spitzenpolitiker lösen Debatten aus, die Publizisten nur begleiten. Sie sind Talkshow-Dauergäste und verfügen darüber hinaus über Wahlkampf-Etats.

Das Ranking bildet die Deutungsmacht ab

Bewertet wurde deshalb nur die Präsenz in der Öffentlichkeit. Eine inhaltliche Bewertung der intellektuellen Qualität wurde, über die Definition „wesentlicher Beitrag in einer wichtigen öffentlichen Debatte“ hinaus, nicht ermittelt. Ein solches Bewertungsverfahren müsste nämlich objektiv entscheiden können, ob Wolfgang Huber ein besserer Theologe ist als Reinhard Marx oder ob Jakob Augstein ein besserer Publizist ist als Miriam Meckel oder Herta Müller eine bessere Schriftstellerin als Juli Zeh. Ein solches Verfahren gibt es nicht. Deshalb bildet das Ranking nur die öffentliche Deutungsmacht ab.

Der Streit darüber, wer in so eine Liste gehört und auf welchem Platz er stehen sollte, gibt es übrigens seit der Antike. Das erste Intellektuellen-Ranking schufen die alten Griechen mit der Liste der „sieben Weisen“. Doch schon Platon strich einen davon, weil er ihm politisch nicht passte und ersetzte ihn durch einen genehmeren. Beim Cicero-Ranking gibt es immerhin ein Messverfahren, das die Plätze zuweist. Wem etwa Thilo Sarrazin auf der einen oder Margot Käßmann auf der anderen Seite nicht passt, darf nicht das Ranking anklagen, sondern die gesamte deutsche Medienöffentlichkeit. An beiden reiben sich Publizisten wie Wissenschaftler seit langem

Leitmedien klopfen bei Intellektuellen an

Intellektuelle haben den größten geistigen Einfluss auf die Deutschen. Sie ordnen in Essays, Büchern, wissenschaftlichen Studien, Vorträgen und allen möglichen Diskursformen aktuelle Probleme ein – vom Brexit über das Gendersternchen bis zu den Konsequenzen der Künstlichen Intelligenz auf Wirtschaft und Gesellschaft. Herfried Münkler ist so ein Schwergewicht. Seit Jahrzehnten beteiligt sich der Politologe, der an der Humboldt-Uni lehrt, an vorderster Front an wichtigen Debatten – zuletzt an der Migrationsthematik mit „Die neuen Deutschen“.

Ähnlich Habermas mit dem Historikerstreit oder Alice Schwarzer mit ihren feministischen Feldzügen. Nur solchen Schwergewichten gelingt es, Themen auf die Agenda zu heben. Der Ökonom Hans-Werner Sinn schaffte es im Alleingang, die sperrigen „Targetsalden“ der Bundesbank in die Schlagzeilen und in den Bundestag zu bringen. Dabei geht es um offene Soll-Positionen säumiger südeuropäischer Euro-Staaten in dreistelliger Milliardenhöhe. Der Finanzminister hätte das Thema lieber totgeschwiegen.

Leitmedien wie der „Spiegel“, die „Tagesthemen“ und in der Hauptstadt der Tagesspiegel klopfen bei Intellektuellen an, wenn sie Stellungnahmen benötigen, um Ereignisse wie die Politik Donald Trumps oder die Bedeutung der Digitalisierung einzuordnen. Trotz hoher Bekanntheit schaffen es Fußballer, Schauspieler oder die B-Prominenz des Boulevard mangels Substanz nicht ins Ranking. Meist dominieren sie die Medien nur kurze Zeit. Günter Grass, der 2006 das Cicero Ranking anführte, beschwerte sich zwar schon damals über den Einfluss der „Talkshow-Größen“ und deren Oberflächlichkeit, „die heute den Ton angibt“. Der Realität hält diese Kritik allerdings nicht stand. Heidi Klum und die Dschungelkönige konkurrieren nicht wirklich mit den Interventionen von Grass, Sloterdijk oder Enzensberger.

Die Klage über den Niedergang des Intellektuellen ist ebenfalls so alt wie dieser selbst. Einer der maßgebenden deutschen Theologen, Wolfgang Huber (im Berliner Ranking auf Platz 2, deutschlandweit auf 11), vermisst in Berlin denn auch den „Tiefgang vieler Debatten“. Viele Themen fänden „nur selten die Resonanz, die sie brauchen, um Wirkung zu entfalten. Anregungen verfliegen, bevor sie Wurzeln schlagen konnten“. Dazu tragen die Intellektuellen allerdings einiges bei.

Sie sind selbst Beschleuniger eines Themenkarussells, das sich keine Kontemplation mehr gönnt. In den Buchhandlungen liegen Neuerscheinungen der Belletristik nur drei Monate im Regal, beim Sachbuch sind es sechs. Hat sich der Autor bis dahin nicht durchgesetzt, wird er durch einen anderen ersetzt. Die Verlage konzentrieren sich auf prominente Gesichter, PR Agenturen schieben sie in Talkshows, um den Verkauf zu beflügeln. So dreht sich das Karussell immer schneller mit ähnlicher Besetzung.

Neue Gruppe von Persönlichkeiten im Netz

Der Bedeutungsgewinn von sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter wirft neue Fragen auf. Zum Beispiel die, ob sich der eine große Denker in Zeiten einer in tausende Filterblasen fragmentierten Öffentlichkeit überhaupt noch durchsetzen kann. Und ob es im virtuellen Raum des Internets dann noch von Belang ist, ob er in Buxtehude sitzt oder Berlin.

Tatsächlich aber waren Intellektuelle nie so einflussreich wie heute. Das liegt daran, dass die Wirkungsmacht der Leitmedien zunimmt und nicht schrumpft, weil sie im Internet nicht etwa Konkurrenz sondern ihre Verlängerung und neue Zielgruppen finden. Addiert man die Online- und Printreichweite zusammen, dann erreichen die Leitmedien heute mehr Menschen denn je. Die Konzentration im Mediensektor verstärkt diesen Effekt. Die Leitmedien geben die Themen vor, und es sind die Intellektuellen, die die Ereignisse dann in Essays und Interviews interpretieren.

Auch die räumliche Nähe ist immer noch wichtig, trotz Smartphone und Easyjet. Eine Redaktion, einen Verlag, eine Akademie lassen sich (noch) nicht virtuell führen. Auch die berühmt-berüchtigten Seilschaften und Zitationskartelle brauchen die persönliche Vertrautheit. Als vor zwei Wochen 92 Drehbuchautoren ein kämpferisches Manifest veröffentlichten, trafen sie sich dazu natürlich persönlich – und selbstverständlich in Berlin. Erstmals bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts in Paris eine funktionierende, rasch mobilisierbare, intellektuelle Öffentlichkeit heraus, die sich auf Professoren, Verleger, Bühnen und Salons stützen konnte.

Sie verstand den Verstärkereffekt der Pariser Hauptstadtpresse für sich zu nutzen. Damals entstand in Frankreich der Begriff „Intellektueller“, der dort nie ein Schimpfwort war, im Unterschied zu Deutschland, wo Rechte wie Linke vor ihm warnten. Heute scheint, wie sich an den deutlichen Zuzügen der Top-Intellektuellen nach Berlin ablesen lässt, die räumliche Nähe zueinander ihre Anziehungskraft nicht eingebüßt zu haben.

Social Media ersetzt die Öffentlichkeit nicht

Mehr noch: Im Netz wächst eine ganze neue Gruppe von Persönlichkeiten heran, die Debatten beeinflussen und auch sie zieht es nach Berlin. Sasha Lobo ( Im Ranking auf Platz 138) begann im „Oberholz“ in Prenzlauer Berg seine Bloggerkarriere, Constanze Kurz (385) ist Original-Berlinerin und Markus Beckedahl (316) betreibt ebenfalls von Berlin aus die digitale Netz-Konferenz re:publica. Auffällig ist, dass Lobo, Kurz und auch der einflussreiche Stefan Niggemeier (123), ihre starke Social-Media-Präsenz dem Umstand verdanken, dass sie für Medien wie Spiegel-online oder FAZ schreiben.

Social Media ergänzt die Öffentlichkeit, ersetzt sie nicht. Zwar stärkt eine breite Social Media Präsenz den öffentlichen Einfluss. Der höchstumstrittene Thilo Sarrazin zum Beispiel ist im Internet massiv vertreten. Aber mit Facebook und Instagram allein lässt sich die nötige Aufmerksamkeit nicht erreichen. Medienscheue Schriftsteller wie Botho Strauß, der zurückgezogen in der Brandenburgischen Uckermark lebt, und auf ihre Art auch Peter Handke und Elfriede Jelinek kommen ganz ohne Twitter-Account und Talkshow-Präsenz aus und haben dennoch im Sinne des Rankings eine starke intellektuelle Bedeutung für die geistige Landschaft Deutschlands.

Um öffentlich gehört zu werden, braucht es Substanz und Ausdauer. Alle Top-Intellektuellen sind ungeheuer produktiv. Jahr für Jahr bringen sie verlässlich ihre Romane, Theaterstücke oder Bücher und Essays auf den Markt. Das Ranking misst die Zitationen jedes Intellektuellen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Dadurch werden Medienhypes geglättet, es gibt aber auch Newcomern eine Chance. Substanz meint hier essenzielle Meinungsstärke. Claus Peymann (deutschlandweit Platz 42), Götz Aly (86) und Michael Naumann (63) gehören sicherlich zum bundesdeutschen Mainstream, aber auf dem Weg dorthin haben sie den harten Schlagabtausch und eine klare Kante nicht gescheut.

Überalterung der intellektuellen Elite

Dasselbe gilt für Rüdiger Safranski (47), Harald Martenstein (87) und Henryk Broder (14), deren Haltung wohl seltener den Mainstream trifft. Thilo Sarrazin (5) verkörpert vielleicht am besten, was ein Meinungsführer heute mitbringen muss, um an die Spitze zu kommen. Der Ex-Bundesbanker publiziert im angesehenen Bertelsmann Verlag (DVA) kontinuierlich zu Themen wie Hartz IV, Euro-Krise, Meinungsfreiheit und Einwanderung, wo er wohl kalkulierte Provokationen setzt und die nachfolgenden Gewitter dann auch durchsteht. Entscheidend ist zudem die Sprache. Intellektuelle bringen es auf den Punkt. An ihrer mangelnden Sprachkompetenz scheitern übrigens die Naturwissenschaftler, die im Ranking am schlechtesten abschneiden. Nur wenigen gelingt es, komplexe Sachverhalte verständlich auszudrücken.

Die Kehrseite der Kontinuität ist die starke Überalterung der intellektuellen Elite. Das Durchschnittsalter der Top 100 liegt über 65 Jahren. Selten, dass die Jungen an den Privilegien der Alten sägen. Die 68er trauten „keinem über 30“, selbst den alten Adorno scheuchten sie aus dem Hörsaal. Das ist jetzt ein halbes Jahrhundert her. Die Beißhemmung der heute Jungen zementiert die geistige Herrschaft der Alten – und die der Männer, muss hinzugefügt werden. Die Präsenz der Frauen unter den Top 500 Intellektuellen ist mit 14 Prozent schwach. Das Ranking dokumentiert die Verhältnisse der Medienöffentlichkeit schonungslos. Die wenigen Alpha-Frauen zeigen aber über alle Gegensätze hinweg eine Gemeinsamkeit: Sie haben keine Angst vor Autoritäten.

Schwarzer rüttelte früh an den Grundfesten des Patriarchats und ist heute mit 76 immer noch die Galionsfigur der Frauenbewegung. Jelinek liefert dem Kulturbetrieb verlässlich neue Provokationen. Käßmann steht Skandale durch und die Autorin Juli Zeh bringt eine Charta der Digitalen Grundrechte auf die Beine. Die Erfahrung zeigt, dass die männlichen Alpha-Tiere ihre Positionen nicht freiwillig räumen, weder gegenüber den Jungen noch gegenüber den Frauen. Der Kampf um die Währung Aufmerksamkeit wird über Provokationen ausgetragen, zu denen man Mut braucht. Necla Kelek und Monika Maron zeigen, dass sie in der Lage sind, das Visier herunter zu klappen, wenn es sein muss.

Berlin verspricht Einfluss

Von der Provinz aus Agendasetting zu betreiben, ist naturgemäß schwerer als in einer Großstadt. Berlin verspricht Einfluss. „Bonn ist sehr, sehr schön – bin aber lieber in Berlin“ schrieb vor 200 Jahren Georg Friedrich Hegel an seine Frau. Klar, Hegel avancierte damals in Berlin zum Starphilosophen Deutschlands, stirbt dort allerdings mit 61 an der Cholera, was Kulturkritiker wie Steinkopf vielleicht etwas mit den aktuellen hygienischen Zuständen versöhnen mag, wo die Rattenplage noch keine derartigen Folgen zeitigt. Heute sind es Starprofessoren wie Herfried Münkler und Marcel Fratzscher, Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die im Kanzleramt ein- und ausgehen. Fratzscher wohnt im Scheunenviertel, Münkler hat es von der Humboldt Uni Unter den Linden aus nicht weit. Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, kam 1994 aus Heidelberg als Bischof nach Berlin. Ihm wurde damals „eine Dienstwohnung in Zehlendorf zugewiesen“, wie er berichtet.

Die wenigsten der 100 Top-Intellektuellen sind wie Frank Castorf oder Monika Maron in Berlin geboren. Die allermeisten sind Zugezogene. Das war früher allerdings auch nicht anders. Kurt Tucholsky stammte zwar aus Moabit, aber so prägende Gestalten wie Bert Brecht oder Alfred Döblin kamen aus der Provinz, der eine aus Augsburg, der andere aus Stettin. Claus Peymann, der das Berliner Ensemble bis vor kurzem leitete, kommt aus Bremen und wohnt jetzt in Köpenick. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wuchs in Rumänien auf und schreibt nun in Friedenau.

Innige Kiezverbundenheit

Fragt man die Zugezogenen, ob sie sich in Berlin wohl fühlen, kommt eine innige Kiezverbundenheit zum Vorschein. Der Philosoph Rüdiger Safranski wohnt in Wilmersdorf in der Nähe des beschaulichen oberen Kudamms: „Ich genieße dort das verlangsamende lebensweltliche Gegengewicht zu einem sich unablässig verändernden Berlin.“ Auch der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hängt an Wilmersdorf, „weil meine Frau schon in den 1960er Jahren in diesem Kiez gewohnt hat.“ Die renommierte Umweltökonomin Claudia Kemfert schätzt ihren Kiez in Steglitz, wo sie nah am Stadtpark wohnt: „Steglitz bietet alles was man braucht und was schützenswert ist: Natur, Grünfläche, Ruhe und ausgedehnte Lauf-und Radfahrstrecken.“

Nicht überraschend ist denn auch, dass die Kulturelite an Berlin vor allem das kulturelle Leben schätzt: tolle Ausstellungen, Musik, Theater, dazu die Offenheit und Kreativität, „die der Stadt ständig ein sich verändertes Gesicht gibt“, wie sich Marcel Fratscher ausdrückt. Da geraten die meisten ins Schwärmen. Man kann es auch prägnanter sagen, wie Wolf Lepenies, der in Lichterfelde wohnende Soziologe und frühere Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs: „Ich schätze Vielfalt und Qualität, und vermisse nichts.“

Doch es gibt auch weniger warmherzige Gründe, Gefallen an Berlin zu finden. Der Schriftsteller und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach machte im ländlichen St. Blasien Abitur, heute lebt er in Charlottenburg und beschreibt seine Berlin Obsession so: „Berlin ist wie der Mensch, der alles ist: Er komponiert den Tristan und fliegt ins Weltall, er tötet seine Geliebte und beginnt einen Krieg.“ Das ist der Blick eines Dramatikers, dessen Themen um Verbrechen und Strafe kreisen. Goethe gefiel es übrigens eben deshalb in „diesem neuen Babylon“ nicht so gut, als er im Mai 1778 Quartier Unter den Linden 23 im L’Hôtel au Soleil d’Or bezog und feststellte, „dass es jetzo in ganz Europa kein so gottloser Ort“ zu finden sei. Goethes zeitlosem Fazit über Berlin werden sich aber vermutlich die meisten Intellektuellen anschließen: „Wer einmal darin steckt, mag schwimmen und waten wie es gehen will.“ Die Stadt lässt einen nicht los.

Warum man heute in Berlin leben muss, erklärt Ferdinand von Schirach in seinem Gastbeitrag.

Die Platzierungen der 20 wichtigsten Berliner im Bundesvergleich: Sarrazin (4), Huber (11), Münkler (13), Broder (14), Müller (20), Winkler (24), Goetz (32), Ulrich (35), Peymann (42), Safranski (47), Stuckrad-Barre (49), Augstein (50), Schwan (53), von Schirach (54), Döpfner (57), Schneider (58), Hochhuth (60), Naumann (63), Frazscher (64), Brumlik (66).

Max Höfer

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