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Kehlmann
© Ulf Andersen/Gamma/Eyedea Presse/laif

Daniel Kehlmann: Wirklichkeit ist auch nur ein Wort

Zauberer im literarischen Spiegelkabinett: Daniel Kehlmann spinnt in seinem Episodenroman "Ruhm" geschickt ein Motiv ins andere hinein.

Um Himmelswillen, möchte man nach den ersten Geschichten ausrufen, wie kann einer nur noch einmal die ganze postmoderne Spielzeugkiste ausschütten. Muss ein Erzähler sich und seinen Figuren tatsächlich so hemmungslos in die Parade fahren, um den Illusionscharakter der eigenen Kunst zu betonen? Auch wer am Ende der virtuosen Glätte misstraut, mit der Daniel Kehlmann die neun Episoden seines heute erscheinenden Romans „Ruhm“ verkettet, müsste immerhin zugeben, dass sich große Teile der deutschen Literatur gerne über die postmoderne Erschütterung ihrer fiktionalen Selbstgewissheit hinwegmogeln.

Nach dem internationalen Triumph seiner historischen Fantasie „Die Vermessung der Welt“ über eine Begegnung zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß stürzt er sich nun mit einer Vehemenz in die Spiegelkabinette des Metafiktionalen, als wollte er mit einigen Jahrzehnten Verspätung beweisen, dass der Weg auch für die deutsche Literatur aus den Labors der Avantgarde direkt auf die Bestsellerlisten führen kann. Man muss nur an Italo Calvinos Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ (1979) denken, der Experiment und Popularität perfekt vereinte, was man nicht von allem behaupten kann, das sich aus den Festen der Intertextualität entwickelte, die Julia Kristeva und ihre Freunde bei der Pariser Zeitschrift „Tel Quel“ in den sechziger Jahren mit allen Exzessen und Wirklichkeitsverneinungsräuschen feierten. Vor allem in Frankreich gibt es heute auch metafiktionale Konfektionsware.

Doch wie trügerisch ist die simple Alternative von gebrochener und ungebrochener Fiktion. Was würde eine realistische Literatur taugen, die sich nicht stillschweigend ihrer Künstlichkeit bewusst wäre. Als Verehrer der Möbiusschleifen von Jorge Luis Borges und Kenner der amerikanischen Postmoderne zwischen John Barth und Thomas Pynchon weiß Kehlmann jedenfalls genau, dass er mit „Ruhm“ keine neue Form erfunden hat. Die Verfahren, mit denen er spielt, haben denn auch Höheres im Sinn: eine zeitgemäße Dramatisierung des alten Wunsches, ein anderer zu werden. Eine Gegenwartsdiagnose von fast anthropologischer Dimension, die in der Dauerpräsenz des Handys, in den Chatrooms und Videoportalen des Internets grundsätzlich neue Geschichten angelegt sieht. Und etwas unvermutet Archaisches.

Die Geschichte „Rosalie geht sterben“ zum Beispiel wird als ein Werk des Schriftstellers Leo Richter gekennzeichnet. Rosalie, eine Frau von Mitte siebzig, erfährt, dass sie unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist und beschließt, dem angekündigten Tod die Arbeit nicht allein zu überlassen. Sie will ihrem Leben in einem Schweizer Sterbehilfezentrum mit einem Glas Natrium-Pentobarbital selbst ein Ende setzen – bis sie mit ihrem Schöpfer Leo Richter ein Gespräch darüber beginnt, ob es für sie als Kunstfigur nicht doch Rettung geben könne. Er aber besteht darauf, dass sie eigens zum Zweck des Sterbens geschaffen worden sei.

Man mag in der Doppelbödigkeit, der sich Kehlmann nicht nur hier verschrieben hat – einerseits treibt er die Erzählung voran, andererseits stellt er sie in Frage – ein Problem sehen, das Schriftsteller besser mit sich selber ausmachen, bevor sie den Leser damit traktieren. Doch Lebensbejahung hin, Lebensverneinung her, Leo klärt Rosalie über den Charakter ihrer Geschichte mit den Worten auf: „Wenn überhaupt, dann ist es eine theologische.“ Hofft nicht jeder, dass ihm, da er offensichtlich nicht der alleinige Herr über sein Schicksal ist, notfalls Gnade widerfährt? Der Verlauf der eigenen Geschichte steht eben nicht fest, sobald ein persönlicher Schöpfer beteiligt ist, der bei Bedarf alle genetischen, kulturellen und sozialen Codierungen korrigiert. Auch wenn es gute Gründe gibt, diese Gottesidee für Unfug zu halten – die Literatur spielt ihr demiurgisches Spiel von Beginn an mit Begeisterung. Man kann nicht oft genug erklären, dass schon bei Miguel de Cervantes das Metafiktionale blühte, dass Laurence Sterne es ausufern ließ, doch dass es vielleicht erst im 20. Jahrhundert, beflügelt von sprachanalytischer Philosophie und dem konstruktivistischen Glauben an das Gemachte jeder Realitätswahrnehmung, zu sich gekommen ist.

Im letzten Frühjahr hat Kehlmann in der „Zeit“ eine bewundernde Rezension über das „Tagebuch eines schlimmen Jahres“, den jüngsten Roman von J. M. Coetzee, veröffentlicht. Darin beschäftigt er sich auch mit der irritierendsten Figur des südafrikanischen Nobelpreisträgers, der Schriftstellerin Elizabeth Costello, die dem Personal von Coetzees Roman „Zeitlupe“ metafiktional dazwischenfunkt. „Rosalie geht sterben“ liest sich wie eine Variation auf diese Lektüre, in der die Gabe des Erfindens doppelt und dreifach zum Überlebensmittel wird.

Einen Verweis auf die Rosalie-Geschichte liefert bereits die zweiteilige Episode „In Gefahr“. In der Auseinandersetzung zwischen dem Schriftsteller Leo Richter und seiner Freundin Elisabeth, einer Ärztin, die für Médecins sans Frontières in Kriegsgebiete reist, treibt sie den Kampf zwischen Wirklichkeitserfahrung, Sehnsucht nach ihr und Leben in der Fiktion auf eine paradoxe Spitze. Die tendenziell unendliche Vertauschung der Ebenen trägt nur die Gefahr in sich, jedes Realitätsprinzip über Bord zu werfen: Auf der Einrichtung von Wirklichkeiten erster, zweiter und dritter Ordnung beruht schließlich die Möglichkeit, sinnvoll mit ihnen zu spielen – zumal Kehlmann existenzielle Fragen stellt.

Auch deshalb gewinnt man den Eindruck, dass anders als bei Coetzee manchmal nur ein Zauberer mit Taschenspielertricks am Werk ist. Das Geschick, mit dem er in einer Geschichte ein Motiv andeutet, um es in der nächsten aus einer ganz anderen Perspektive auszuspinnen, hat eine staunenswerte Leichtigkeit und zeugt von einer ironischen Intelligenz, bei der die meisten seiner deutschen Altersgenossen nicht mithalten können.

Der Computerexperte, der versehentlich die Handynummer eines Filmstars zugeteilt bekommt und gewissermaßen per Fernbedienung dessen Leben durcheinander wirbelt. Der Filmstar, der sich als sein eigener Imitator betätigt und tatsächlich in die Rolle des Doubles hinüberwechselt. Der Blogger, der davon träumt, Gegenstand eines Stücks Literatur zu werden. Der Ehemann, der per SMS und Mail eine Doppelexistenz mit Geliebter organisiert und untergeht. Der Kitschromancier Miguel Auristos Blancos, eine Karikatur von Paulo Coelho, der sich als pechschwarzer Zyniker ausprobiert. Sie alle wollen, entfremdet, wie sie sich selbst sind, heraus aus ihrem Leben. Der Bedeutende will unbedeutend werden – und der Unbedeutende bedeutend.

Die entschieden schwächste Seite dieses Buches ist es, diesen Wunsch an die kommunikationstechnologische Revolution unserer Zeit zu koppeln. Es gibt keine einzige Episode, die sich ihrer Substanz nach nicht in die guten alten Virtualitätsformen des Tagtraums, des Briefs und des Wählscheibentelefons zurückübersetzen ließe – und das Fantastische, das sich etwa im unvermittelten Auftauchen eines Rätselmanns mit Schirmmütze Bahn bricht, hat etwas zutiefst Romantisches. Selbst das denglische Blogger-Kauderwelsch, in dem ein Muttersöhnchen gegen sein Angestelltenelend aufbegehrt, gehört allenfalls in die Kategorie neuer Jargon, nicht neue Seelennöte, und Kelhmanns parodistisch hochgetunte Kunstsprache passt so gar nicht zur Verdruckstheit seines Protagonisten.

Überhaupt die Sprache. Kehlmann ist weder Kleist noch Thomas Mann, in deren Namen er Preise erhalten hat. Die schmucklose Lässigkeit – und manchmal klischeegebeutelte Nachlässigkeit – seiner Prosa im allgemeinen bildet aber einen angenehmen Kontrast zu den Verwicklungen der Episoden. Auch das verhilft „Ruhm“ zu einer widerstandslosen Lesbarkeit, die durch die Metafiktionalität selbst kaum herausgefordert wird. Man atmet in Werbung, Kino und Feuilleton doch längst wie selbstverständlich die Luft des Selbstreferenziellen – von „Und täglich grüßt das Murmeltier“ über die „Truman Show“ bis zu Fernsehserien wie „Boston Legal“.

„Ruhm“ will ein Buch ohne Mitte sein: ein Kaleidoskop, das man in jeder beliebigen Richtung lesen kann. Es hat nur den Schönheitsfehler, dass es doch eine interne Dramaturgie mit zuweilen überdeutlichem Verweischarakter besitzt, wie die zweite Lektüre enthüllt. Wie man dieses Kaleidoskop aber dreht und wendet: Mit „Ruhm“ hat sich Kehlmann noch weiter in die Mitte der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben – raffiniert genug, um erfahrene Leser für sich einzunehmen, und eingängig genug, um weniger Erfahrene in Bann zu schlagen. Niemand soll so tun, als hätten wir einen solchen Schriftsteller nicht lange vermisst.

Daniel Kehlmann: Ruhm.
Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt, Reinbek 2009. 203 S., 18,90 €. Ungekürzte Hörfassung, gelesen von Ulrich Matthes und Nina Hoss. 4 CDs, Deutsche Grammophon, 24,99 €.

Daniel Kehlmann, Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund.
Ein Gespräch. Matthes & Seitz, Berlin 2008. 130 Seiten, 12,80 €. – Die Buchpremiere im Berliner Ensemble am Montag ist ausverkauft. Am 23. 1. ist der Autor um 20 Uhr zu Gast im Literarischen Colloquium Berlin.

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