Hipster und Spießer: Irgendwo zwischen ewiger Jugend und Biedermeier
Jeder kennt Hipster, doch niemand will einer sein. Dabei verweist er auf eine lange Tradition: Vom Spießer bis zum "destruktiven Charakter" Walter Benjamins. Eine Kulturgeschichte des Phänomens.
Als Walter Benjamin 1931 den kurzen, enigmatischen Text „Der destruktive Charakter“ verfasste, war die Geste des Zerstörens noch grundsätzlich positiv besetzbar. Der destruktive Charakter, schreib Benjamin, sei der „Feind des Etui-Menschen“, „jung und heiter“, „immer frisch bei der Arbeit“. Zwar schließt die Vignette mit den düsteren Worten, der destruktive Charakter lebe nicht mit dem Gefühl, dass das Leben lebenswert sei, sondern weil der Selbstmord die Mühe nicht lohne. Dennoch lässt der Text keinen Zweifel daran, dass es sich beim Werk des destruktiven Charakters um ein eminent schöpferisches handelt, insofern es im Moment einer Krise, dem Ende der Weimarer Republik, Platz für etwas noch nie Dagewesenes schafft.
Heute ist diese Haltung, die noch vom Versprechen der Avantgarden zehrte, anachronistisch geworden. Das Pathos des Neuen hat sich verbraucht, weil zyklisch etwas anderes an die Stelle des jeweils Jüngsten tritt und kaum jemand mehr Schritt halten kann mit den Trends und Moden der Kulturindustrie. Auch ist in Anbetracht der Geschichte, die schon Benjamin nur noch als „Katastrophe“ deuten konnte, Misstrauen gegenüber dem politischen Ruf nach Tabula rasa angebracht. Geeignet ist Benjamins Text jedoch für eine Annäherung an jene Charaktere, die die Gesellschaft selbst als destruktive brandmarkt. Denn diese Feindbilder verraten etwas über diejenigen, die sie in Anschlag bringen. Sie ermöglichen einen Blick auf das, was als bedroht imaginiert wird, sie verraten Sehnsüchte und Ängste, die besonders dann sichtbar werden, wenn sie sich gleichsam gespiegelt an einem Gegenüber entzünden.
Der Hipster konterkariert den Spießer - und nähert sich ihm an
Dies gilt schon für eine der traditionsreichsten Figuren aus dem Repertoire destruktiver Charaktere, den Spießer. Sein Name – heute ein Synonym für Engstirnigkeit, Kleingeist und Hinterwäldlertum – entstammt dem Mittelalter und bezeichnet jene ärmeren Schichten, die ihre Stadt mit einem bloßen Spieß verteidigten. Zur politischen Negativfolie, literarisch unter anderem von Honoré de Balzac und Ödön von Horváth verarbeitet, wurde der Spießer allerdings im 19. Jahrhundert. Es war nicht zufällig das Zeitalter des Fortschritts, dem all das verdächtig werden musste, was sich nicht dem scheinbar unaufhaltsamen Zug der Zeit in Richtung Zukunft anschließen mochte, egal ob deren Motor die Wissenschaft oder die Arbeiterklasse sein sollte.
Der Entstehung wie der Wahrnehmung nach war der Spießer mit dem Kleinbürgertum verbunden und symbolisiert die für Deutschland folgenreiche Spaltung des Bürgertums in ein tendenziell liberales Hoch- und Bildungsbürgertum und ein spätestens nach 1848 offen reaktionäres, dem traditionellen Handwerk und dem Kleinhandel verbundenes Kleinbürgertum. Der Spießer – das ist die bis in die Gegenwart fortlebende Figur, die vor allem zeigt, wo sich derjenige verortet, der ihn denunziert: ganz vorne, der Zukunft und dem Fortschritt zugewandt. Denn wer möchte schon zurückbleiben, gar als „unmodern“ gelten und sich dem bemitleidenden Lächeln der ewig morgigen Zeitgenossen aussetzen?
Der Hipster ist die marktkonforme Version des Hippies und gleichzeitig die szenekonforme Version des Spießers.
schreibt NutzerIn ralf.schrader
Entlastung vom Zeitgeist
Der Spießer oder der, den man dafür hält, entlastet von der Reflexion darauf, warum es dem Zeitgeist entspricht, immer einen Schritt weiter zu sein und dispensiert von der Frage, was aus welchen Gründen vielleicht verteidigt oder bewahrt werden sollte.
Zeitgenössische Beispiele vermeintlich destruktiver Charaktere, also geteilter und gepflegter Feindbilder, sind zahlreich. Auf Englisch nennt man den Spießer „square“, was zugleich Viereck oder Kästchen bedeuten kann. Benjamin hatte seinem destruktiven Charakter noch lobend attestiert, er sei ein „Feind des Etui-Menschen“.
In der heute sowohl an Universitäten als auch im Internet verbreiteten Forderung nach „Triggerwarnungen“, einem vorgeschalteten Hinweis auf möglicherweise verstörende Darstellungen von Gewalt, Sex oder Nacktheit kehrt sich Benjamins Etui-Metapher um. Als Schutzhülle und Panzer wird das Etui ersehnt statt abgelehnt, das Destruktive lauert in der Außenwelt. Ganz ähnlich eines solchen Schutzraums imaginiert man auch zunehmend die eigene Umgebung. Noch vor nicht allzu langer Zeit mobilisierte man in Berliner Szenekiezen gegen den wohl größten Wirtschaftsfaktor der Stadt, die Touristen – zumeist durch schlechte Graffiti und handgezeichnete Warnschilder in Kneipenfenstern. Und dann ist da noch eine kurz nach der Jahrtausendwende in den USA entdeckte Figur, in der sich nachgerade alle Entwicklungstendenzen der postmodernen Gesellschaft verdichteten und über deren Designierung als „destruktive Charaktere“ man sich flächenübergreifend einig war: der Hipster.
Jeder kennt ihn, keiner möchte es sein
Wie der Spießer war und ist der Hipster ein Phänomen, das jeder kennt und das doch keiner sein möchte. Angesiedelt in der Grauzone zwischen 16 und 40 – und damit Zeichen einer sich immer mehr verlängernden Adoleszenz – war der Hipster der prototypische Bewohner der Szeneviertel von Berlin bis New York; ausgestattet mit Röhrenjeans, Jutebeutel und Ray-Ban-Brille, vollbärtig und mit einem T-Shirt eines amerikanischen Provinzcolleges oder anderen Accessoires im „Retro“- oder „Vintage“-Look, das iPhone mit Instagram und Sepia-Filter im Anschlag, im Café vor einem Latte Macchiato und einem MacBook sitzend. So stellte man sich den (zumeist männlichen) Hipster vor.
Wohlgesonnen war man ihm nicht. Er galt als besserwisserisch, geschmäcklerisch und immer informiert, sei es über die neueste Band oder die angesagteste Party. Oberflächlichkeit und verkrampfter Individualismus wurden ihm attestiert und auch wenn er sich immer an den Rändern von Kunst und Kultur aufhielt, als „echten“ Künstler betrachtete man ihn nie. Zuweilen verband sich Hipster-Hass mit der Abneigung gegen Touristen, Zugezogene, kurz: Fremde. Auch heute noch zieren Neuköllner Wände Graffiti mit markigen Slogans wie „Hipster boxen“ und ausgewählte Kneipen werden von szenekundigen Bewohnern als „Hipster-Bars“ abqualifiziert.
Bemerkenswert und weit mehr als ein Modephänomen wird der Hipster, wenn man in Betracht zieht, wofür die jeweiligen Eigenschaften eigentlich stehen, was in ihnen zum Ausdruck kommt und warum sie ein derartiges Ressentiment auf sich ziehen. Dann stellt sich die Abneigung gegen den vermeintlich übertriebenen Individualismus schnell als Ausdruck der Angst heraus, heutzutage überhaupt noch „jemand“ sein zu können. Denn egal in welchem Bereich, so zwingt doch die allgemeine Konkurrenz immer mehr die Ahnung auf, dass es auf einen selbst gerade nicht ankommt und vielmehr alle gleichermaßen vom Scheitern und vom gesellschaftlichen Abstieg bedroht sind.
Der Hipster als Negativfolie
Während es sich für die Generation der Babyboomer noch lohnte, auf Bildung und kulturelles Geheimwissen zu setzen, sind heute weder eine geisteswissenschaftliche Promotion noch das Ehrenamt im Theaterclub ein Garant für ein Auskommen im porösen Bildungs- und Kulturbetrieb. So arbeitete auch der Hipster nicht deswegen im Szenecafé, weil es „cool“ war, sondern weil er in Zeiten erzwungenen Freelancertums weder ein Büro hatte noch sich eines leisten konnte – ein Zustand, den findige, neoliberale Jungunternehmer wie Sascha Lobo und Holm Friebe 2006 in „Wir nennen es Arbeit“ zum Modell der Zukunft vergoldeten.
Obgleich sich die Phänomenologie des Hipsters ändert, hält er sich als abrufbare Negativfolie beharrlich. Dabei verkehrt er die Rolle, die früher dem Spießer zukam, wie er sich ihm zugleich ästhetisch annähert. Einerseits neidet man dem Hipster, dass er immer einen Schritt voraus ist und damit andere zwangsläufig in die Rolle des Spießbürgers versetzt, die man in der Verteidigung des Kiezes gegen die Fremden auch gerne einnimmt. Andererseits nutzen jüngere, vermeintlich von Hipstern frequentierte Kneipen immer mehr die Bilderwelt von Spießigkeit und Biedermeier.
Ihr Interieur – verblasste Stoffsessel an Nierentischen, an der Wand Jagdtrophäen und „Heimatbilder“ – wirkt nicht selten wie das Wohnzimmer der Großeltern, aus dem man einst nicht schnell genug herauskommen konnte. Wo es das Bild einer Zukunft, vielleicht gar einer besseren, kaum noch gibt, bleibt der Gegenwart nur noch eine Quelle übrig, aus der sie schöpfen kann: die Vergangenheit.
Der Autor ist Philosoph und derzeit Fellow am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Gemeinsam mit Chris W. Wilpert hat er kürzlich einen Sammelband zum Thema herausgegeben: Destruktive Charaktere. Hipster und andere Krisenphänomene (Ventil Verlag, Mainz 2017, 144 Seiten, 14 Euro).
Robert Zwarg