Alice Schwarzer und "Der kleine Unterschied": Wir da unten, ihr da oben
Vor 40 Jahren veröffentlichte Alice Schwarzer ihr Buch „Der kleine Unterschied“: Erstmals erzählten Frauen in der Bundesrepublik von ihrem Alltag und ihrer sexuellen Unterdrückung. Es löste eine große Debatte aus – wie auch andere emanzipatorische Werke jener Zeit.
Was war geschehen? Nicht viel. Eine Journalistin hatte Frauen dazu interviewt, wie es ihnen so ergeht, als Frauen. Daraus hatte sie ein Buch gemacht, weiter nichts. Doch ein Sturm aus Wut und Abscheu brach los, Schimpftiraden wurden gegen die „frustrierte Tucke“ geschleudert, die „andere frustrierte Tucken“ schamlos ausgefragt habe, um dieses Machwerk zu verfassen. So das Urteil in der „Süddeutschen Zeitung“. „Wie eine Hexe im bösen Märchen“ blicke die Autorin durch ihre Brillengläser, erschauderte „Bild“. Und der „Spiegel“ warnte vor dem „aggressivem Intellekt“ der Verfasserin, einer Frau mit „beunruhigendem Männerverstand“.
Hildegard, Sonja, Renate: Schwarzer interviewte 17 deutsche Frauen für das Buch
Das Buch hieß „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Frauen über sich – Beginn einer Befreiung“. Verfasst hatte es Alice Schwarzer, erschienen ist es vor 40 Jahren, im August 1975 beim S. Fischer Verlag. Dort rieb man sich ob der massenhaften Nachfrage die Augen und druckte rasch neue Auflagen. Inzwischen ist das meistzitierte Werk der Feministin und Publizistin Schwarzer in zwölf Sprachen übersetzt, der „Kleine Unterschied“ hatte großen Erfolg.
17 deutsche Frauen interviewte Schwarzer für das Buch, Ehefrauen, Hausfrauen, Verkäuferinnen, Studentinnen, Akademikerinnen mit Namen wie Annegret, Sonja, Hildegard oder Renate. Sie sprachen über die banalsten Dinge: Hausarbeit, Ehe, Freundinnen, Kinder, Probleme im Bett, Probleme bei der Arbeit, Sorgen ums Geld, die Figur, den Selbstwert. Mehrere Verlage hatten das Manuskript abgelehnt. Wer würde so etwas lesen wollen, hatten sie gefragt.
Hunderttausende Frauen wollten so etwas lesen. Sie fanden sich in den Protagonistinnen wieder, in all dem Alltäglichen, das zuvor kaum je zur Sprache gekommen war: weibliche Ängste, Abhängigkeiten von Männern, sexueller Erwartungsdruck. Zutage trat ein enormer Mangel an Wissen über Physis und Psyche beider Geschlechter sowie ein Mangel an Rechts- und Unrechtsbewusstsein.
Rita, Mitte 30, war mit einem Intellektuellen verheiratet, für den sie Manuskripte abtippte. „Meine Schreibmaschine stand mit auf dem Schreibtisch meines Mannes, da hatte ich eine Ecke für mich“, gab sie zu Protokoll. Nach Lohn habe sie nie gefragt, denn „er war wirklich großzügig, hat mich in schicke Kleider gesteckt, in teure Schuhe.“
Es ging auch um sexuelle Unterdrückung und Gewalt in der Ehe
Gitta, 32, geschieden, Stenotypistin, erzählt aus ihrer Ehe: „Einmal hat er zu mir gesagt, ich weiß gar nicht, wozu ich dir noch Geld gebe – meinen Kaffee koch ich allein und schlafen tun wir auch nicht mehr zusammen.“ Die 21-jährige Studentin Verena klagte, sie habe Liebe mit Sexualität verwechselt. „Außerdem fühle ich mich bei der Penetration so als Objekt. Ich tu’ ja nichts dazu.“
Annegret, Anfang 50, Hausfrau, erinnerte sich daran, wie sie als Tochter nach dem Jubel des Vaters über die Geburt des Bruders bemerkte, dass sie „eigentlich niemand war“. Aufs Gymnasium durfte sie nicht, sie musste heiraten. Geschlechtsverkehr verursachte ihr „wahnsinnige Schmerzen“, sie sei „unten ein bisschen eng“, fürchtete sie. Schwarzer ergänzte jedes Protokoll mit Diagnosen. Viele der Frauen, schrieb sie, hielten sich für „zu eng gebaut“, in Wahrheit verkrampften sie sich aus Angst und Abwehr, was von Männern brutal ignoriert wird, und viele täuschten vaginale Orgasmen vor. Sexualität, bemerkte sie, war meistens das Hauptthema der Frauen.
Nur beim Thema Gewalt gegen Kinder schaute auch Schwarzers Buch weg
Doch auch Aufbrüche waren schon damals erkennbar. In Müttergenesungsheimen gab es Gesprächsrunden, frühe Frauengruppen formierten sich, Frauenhäuser und eine ganze Subkultur produktiver Projekte, entstanden, teils mit biologistischen, esoterischen Verirrungen. Davon allerdings war und ist Alice Schwarzer, im tiefsten Herzen Politikerin, weit entfernt.
Mehr als Frauen zuzuhören, hatte es nicht gebraucht, um ein soziales Notstandsgebiet der Geschlechter auszumachen. In theoretischen Schlusskapiteln des Buches prangerte Schwarzer wortmächtig den „Geschlechterdrill“ an, die „Betthierarchien“, den „Terror herrschender Normen“: Das war das Dynamit im „Kleinen Unterschied“. Der Feminismus schien darauf hinauszulaufen, dass Frauen erotische Dienste verweigern würden. Wurde ihnen hier nicht eingeredet, der klassiche, normale Koitus sei Teil einer Machtstruktur und Frauen fänden womöglich mehr Befriedigung in lesbischen Beziehungen?
Nein, sie sei immer schon „gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen“ gewesen, erklärte Schwarzer oft. Wachrütteln sollte ihr Buch, den Sinn für Geschlechter-Gerechtigkeit schärfen. Tatsächlich trug es wohl entscheidend dazu bei, dass die Frauenbewegung als eine der Kulturrevolutionen des Westens Deutschlands Mainstream erreichte.
Und auch wenn Grundkonflikte noch ungelöst sind, vieles gilt heute als selbstverständlich, Frauen gelten Männern als ebenbürtig. Heute ist die Rede von Wählerinnen und Wählern, von Studentinnen und Studenten. Kitas und Krippen werden ausgebaut, die „Herdprämie“ der CSU wurde gekippt. Zunehmend werden gleiche Löhne für gleiche Arbeit gezahlt, das Elterngeld erhalten Mütter wie Väter. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind Alltag geworden. Im Mai 1997 erklärte der Bundestag Vergewaltigung in der Ehe für strafbar: Es hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frauen sich in der Regel keinesweg heimlich sexuelle Gewalt wünschen, sondern dass auch diese Art der Gewalt traumatisierend ist.
Generell ist die Gesellschaft inzwischen beim Thema Gewalt wacher geworden, auch bei Gewalt gegen Kinder, die Alice Schwarzer in den Interviews mit den Frauen schlicht überging. Auch bei Feministinnen war das kein großes Thema. Körperstrafen gegen Minderjährige waren bis 2000 gesetzlich erlaubt.
Später bekannte Alice Schwarzer, die Interviews hätten sie damals selber radikalisiert: „Ich habe bei der Recherche in Abgründe geguckt, die ich nicht vermutet hätte.“ Und das, obwohl sie sich bereits seit ihrer Freundschaft mit Simone de Beauvoir 1969 dem Kampf gegen die Unterdrückung des weiblichen Geschlechtes gewidmet hatte.
Erich Fromm, die Mitscherlichs, Wallraff: Auch sie prägten Diskurse
„Der kleine Unterschied “ steht in einer Reihe diskursprägender, soziologischer Publikationen der Nachkriegsjahrzehnte. Viele waren hoch komplex und wirkten primär in die akademische Sphäre hinein. Aber einige wurden so wie Schwarzers Buch breitenwirksame Beiträge zur Selbstverständigung. Lange wanderten diese und andere Bücher von Hand zu Hand, gelesen von Hausfrauen, Studenten, Politikern, Kindergärtnerinnen, Gewerkschaftern, quer durch die Republik.
Am Anfang standen die Themen Nationalsozialismus und Antisemitismus, etwa mit Eugen Kogons „Der SS-Staat“ von 1946 mit Berichten ehemaliger Häftlinge über die Lager. Zum Trost für Tausende in Deutschland wurde 1956 der Weltbestseller „Die Kunst des Liebens“ von Erich Fromm, dem nach Amerika emigrierten jüdischen Sozialphilosophen und Psychoanalytiker. 1967 erschien Margarete und Alexander Mitscherlichs Studie „Die Unfähigkeit zu trauern“, ihr kollektivpsychologischer Befund wurde zur Redewendung. 1969 machte in Deutschland ein weiteres Umbruchsbuch Furore: „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill“, des britischen Pädagogen Alexander Sutherland Neill – die Unterdrückung der Kinder rückte in den Fokus. Sechs Jahre später dann „Der kleine Unterschied“ – mit dem Blick auf unterdrückte Frauen. 1972 alarmierte der Club of Rome mit der ökologischen These von den „Grenzen des Wachstums“, parallel zur Frauenbewegung kündigte sich die Umweltbewegung an.
Welcher Sachbuchautor prägt heute die öffentliche Debatte? Höchstens noch Thilo Sarrazin
1977 tauchte mit Klaus Theweleit und seinen „Männerphantasien“ ein männlicher Feminist und Antifaschist auf. Der Doppelband umfasste Nationalsozialismus, Patriarchat, Macht, Sexualität. Das genialisch mäandernde Werk spürte faschistoide Strukturen und Frauenfeindlichkeit in der Ästhetik nahezu sämtlicher Kulturerzeugnisse auf. Universellen Anspruch erhob 1979 auch Alice Millers „Das Drama des begabten Kindes“, ein Plädoyer gegen die verheerende „Schwarze Pädagogik“, wie Katharina Rutschky 1977 ihre historische Quellensammlung zu gewalttätigen Praktiken der Abrichtung von Kindern nannte.
Starke öffentliche Wirkung hatte auch Günter Wallraffs Erfahrungsbericht über seine Zeit als türkischer Gastarbeiter, „Ganz unten“ von 1985. Grell beleuchtete es Rassismus und Ausbeutung im deutschen Alltag – und wurde ein Bestseller.
Sachbücher bewegten Hunderttausende zu Gesprächen, in Familien, in den Medien. So polemisch oder utopisch solche Bücher teils waren, sie haben die Debatten politisiert, Lesende zur verbalen Verständigung angeregt, zur Zivilisierung im besten Sinne. Gemeinsam war ihnen allen ein aufklärerischer, emanzipatorischer Impuls. Bei der Analyse von Defiziten der Gegenwart ging es nicht allein darum, die „seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ zu entwerfen – so der Untertitel zu Fromms Bestseller „Haben oder Sein“, erschienen im Jahr nach dem „kleinen Unterschied“. Es ging zugleich um die Basis für eine ökonomisch bessere Welt. Dass ein Buch wie „Der kleine Unterschied“ diskutiert wurde, bewirkte einen großen Unterschied. So waren die Zeiten.
Wann gab es zuletzt einen breitenwirksamen Bestseller zu einer gesellschaftlichen Thematik? Es wird wohl Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ gewesen sein. Kluge aktuelle Publikationen wären greifbar, zu Fragen der Zeit wie Europa, Migration, Interkulturalität. Aber in der derzeitigen Ära der Ängste vor Änderungen haben Populisten das Sagen. Solange die Öffentlichkeit das befördert.