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Unterricht zu Hause am Computer: Das war der Alltag für Schülerinnen und Schüler in ganz Europa im Frühjahr 2020.
© SEBASTIEN BOZON/AFP

33 Millionen monatliche Zugriffe: Die Coronakrise brachte die Wende für Berlins digitale Lernplattform

Drei Monate Homeschooling haben den Unterricht in Berlin grundlegend verändert. Die digitale Lernplattform „Lernraum“ wird weiter ausgebaut. Aber reicht das?

Nein, ein „Tsunami“ war es nicht, was da vor genau drei Monaten über ihn und sein Team kam. Ein Seebeben habe ja eine zerstörerische Wirkung, in diesem Fall sei jedoch nichts zerstört, sondern aufgebaut worden, sagt Karsten Bergmann. Aber der Begriff „wahnsinnige Belastung“, der treffe es ziemlich gut.

Karsten Bergmann, Lehrer für Mathematik am Wilmersdorfer Friedrich-Ebert-Gymnasium, ist der Kopf des „Lernraum Berlin“, der größten Berliner Lernplattform, die seit acht Jahren aufgebaut wird – von acht Lehrern, die für jeweils einen Tag pro Woche vom Unterricht freigestellt waren, um Berlins schulische Digitalisierung auf eine neue Stufe zu heben: weg vom rein analogen Lernen im Klassenraum, hin zum Austausch von Lernmaterial im virtuellen Raum. Das Interesse der Lehrer war gering.

Die Zeitenwende brachte der 17. März 2020 – der Tag der coronabedingten Schulschließungen: Aus 13.000 monatlichen Nutzern wurden 80.000, aus 2000 Accounts 12.000 und aus einer Million Zugriffe 33 Millionen pro Monat.

Anders gesagt: Zu Anfang waren es täglich 2000 tägliche Nutzer, jetzt bis zu 35.000. Das belegen aktuelle Vergleichszahlen der Senatsverwaltung für Bildung: Bergmanns Team im Dauer-Ausnahmezustand.

„In den ersten Tagen lief es sehr langsam“, sagt er im Rückblick. Tatsächlich häuften sich damals die Beschwerden frustrierter Pädagogen.

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Manche hätten sich damals abgewandt, hätten angefangen, ihre Aufgaben per Whatsapp oder Mail zu verschicken, einige griffen zu kostenpflichtigen Anbietern wie „Itslearning“ oder beschlossen, ihre Zusammenarbeit mit „Itslearning“ auszubauen.

Das Lernmanagement-System wurde gerade von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für alle Schulen eingekauft und wird von den Berliner Schulen, die es nutzen, wie der Charlottenburger Friedensburg-Schule so geschätzt, dass sie bereit sind, dafür 10,000 Euro pro Jahr auszugeben, um sich „viel Zeit und Ärger zu ersparen“.

„Operation am offenen Herzen“

Dass es – vor allem zu Beginn – viel Zeit und Ärger kostete, sich im „Lernraum“ anzumelden und sich zurechtzufinden, weiß Bergmann. Es sei eben eine „Operation am offenen Herzen“ gewesen in der Ausnahmesituation.

Auf einen Schlag waren rund 1000 Schulen dicht, rund 400.000 Schüler und über 35.000 Lehrer mussten kommunizieren.

Während die Grundschulen vor allem auf den Austausch von Arbeitsblättern setzten, die einmal wöchentlich abgeholt und ausgefüllt zurückgebracht wurden, setzten Oberschulen und berufliche Schulen stärker auf die digitale Kommunikation.

Karsten Bergmann leitet den "Lernraum Berlin".
Karsten Bergmann leitet den "Lernraum Berlin".
© privat

Ein genauer Überblick, zu welchen Lernplattformen und Videokonferenzsystemen die Schulen letztlich griffen, fehlt.

„Die Schulen und Lehrkräfte können da eigenverantwortlich entscheiden, es herrscht in Berlin auch im digitalen Bereich Lernmittelfreiheit“, betont der Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), Martin Klesmann. Allerdings empfehle die Bildungsverwaltung die Nutzung des „Lernraum Berlin“, der inzwischen über alle einschlägigen Tools verfüge und in den vergangenen Monaten „massiv ausgebaut“ worden sei.

Aber was heißt schon „massiv“? Bergmann berichtet davon, dass es jetzt „mehr Freistellungen“ gebe: Seine Teamkollegen müssten also weniger unterrichten und hätten dadurch mehr Zeit. Kommendes Jahr sollen es dann „zwölf Kollegen sein, die an ein bis zwei Tagen freigestellt sind“.

Mit dem „Schwung“ ist es so eine Sache

Ob das reichen kann, wird von Fachleuten bezweifelt. Sie verweisen auf Ausbildungseinrichtungen auf Verwaltungsebene, wo es für einen Bruchteil der Schüler mehr Vollzeitkräfte gebe, die sich dem Ausbau des digitalen Lernens widmen.

Selbst wenn es im Herbst zu keinem zweiten Lockdown durch eine weitere Coronawelle komme, brauche ein derart fundamentales Angebot wie der „Lernraum“ wesentlich mehr Personal, damit der jetzige Schwung bei der Digitalisierung nicht gleich wieder verloren gehe.

Die Bildungsverwaltung von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) finanziert den "Lernraum Berlin".
Die Bildungsverwaltung von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) finanziert den "Lernraum Berlin".
© Fabian Sommer/dpa

Tatsächlich ist es mit dem „Schwung“ so eine Sache: Die Elternvertreter haben immer wieder über Lehrer berichtet, die es während der dreimonatigen Schulschließungen nicht geschafft hätten, verlässlich erreichbar zu sein.

Manche Pädagogen seien regelrecht „abgetaucht“, hatte Landeselternsprecher Norman Heise kritisiert und eine digitale Präsenz von acht Stunden täglich gefordert.

Darauf ist die Bildungsverwaltung zwar nicht eingegangen, aber sie ist dennoch offenbar entschlossen, die Verbindlichkeit, mit der Lehrer erreichbar sein sollen, zu erhöhen: Mindestens zweimal pro Woche müsse mit den Schülern im Falle eines zweiten Lockdown „Kontakt aufgenommen werden“. Eine Whatsapp-Nachricht sei dabei nicht gemeint.

Bergmann und sein Team sind entschlossen, den Lehrern Brücken zu bauen. Zwar gibt es weiterhin Tausende Pädagogen, die dem „Lernraum“ ausweichen. Manche finden die Plattform „nicht selbsterklärend“, sondern „sperrig“, wie ein Schulleiter ärgerlich aus den Erfahrungen seiner Kollegen berichtet.

Aber Bergmann bittet um Nachsicht: Manches brauche eben noch Zeit. Seit Wochen liefen Weiterentwicklungen. Wenn sein Team im neuen Schuljahr aus mehr Kollegen bestehe, sei „mehr Betreuung für die Lehrer möglich, um sie digital arbeitsfähig zu machen“.

Das bedeute dann auch, dass es mehr Fortbildungen, Sprechstunden und Anleitungen auf Youtube geben werde.

Und es gibt Schulen wie das Wilmersdorfer Goethe-Gymnasium, die hoch zufrieden mit dem „Lernraum“ sind: Schulleiter Jörg Freese setzt schon länger auf die Lernplattform: Seine Kollegen waren gerade frisch fortgebildet, als die Schulschließung kam.

„Wir können alle Berliner Schulen bedienen“, lautet Bergmanns selbstbewusste Devise. Aber natürlich nur mit dem dafür notwendigen Personal und finanziellen Ressourcen.

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