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Bespuckt, bepinkelt und angezündet. Diesem Baum auf der Warschauer Straße ist nichts Menschliches fremd.
© Doris Spiekermann-Klaas

Friedrichshain: Der härteste Baum von Berlin

Überall Party, überall Suff, Kotze und Krakeele. Man muss zäh sein wie der einsame Kirschbaum auf der Warschauer Straße. Jede seiner Blüten: ein in den Himmel gereckter Mittelfinger. Eine Liebeserklärung.

Auf der Warschauer Straße, im Strom von Pennern und Dealern, Hipstern und Touristen steht er, der härteste Baum von Berlin. Er steht da, so verloren wie eigentlich nur ein Mensch sein kann. Ein Baum in der Großstadt, verkümmertes Grün, eher Braun, an einem der lautesten, dreckigsten und mittlerweile gefährlichsten Orte Berlins. Warschauer, Ecke Revaler.

Es ist Frühling 2016. Seit über einem Jahr wohne ich nun hier. Und beobachte ebenso lange den Baum. Ich frage ihn und mich: Bin ich hart genug für Friedrichshain? Was könnte mir der Baum beibringen, dass ich es werde?

Auf dem Boden um den Baum wächst kein Gras mehr, und das, was da einmal wuchs, wurde plattgetrampelt von Sneakers und Flipflops, High Heels und DocMartens, festgetreten zu einer braunen Platte, undurchlässig, eher Beton als Erde. In sie hineingestampft: Kronkorken, Zigarettenstummel, Bierdeckel, Scherben und Münzen. Auf diesem Mosaik hocken die Gestrandeten am Fuße des Baumes und lehnen sich gegen seine Rinde. Punker, Junkies, Bettler und Hunde. Es hat schon fast etwas Biblisches, wie sie ihn umlagern, den letzten Baum. Bis eines Tages Bauarbeiter und Bagger anrücken und ihn zu einer Insel im Beton machen werden, umgeben von einer makellos gepflasterten Fläche, um die Punker, Junkies, Bettler und Hunde zu vertreiben.

Er wurde bekotzt, bepinkelt und getreten

Die Gegend um den Baum quillt über vor Menschen, Menschen, die ihr Vergnügen suchen oder Streit, die klauen und beklaut werden, Drogen kaufen oder anbieten, es gibt Ärger, Belästigungen, Schlägereien, Mord. Einwohner sagen: Es eskaliert. In Petitionen wehren sie sich dagegen. Warschauer, Ecke Revaler, das sei ein „Kriminalitätsschwerpunkt“, sagt die Polizei.

Hier wohnen also der Baum und ich. Er schon etwas länger, sogar mit eigener Adresse, wie mir das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Abteilung Planen, Bauen und Umwelt, schreibt: „Sehr geehrte Frau Schiemenz, der von Ihnen angesprochene Baum steht in der Warschauer Straße 94 und hat die Baumnummer 3. Bei diesem Baum handelt es sich um einen Kirschbaum, Prunus spec. Der Baum ist etwa 59 Jahre alt und hat einen Stammumfang von 195 cm.“

Dem Baum ist nichts Menschliches fremd. Er wurde bekotzt, bepinkelt, besprüht, getreten, geritzt, an ihm wurde herumgekokelt, nur um zu sehen, ob er das aushält. Ein Graffito verwittert auf seiner Rinde, sind ja eh alle tätowiert hier. Der Stamm des Baumes ist verkorkst, zur Spirale gewunden wie der eines Olivenbaumes, als hätte er sich einmal komplett um sich selbst gedreht. Damit er sich den ganzen Wahnsinn in Ruhe angucken kann? Vielleicht hat er aber auch versucht, sich abzuwenden, bis der Dreck irgendwann in allen Himmelsrichtungen zu sehen war.

Doch jedes Jahr aufs Neue im Frühling geschieht ein Wunder: Der Baum blüht. Zwei Wochen lang blüht er an gegen das alles, gegen den Müll und die Hundekacke, gegen die Flüche der Penner und die Tritte der Punks, gegen das Geschrei und den Gestank. Jede seiner Blüten ein in den Himmel gereckter Mittelfinger: Nimm das, Berlin, du alte Scheiße! Um jene wundersamen Tage soll es hier gehen.

So viel Müll, dass man ihn auf Google Earth sieht

In Friedrichshain sitzt man den Frühling hartnäckig herbei. Irgendwann fällt die Entscheidung, dass laut Kalender nun die Zeit gekommen sei, in der man sein Bier nicht mehr drinnen trinkt. Das hat wenig mit den Temperaturen zu tun. Der Wetterwechsel wird vielmehr in einer Art Sitzstreik vor Kneipen und Restaurants erzwungen. Auch die Handvoll Penner, die den Baum umlagern, hocken da wie im Sitzstreik. Man könnte das Bild jedoch genauso gut für eine launige Picknickszene halten.

Der Baum steht auf der Nordseite der Warschauer Brücke, die nicht über Wasser, sondern über Bahngleise führt. Wenn man links und rechts von ihr herunterschaut, liegt da unten außer den Gleisen noch etwas anderes: Müll. So viel Müll, dass man ihn auf Google Earth sehen kann.

An der Warschauer Brücke steigen das Partyvolk und die Touristen aus den S- und U-Bahnen, sie strömen an dem Baum vorbei und ergießen sich in die Klubs und Kneipen. Zehn Minuten entfernt wummert das Berghain. Hinter dem Baum geht es zu den Gleisen und zum RAW-Gelände, dem einstigen Reichsbahnausbesserungswerk. Jetzt befinden sich in dessen alten Gebäuden die Klubs, in die Touristen wollen. Junggesellenabschiede und Betriebsausflüge rücken an, selbst Schulklassen werden hier von nichtsahnenden Lehrern durchgeschleift, bekommen den ersten Kiffeduft ihres Lebens in die Nase, werden zum ersten Mal beklaut. Friedrichshain, du Schule des Lebens.

Der Baum gibt auf Kommunikation mit anderen einen Scheiß

In den ersten Tagen strahlen die weißen Blüten des Baums besonders unschuldig, wirkt der Baum surreal, eine Blume auf einem Misthaufen. Später kippt das Weiß durch die Abgase ins Beige. Einige Meter entfernt stehen noch ein paar andere Bäume hier und da, auch die scheinen ziemlich hart drauf zu sein. Aber sie unterscheiden sich von unserem Helden, weil jeder von ihnen in der Nähe noch einen Baumkumpel stehen hat, jemanden, der ihm hilft, das hier auszuhalten. Nur unser Baum ist ganz allein, abseits der Crowd.

Vor einiger Zeit hat ein Förster ein Buch über die geheime Kommunikation der Bäume geschrieben, das ein Bestseller wurde. Angeblich sind sie alle miteinander in Kontakt unter und über der Erde. Ich kann nur sagen: Der Baum, von dem ich hier spreche, gibt auf Kommunikation mit anderen Bäumen einen Scheiß. Er ist sich selbst genug, wie so viele in Berlin. Aber im Gegensatz zu vielen anderen resigniert er nicht. Er überlebt nicht einfach nur in der Hässlichkeit, er presst sogar noch etwas Schönes aus ihr hervor!

Der Baum steht ruhig im Lärm der Menschen und Autos, die Straßenbahn rattert vorbei. Meist sind es russische und polnische Penner, die den Baum umlagern. Das sind die härtesten, die trinken den Wodka direkt aus der Flasche wie ihre deutschen Kollegen das Bier. Aus der Ferne hört man einige fluchen. Andere scheinen nicht mehr von dieser Welt, die Haut vom Schnaps durchtränkt, mit riesigen Poren wie ein Schwamm voller Wodka. Ihre Augen sind meist geschlossen, vielleicht wollen sie sich die Stadt nicht mehr angucken, vielleicht sind sie auch einfach nur müde. Sie wandeln wie Zombies durch Friedrichshain. Nicht ansprechbar. Pissen überall hin, schwanken, die Hosen rutschen im Gehen, weil sie zu schwach sind, sie wieder zuzuknöpfen. Hinter ihnen und dem Baum prangt eine große Bautafel: „Lebendige Quartiere fördern“.

Die Welt um ihn herum wird immer abwaschbarer

Als hätte es unser Held nicht schwer genug, haben sie ihm wie zum Hohn ein öffentliches Toilettenhäuschen zur Seite gestellt. Als würde jemand bezahlen, wenn er ein paar Meter nebenan kostenlos seine Notdurft an so etwas wie Natur verrichten kann. Dann kam ein hochmoderner Mülleimer aus gebürstetem Stahl dazu. Eine Kugel, einen Meter hoch, oben der Deckel, ein orangefarbener Kreis. Ein silbernes Glupschauge, dessen Pupille in den Himmel starrt. Aber das sind nur die Vorboten einer Ordnung, die den Baum bald vollends zu einem Fremdkörper machen wird. Die Welt um ihn wird immer abwaschbarer.

Wenn ich den Baum beobachte, tue ich das meist mit respektvollem Abstand. Manchmal stehe ich in der Mitte der Warschauer an der Tramhaltestelle und täusche vor, dass ich auf die nächste Straßenbahn warte oder auf jemanden, der aus ihr aussteigt. Oft stehe ich auch vor dem Bio-Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Dort gibt es vegane Schuhe und Menstruationstassen (google it!) und Stoffbeutel, auf denen „Yes, ve gan“ steht. Ich kaufe dann einen überteuerten Smoothie und nuckle an meinem grünen Trinkhalm, während ich hinüber zum Baum starre. Nicht zu auffällig blickend, sonst halten mich die Dealer noch für eine Zivilstreife.

Die Stadtplanung hat es gut mit den Dealern gemeint

Manchmal nähere ich mich dem Baum, um ihn besser beobachten zu können. Aber wenn ich direkt dort herumstehe, kann ich die Sekunden zählen, bis es Ärger gibt oder ein Dealer kommt und „Kss! Kss!“ macht und mir zuraunt: „Wanna buy sumting?“

Dutzende Fahrradständer wurden neben dem Baum in langen Reihen installiert. Jeder sieht aus wie ein umgedrehtes U aus Metall, die Streben in perfekter Hinternhöhe zum Dagegenlehnen oder Draufsitzen, dann noch eine untere Querstrebe, um die Füße abzustellen. Irgendjemand in der Stadtplanung hat es gut mit den Dealern gemeint und ihnen ein perfektes Arbeitsumfeld gebaut. Bei Regen können sie sich in das Toilettenhäuschen zurückziehen, und dank der Fahrradständer müssen sie sich nicht die Füße plattstehen. Sie hocken da, ab und an steht einer auf und macht Dehnübungen, als sei er Passagier auf einem Interkontinentalflug.

Es ist nur natürlich, dass sie die Installationen umnutzen. Auf diesem Fahrradfriedhof würde ohnehin niemand, der an seinem Rad hängt, selbiges anschließen. Man hält ja auch seinen Arm nicht in ein Piranha-Becken. Fahrradrümpfe ohne Räder, Sattel und Lenker lehnen an den Ständern wie abgenagte Fischgräten. Um einige Fahrradständer kringeln sich leere Fahrradschlösser.

Menschen rauchen und spritzen sich werweißwas

Ja, die Dealer. Eine Menge gibt es über sie zu sagen. Ist für viele hier nicht so cool, dass sie da sind und was sie so anstellen. Sie reißen zum Beispiel Blumen aus den Beeten der Anwohner, um in der Erde ihre Drogenpäckchen zu verstecken. Aber sie kommen mir doch vor wie vertrottelte Teenager, um die sich endlich mal jemand kümmern müsste. Falls sie nicht gerade auf den Fahrradständern hocken, stehen sie, einer etwa alle zwei Meter, nebeneinander am Fußweg, lassen die Leute vorbeiströmen und warten auf Kundschaft. Sie sehen aus wie die Mitglieder einer Boygroup, alle messen um die 1,60 Meter, sind dünn, tragen Basecaps, enge Jeans, Baseballjacken, Sneakers. Auf einem Streifen von etwa zehn Metern stehen sieben Dealer.

Es gibt eine Initiative, die sich gegen den Drogenhandel zur Wehr setzt, ein Abreißzettel klebt an meiner Haustür. Die Haustür ist in den letzten Wochen zum Politikum geworden. In den Wintermonaten sind immer wieder Obdachlose bei uns eingebrochen. Sie machen mit einer Plastikkarte die Tür auf und dann pennen sie auf den Treppenabsätzen. Wenn sie nur pennen würden. Sie erbrechen sich und pinkeln ins Treppenhaus, sie rauchen und spritzen sich hier werweißwas. Einmal schreckte ich abends auf, weil jemand gegen unsere Wohnungstür krachte. Ich versuchte mit dem Mann zu reden, aber er lallte nur etwas auf Russisch. Ich rief dann den Hausmeister, er und ein Kumpel geleiteten den Mann hinaus, ganz sanft, sie fassten ihn nicht an, er lief in der Mitte zwischen den beiden wie ein Vip zwischen zwei Bodyguards.

Viele Male war die Polizei da. Klar, ich will nicht, dass jemand draußen in der Kälte schlafen muss. Die Polizisten sagen: Die müssen nicht in der Kälte schlafen, die sind einfach nur zu besoffen, um sich in die nächste Notunterkunft aufzumachen. Stimmt das? Oder bin ich eine Not-in-my-backyard-Frau geworden? Ich will sie ja auch wirklich not in my Backyard haben, ich gebe es zu. In unserem Backyard stehen nämlich mein Fahrrad und die Fahrräder der Nachbarn und schon einige Male habe ich beobachtet, wie dort ein Penner herumschlich und die Fahrräder musterte, als würde er sich was Leckeres am Buffet aussuchen.

Im Erdgeschoss sind ganztägig die Sicherheitsjalousien unten

An unserer Haustür wurde zuerst eine einfache Holzleiste angebracht, damit die Plastikkarten nicht mehr reinpassten. Aber die war bald zerdroschen. Jetzt prangt da eine fette, hässliche Metallleiste mit dicken Schrauben. Nachts höre ich manchmal, wie einer wütend gegen die Haustür latscht oder sich dagegenwirft, weil der Zugang zu einer Welt, die als Schlafplatz diente, aus unerfindlichen Gründen plötzlich verriegelt ist.

In den Erdgeschosswohnungen sind fast ganztägig die Sicherheitsjalousien unten. Wir panzern uns. Das Haus verschließt die Augen. Fühlt sich nicht schön an, so zu leben. Was die Frage aufwirft, warum ich nicht einfach wegziehe. Dazu komme ich noch.

Als ich an einem Frühlingstag aus meiner Haustür trete, höre ich, wie zwei Jungs sich im Vorbeigehen unterhalten. „Und das hier, das ist der schlimmste Teil von Berlin“, raunt der eine dem anderen zu. Das macht mich irgendwie unzufrieden. Aber ich muss schon zugeben: Nach meiner Zeit in Neukölln hatte ich gedacht, es geht nicht schlimmer. Doch wenn ich jetzt am Hermannplatz aus der U-Bahn steige, kommt mir alles so sauber vor, so wenig Blut! Kaum Kotze!

Sein Stamm ist merkwürdig verdreht. Hat er versucht, sich abzuwenden?
Sein Stamm ist merkwürdig verdreht. Hat er versucht, sich abzuwenden?
© Doris Spiekermann-Klaas

Nur einige Meter vom Baum entfernt wurde jemand abgestochen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht die Polizei vor meinem Haus sehe oder das Blaulicht eines Krankenwagens. Dieses Gebiet ist sicher gut auszuhalten für Menschen, die gelassener sind als ich oder härter, so hart wie der Baum, und für Touristen und Erasmus-Studenten geht es auch, weil ihre Aufenthaltszeit begrenzt ist und sie alle erst Anfang 20 sind. Aber ich bin 34.

Vor dem Baum sitzt heute nur einer. Grüner Hoodie, roter Irokesenschnitt. Ich frage ihn, wie er heißt.

Er sagt: From Poland.

Ich sage: No, your name.

Er sagt: Sebastian.

Was für ein zarter Name. Ein Blütenblatt hat sich in seinem Iro verfangen.

Um ihn herum stinkt es nach Ammoniak, so stark, dass einem schwindelig wird

Über Sebastians Kopf in der Baumkrone zwitschern Vögel und summen Bienen. Der Anblick der Warschauer Straße und diese Naturgeräusche lassen sich nicht zu einem stimmigen Gesamteindruck übereinanderlegen. Was hilft, ist der Geruch um den Baum herum: beißender Ammoniakgestank, mir wird schwindelig.

Im Licht des späten Nachmittags funkeln die tausend Scherben im Boden um den Baum, und jede seiner Blüten leuchtet wie eine Kerze. Ein Akkordeonspieler stellt sich in einiger Entfernung hin und leiert seine Lieder. Ein dürrer Punk kommt auf einem klapprigen Rad angeeiert, stoppt und ruft: „Hör uff zu spielen! Touristen braucht keen Mensch!“ In der Ferne prangt über allem die Fernsehturmkugel, unsere Sonne, um die wir kreisen, jeder sein eigener Planet.

Wann kippt ein Stadtteil? Und wann bemerken das die Anwohner?

Für mich begann es damit, dass mich ein Taxifahrer nicht zu Hause absetzen wollte. „Nix gut, Revaler“, sagte er und schüttelte den Kopf. Also zog ich meinen Rollkoffer die letzten hundert Meter zu Fuß nach Hause. Macht mir nichts. Eigentlich. Aber nun ist es so, dass ich, wenn ich diesen Koffer dabeihabe, darauf angewiesen bin, möglichst direkt vor meiner Haustür aus dem Auto zu steigen. Seine harte Schale ist nämlich so strahlend weiß wie die Blüten des Baumes.

Die Punker können sich mein Gesicht nicht merken

Eigentlich habe ich das Weiß nur auf Anraten eines Freundes gewählt, der meinte, dass ich den Koffer dann immer blitzschnell auf dem Gepäckband am Flughafen erkennen würde. Die meisten Koffer sind schwarz und man muss hastig auf die Kofferanhänger gucken, um herauszufinden, ob es der eigene ist, während die Dinger auf dem Förderband weiterrollen, das macht mich immer ganz nervös. Hartschale habe ich genommen, damit man sich auch mal draufsetzen kann beim Warten.

Ich erzähle Ihnen das, weil ich möchte, dass Sie wissen, dass ich eher praktisch veranlagt bin. Aber der Koffer schreit TUSSI!

Mit einem Rollkoffer über die Warschauer Brücke – das ist Provokation. Mit einem WEISSEN Rollkoffer über die Warschauer Brücke – das ist Selbstmord. Ähnlich wie die einstmals weißen Wände von Friedrichshain provoziert mein unschuldiger Koffer zum Besprühen, Bespucken und Dagegentreten. Die Punker halten mich für eine Touristin und motzen mich an.

Jeder hier trägt schwarz. Wie Krähen

Also lasse ich mich vor der Haustür absetzen. Der Taxifahrer, der das verweigerte, setzte bei mir etwas in Gang: Plötzlich veränderte sich mein Blick auf den Stadtteil und die Leute. Er wurde selektiv. Bald schon fielen mir auch andere Sachen auf. Zum Beispiel, dass ähnlich wie mein weißer Koffer auch mein roter Wintermantel in Friedrichshain völlig deplatziert ist. Jeder hier trägt schwarz. Wenn ich an der Fußgängerampel warte, sieht die Menschenmenge auf der gegenüberliegenden Seite aus wie ein Krähenschwarm, der bei Grün plötzlich losflattert.

Jede zweite dieser Krähen hat eine Bierflasche in der Kralle. Bier ist das Öl im Getriebe von Friedrichshain. Es erzeugt den Ärger, den es später wieder vergessen macht. Der Laden bei mir um die Ecke mahnt in schnörkeliger Kreideschrift: „Bier ist mehr als nur ein Frühstücksgetränk.“ Bier gehört zur Party. Und Friedrichshain ist der Partybezirk. Man bildet hier gern zusammengesetzte Substantive mit dem Wort „Party“. Die Tram, die hier fährt, M10, ist die Partytram. Der Kaiser’s-Supermarkt bei mir gegenüber, Tag und Nacht geöffnet, war der Partykaisers, solange es ihn gab.

Eine Almosen-Flatrate? Leider zu kompliziert

Auf meinem Weg zum Partykaisers und auf meinem Weg aus dem Partykaisers heraus muss ich viele Fragen beantworten, sie beginnen meistens mit „Hastemal“. Wobei, neuerdings sagen die Punker auch: „Willst du mir was schenken?“ Das klingt nach gewaltfreier Kommunikation, vielleicht hat ein PR-Fachmann sie beraten. Wenn ich mit Klopapier unter dem Arm aus dem Party-DM direkt neben dem Partykaisers komme, fragen sie „Krieg ich ’ne Rolle ab?“

Das Problem ist, dass ich jeden verdammten Tag mehrmals an den Punkern vorbei muss und sie sich einfach nicht erinnern können. Manchmal will ich einen von denen am Kragen seiner Nietenlederjacke packen, sein Gesicht ganz dicht an meines heranziehen und ihn anzischen: Präg dir endlich meine verdammte Fresse ein, ich hab schon oft genug bezahlt!

Könnte kontraproduktiv für meine Zukunft sein.

Auch über die Option, ihnen alle paar Wochen einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand zu drücken, habe ich bereits nachgedacht, eine Art Flatrate quasi. Aber da stehen ja nicht immer dieselben. Ich müsste dann also ein Plakat mit meinem Foto neben die Tür vom Partykaisers hängen, damit jeder punkige Neuankömmling sieht, dass ich bereits Vielzahler bin. Aber dann wird das Plakat vielleicht abgerissen. Das wird doch alles zu kompliziert!

Also antworte ich brav draußen vorm Partykaisers jeden Tag aufs Neue auf die Frage „Hastemal“ mit „Nein“, so wie ich drinnen im Partykaisers jeden Tag aufs Neue die Frage „Sammeln Sie Treuepunkte?“ mit „Nein“ beantwortet habe, solange es den Partykaisers gab. Man gewöhnt sich an alles.

Der Fehler der Zivilstreife: Sie bleibt an der Ampel stehen

Apropos Gewöhnung: Die Punker haben hier ihren festen Bereich. Wenn ein anderer zum Betteln ins Revier kommt, gibt es Stunk. Einmal sehe ich, wie eine Frau mit Kopftuch die Passanten auf Englisch um Kleingeld bittet. Da schreit einer der Punker sie an: „Du nix sprechen Deutsch?! Wir hier sprechen Deutsch!“ Jawoll, hier wird gefälligst auf Deutsch gebettelt! Das ist ein ordentliches Partyrevier!

Man sieht hier übrigens kaum Rentner einkaufen. Zu gefährlich, zu nervenaufreibend. Wenn sich mal ein Greis in den Supermarkt verirrt, dann wird er weggeschubst, mitsamt seinem Einkaufswagen beiseitegeschoben von der Jugend, die er stört, weil er so langsam ist und jede Weintraube einzeln anguckt. No Stadtteil for old men.

Die Kinder in Friedrichshain wiederum lernen von klein auf, streetsmart zu sein. Ein Vater hier zum Beispiel hat sich für seine Kinder das sogenannte „Vulkan-Hüpf-Spiel“ ausgedacht, das er jeden Morgen mit ihnen auf dem Weg zur Kita spielt. Ziel des Spiels: Nicht in die Lava treten. Mit Lava ist die Kotze gemeint.

Vor meinem Haus halten heute mal wieder ein paar der auffällig unauffälligen Transporter, die ich mittlerweile schon gut kenne. Die Polizisten in Zivil, die aus ihnen steigen, kenne ich langsam auch ganz gut. Ihre Verkleidung: Typ von der Straße, Baggypants, dicke Jacken, Basecaps. Sie unterhalten sich laut und lachen. Sie laufen auf die Warschauer zu, am alten Partykaisers vorbei. Ich laufe hinter ihnen her und beobachte sie ein wenig. Schon machen sie einen klassischen Schauspieler-Anfängerfehler. Sie fallen aus ihrer Rolle und bleiben ernsthaft an einer roten Fußgängerampel stehen! Obwohl die Straße frei ist! Fünf bullige Typen, mit denen man sich nicht anlegen möchte – bleiben an einer roten Fußgängerampel stehen!

Mitte 30 ist das klassische Einstiegsalter für Longboardfahrer

Ihre Hände zucken nervös, sie wippen mit den Beinen. Ich kann mir den inneren Kampf in jedem Einzelnen von ihnen vorstellen, gefangen zwischen Rolle und Gewissen. Entbindet die Rolle von der Straßenverkehrsordnung?

Während sie ihre inneren Kämpfe ausfechten und ich weiß, dass sie mir nichts tun können, wenn sie ihre Tarnung nicht gänzlich ruinieren wollen, laufe ich an ihnen vorbei und bei Rot über die Straße. Einer ruft mir ein lasches „Das macht man nicht!“ hinterher.

Aber ich habe es eilig, ich muss zum Yoga. Noch ein kurzer Blick zum Baum: Wie geht es ihm heute? Ein paar 40-Jährige auf Skateboards rollen an ihm vorbei. Mitte Dreißig ist in Friedrichshain das klassische Einstiegsalter für Longboardfahrer. Sie halten kurz an und legen den Punks ein paar Kippen in den Almosen-to-go-Plastikbecher. Außerdem stellen sie ihnen ihre leeren Bierflaschen vor die Füße. Heutzutage kann man ja überall sein Altglas stehen lassen und sich dabei noch als guter Mensch fühlen. Schön ist das.

Abends laufe ich von meinem Krankenkassen-Yoga-Präventionskurs nach Hause. Wenige Minuten zuvor noch hat uns die Yoga-Lehrerin gesagt, wir sollten uns wie Seegras wiegen, und unsere Fußsohlen sollten sich küssen. Ich bin also tiefenentspannt, muss aber nun am Partykaisers vorbei, durch die Partymenschen und Partyhunde hindurch. Neben mir partypisst einer gegen eine Wand, er dreht mir nicht den Rücken zu, keine Höflichkeiten hier. Kriegt eh nicht mit, dass ich da bin. Ich sehe seine geschlossenen Augen und die Wodka-Schwamm- Haut im Schatten. Vor meinem Haus flackert Blaulicht, ein paar Polizisten drücken drei Männer gegen die Hauswand, Arme und Beine gespreizt, dann werden sie abgetastet. Zum Tagesabschluss gerate ich in eine Razzia. Namaste.

Mach dich bereit, Friedrichshain

Ich will noch einmal nach dem Baum schauen, im Dunkeln starrt es sich leichter. Aber die Tage werden immer länger, die Sonne mag nicht mehr untergehen, sie will nichts mehr verpassen. Die letzten weißen Blüten heben sich gegen den Abendhimmel ab. Bald werden sie vollends verschwunden sein. Hinter dem Baum stehen als Touristenattraktion Metallröhren, aus denen Flammen emporschießen, Rauchschwaden steigen auf und werden violett und rot und grün angeleuchtet von den wechselnden Lichtern der Klubs.

Die Temperaturen sind schon mild. Aber abends wird der Wind kühl, und die Luft riecht nach Regen. Sebastian hat jetzt seine Freunde dabei, unter ihnen auch eine Frau in Lederjacke mit grün gefärbten Haaren, die einzige Frau in der Runde. Sie schreit auf Sebastian ein, der stoisch dahockt, zwei schwarze Hunde umkreisen sie aufgeregt, kläffen und springen Passanten an. Das Geschrei geht unter im Geheul der Sirene eines Krankenwagens, der vorbeidonnert. Und ganz sicher ahnen Sebastian und die Frau nichts von dem fiesen Plan des Straßenbauamtes, das Pflastersteine bestellen und die Trinker schon bald von ihrem Stammplatz unter dem Baum vertreiben wird.

Die Partytram rattert über die Warschauer und bringt weitere Zwanzigjährige in Schwarz. Sie sehen aus wie eine Armee. Mach dich bereit, Friedrichshain, dir steht wieder eine deiner Nächte bevor.

Seine einzige Chance: Ausharren. Bis sich die Zeiten ändern

Am Sonntagmorgen ist keiner mehr da. Kein Dealer, kein Penner, kein Punker. Der Regen hat über Nacht die letzten Blüten wie weißes Konfetti in den Gulli gewaschen. Ich stehe vor dem Baum, einen Becher Kaffee in der Hand. Ich werde wegziehen, ich bin zu zart für Friedrichshain.

Während ich über meinen Umzug nachdenke, ist mein Freund, der Baum, zum Bleiben verdammt, er ist eine Immobilie. Seine einzige Chance: Ausharren. Bis sich die Zeiten ändern. Das tun sie überall einmal.

Der Lotus ist die heilige Pflanze im Buddhismus. Er wächst selbst im dreckigsten Sumpf und erhebt sich aus dem Schlamm, aus „Avidya“, der Unwissenheit. Das macht ihn zum Symbol des Lebens und der Hoffnung. Im Frühling kann einem der Baum vorkommen wie ein wunderschöner Lotus. Dann erzählt er denen, die zuhören wollen, etwas vom Überleben in der großen Stadt Berlin, wo sie hässlich und hart ist. Schönheit ist überall möglich.

Dieser Text erschien zuerst am 10. Juni 2017 im gedruckten Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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