Mordfall Georgine Krüger: Das Opfer, die Familie, der Beschuldigte, die Ermittler
2006 verschwindet in Berlin die Schülerin Georgine. Der Prozess darum verliert nun den Vorsitzenden Richter – eine weitere Facette des außergewöhnlichen Falls.
Der Abschied fällt eher unspektakulär aus: „Vielen Dank, das war's“, sagt Peter Faust und beendet damit am vergangenen Donnerstag nicht nur die Sitzung in Saal 537, sondern auch seine langjährige Karriere am Berliner Landgericht. Am 40. Verhandlungstag ist dem Mordprozess um die verschwundene Georgine Krüger der Vorsitzende verloren gegangen: Richter Peter Faust geht in Pension.
Das Verfahren wird ab dem 11. Februar ohne ihn weitergehen. Dass sich die Urteilsverkündung seit Wochen verschiebt, weil die Verteidigung immer neue Anträge stellt, ist vor allem für die Familie von Georgine Krüger belastend. „Ich finde es schrecklich, dass der Richter jetzt ausgewechselt wird“, sagt die Schwester Michelle Krüger, 19.
Der Richtertausch ist ein weiteres ungewöhnliches Detail in einem der spektakulärsten und rätselhaftesten Kriminalfälle. Im September 2006 ist die Schülerin Georgine Krüger in Moabit auf ihrem Heimweg verschwunden - spurlos und mitten am Tag. Seit fünf Monaten steht Ali K. vor dem Berliner Landgericht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 44-Jährigen vor, das Mädchen in seinen Keller gelockt, vergewaltigt und getötet zu haben. Bis heute aber gibt es keine Leiche, keine Beweise, nur Indizien.
Ohne den Einsatz von drei verdeckten Ermittlern, denen es gelang, ins Innerste der Familie K. vorzudringen, wäre es vermutlich niemals zur Anklage gekommen. Und auch wenn das Urteil noch nicht gesprochen ist, hat der Prozess um den Fall Georgine gezeigt, wie eine einzelne Straftat das Leben vieler Menschen für immer verändern kann.
Was wir nach fast 14 Jahren wissen - und was nicht. Die Geschichte eines außergewöhnlichen Falles:
DER TAG DES VERSCHWINDENS
In der Schule gibt es Stress. Die Jungs reißen sich um die „Neue“, die Mädchen verachten sie dafür umso mehr. Erst drei Monate vor dem Verschwinden ist Georgina Krüger mit ihrer Familie nach Moabit gezogen. Weil sie Lernschwierigkeiten hat, besucht Georgine die 8. Klasse der Wartburg-Schule. Sie achtet auf ihr Äußeres, trägt Ohrringe, die bis zu den Schultern reichen, enge Jeans und bauchfrei, träumt von einer Karriere als Model oder Schauspielerin. „Ihre Art, sich zu kleiden, brachte ihr Ärger mit muslimischen Mädchen ein, doch sie ignorierte es“, sagt Thomas Ruf, Ermittler der 6. Mordkommission.
Es ist der 25. September, als Georgine, genannt Gina, verschwindet. Bis heute hat die Polizei keine einzige Spur von dem Mädchen gefunden, keine Faser, keine DNA, keine Leiche.
Zeugen sehen Georgine das letzte Mal, als sie gegen 13.50 Uhr an der Perleberger Straße Ecke Rathenower Straße aus dem M27 steigt. Ginas Handy loggt sich da gerade in der Funkzelle ein.
Etwa 200 Meter, drei Minuten Fußweg, trennen Gina von der Drei-Zimmer-Wohnung, wo die Großmutter und ihre Schwester mit dem Mittagessen warten.
14.06 Uhr ruft die Großmutter Gina an, um zu fragen, wo sie bleibt. Sie bekommt ein Freizeichen, aber niemand nimmt den Anruf an. 14.08 Uhr versucht sie es noch mal, aber jetzt ist das Handy ausgestellt – und wird nie wiedergefunden.
Die Großmutter ruft Freunde, Nachbarn, Lehrer an – vergeblich. Als die Mutter um 20.30 Uhr von der Arbeit kommt, fehlt von Gina noch immer jede Spur. Vesna Krüger meldet ihre Tochter noch am selben Tag als vermisst.
Die Polizei prüft auch, ob ein Streit unter Gleichaltrigen eskaliert sein oder einer von Ginas Ex-Freunden, mit denen sie nicht mehr als ein paar Umarmungen und Küsse ausgetauscht hat, mit dem Verschwinden zu tun haben könnten, doch die Spur führt ins Nichts. „Dass die Jungs sich alle in sie verliebt haben, hat Georgine total überfordert“, sagt ihr Lehrer der Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“.
Mit den Erwachsenen hat Gina weniger Ärger, sie gilt als selbstbewusst, freundlich, fröhlich und ein bisschen naiv. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als sie zwölf war, den Vater trifft sie nur sporadisch. Sie singt und tanzt gerne, ahmt abends im Kostüm vor dem Spiegel die Schritte aus Bollywood-Filmen nach.
Am Tag ihres Verschwindens frühstückt Gina mit Oma und Schwester, will spätestens um 14 Uhr wieder zu Hause sein. Sie trägt gebleichte Jeans, braune Halbstiefel, eine rosa Jacke, ein hellblaues Top, um die Schulter ihre pinkfarbene Eastpak-Tasche, darin ein Handy, eine rosafarbene Geldbörse – auch davon taucht nichts je wieder auf.
Georgine ist zuverlässig, noch nie weggelaufen – und wähnt sich genau an diesem Montag am Ziel ihrer Träume: Eine Casting-Agentur hat ihr eine Statistenrolle in der ARD-Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ angeboten und wartet nur noch auf Georgines telefonische Zusage. Tagesgage: 55 Euro. Kommissar Ruf sagt: „Ein freiwilliges Verschwinden ist komplett auszuschließen.“
DER BESCHULDIGTE
4692 Tage nach Georgines Verschwinden setzt sich Ali K. das erste Mal Ende Juli auf die Anklagebank: 44 Jahre alt, braune Augen, grau meliertes Haar. Der oberste Knopf seines karierten Hemdes ist geöffnet. Der Angeklagte winkt und wirft den Freunden auf der Zuschauerbank eine Kusshand zu, wirkt unbekümmert.
Fünf Monate, 60 Zeugen später verfolgt er noch immer aufmerksam die Verhandlung. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände gefaltet. Wenn er sich ärgert, schüttelt er kaum merklich den Kopf, streicht mit dem Daumen über den Handrücken, als wolle er sich selbst beruhigen.
Im Prozess beruft sich Ali K. auf sein Recht zu schweigen. Er ist in Berlin geboren, mit vier Geschwistern bei seinen Eltern aufgewachsen.
„Eigentlich dachten wir immer, dass wir zurück in die Türkei ziehen würden, die Familie hatte dort mal einen Bauernhof“, sagt seine 39-jährige Schwester Arzu D. im Prozess. Nach dem erweiterten Hauptschulabschluss jobbt er als Hausmeister,
Reinigungskraft und Bauhelfer, lebt aber, seitdem er 25 ist, die meiste Zeit von Hartz IV. 2001 nimmt K. die deutsche Staatsangehörigkeit an. Mit seiner Frau Melek hat er drei
Kinder im Alter von drei, 17 und 22 Jahren. Seit 1985 lebt Ali K. in Moabit. Auf seine Nachbarn, so schildern es die Zeugen im Prozess, macht Ali K. einen netten, hilfsbereiten Eindruck.
Auch mit dem psychiatrischen Sachverständigen hat Ali K. nicht über die Vorwürfe der Anklage gesprochen. Wenn es Ali K. war, sagt der Psychiater Anfang Januar, als er in Saal 537 sein Gutachten vorträgt, gehe er davon aus, dass es Ali K. einerseits um Sexualität gegangen sei. Im Vordergrund der Tat habe allerdings „das Heraustreten aus dem Schatten des armen Würstchens“, die Dominanz, gestanden. Es sei von der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten auszugehen.
Aufdringlich, unheimlich, eklig – so beschreiben junge Frauen, die im Kiez aufwachsen, den Angeklagten. „Der war für alle der Ali“, sagt eine heute 26-jährige Zeugin. Die Anwohnerinnen zeichnen das Bild eines Mannes, der in der Stendaler Straße ständig präsent ist, sich entweder auf der Straße aufhält oder auf dem Balkon seiner Wohnung sitzt und ständig nach jungen Frauen Ausschau hält. Den Jüngeren verspricht er Geschenke, zum Beispiel Kuscheltiere, wenn sie ihm in seinen Keller folgen, den Älteren Handys oder Drogen. Der Keller sei wie eine Wohnung eingerichtet gewesen, sagt eine Zeugin, „mit Lampen, Teppichen und einem Fernseher“.
Immer wieder spricht K. junge Frauen an, macht anzügliche Bemerkungen. Eine andere Zeugin – sie ist 13, als Ali K. sie und zwei Freundinnen in der Straße stellt – erzählt, dass sie sich noch genau an seine Masche erinnere: Ob sie schon mal geküsst oder Sex gehabt hätten, habe K. wissen wollen, und sich dann als Partner angeboten.
Im Jahr 2005 fällt Ali K. das erste Mal der Polizei auf, als er versucht, eine Zehnjährige in sein Auto zu locken, das Verfahren wird eingestellt. Seit 2011 ist Ali K. als Sexualstraftäter aktenkundig. Da spricht er ein Mädchen an, das in einer Wohngemeinschaft für Jugendliche lebt. Er fragt die 17-Jährige, ob sie ein Handy haben wolle, geht mit ihr in den Keller und versucht sie dort zu vergewaltigen. Als sie schluchzt, dass sie noch Jungfrau sei, und verspricht, ihn nicht zu verraten, lässt er von ihr ab. „Er war aggressiv drauf, wütend – ein komplett anderer Mensch.“
Bei der Polizei spricht die Jugendliche den Fall Georgine an, doch man habe sie gebremst, ihr erklärt, dass sie so etwas ohne Beweise nicht behaupten dürfe. K. bekommt wegen sexueller Nötigung und Missbrauchs ein Jahr und acht Monate Haft auf Bewährung. Die Mordkommission erfährt erst Jahre später davon.
DIE FAMILIE VON GEORGINE
Die besonderen Tage sind besonders schmerzhaft für Vesna Krüger: Georgines Mutter kann sich bis heute nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Tochter tot ist. Neujahr hat die 55-Jährige wieder eine Kerze unter Georgines Foto im Esszimmer angezündet und gesagt: „Falls du irgendwo lebst: Ein schönes neues Jahr, meine Gina!“
Ein Sonntag in Köpenick, Mitte Januar. Bei einem Kaffee spricht Vesna Krüger, 55, über ihre Trauer. Die Mutter hat sich längst damit abgefunden, dass die Tragödie um ihre Tochter für sie nie ein Ende finden wird. Verzweifelt hält sie an der Hoffnung fest, dass ihre Tochter noch lebt, dass Georgine von der Vergewaltigung so geschockt war, dass sie weggelaufen ist – und sich nun nicht mehr traut nach Hause zu kommen. „ich wäre ihr nicht eine Sekunde böse“, versichert Vesna Krüger und will nicht akzeptieren, dass es für ihre Hoffnung keinen einzigen Hinweis gibt.
Vesna Krüger erfährt vom Verschwinden ihrer Tochter, als sie am 25. September abends von der Arbeit nach Hause kommt. Vesna Krüger reinigt damals in der Charité die OP-Säle. „Das war ein totaler Schock“, sagt Vesna Krüger bei einem Treffen Mitte Januar. Sie meldet ihre Tochter noch am selben Tag als vermisst.
Am nächsten Tag läuft Vesna Krüger mit einem Foto ihrer Tochter durch den Kiez, abends dehnt die Familie ihren Suchradius aufs Rotlichtviertel aus, um auszuschließen, dass Georgine in schlechte Kreise geraten ist. Das Zimmer ihrer großen Tochter lässt sie unverändert, kauft ihrem Kind noch jahrelang Geschenke zum Geburtstag und Weihnachten, die dann alle unausgepackt in einer Kiste aufbewahrt werden.
Michelle, Michi genannt, Krüger weiß, dass auch das Urteil des Landgerichts die letzte Hoffnung ihrer Mutter nicht zu erschüttern vermag. „Solange Ali K. nicht gesteht, wird es kein Ende geben.“ Michelle Krüger erinnert sich kaum noch an ihr Leben in der Stendaler, sieht Bilder von Kater Felix, der im zweiten Stock zwischen Balkonbrüstung und dem Zimmer von Georgine hin- und herspringt. Und ihrer Schwester, die abends im Glitzertop vorm Flurspiegel Bauchtanz übt. Und später dann die Bilder von ihrer Mutter, die nach dem Verschwinden krank wurde, fast ein Jahr lang kaum aus dem Bett kam, aber manchmal vom Heißhunger auf Schokolade gepackt wurde.
Michi ist sechs, als Georgine verschwand. Ihre große Schwester kenne sie eigentlich nur noch aus Erzählungen und ohne die vielen Fotos, die Mutter und Großmutter in der Wohnung verteilt haben, könnte sie sich auch nicht mehr an Ginas Gesichtszüge erinnern. Dabei ist Michi, wenn sie die Brille abnimmt, ihrer großen Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten, die geschwungenen Augenbrauen, die breite Nase, das lange dunkle Haar. „Ansonsten sind wir aber wie Feuer und Eis“, sagt Michelle Krüger.
Vesna Krüger lacht, es klingt eher fröhlich als wehmütig. „Das Äußere war Gina sehr wichtig. Alles musste schick sein, farblich passen.“ Georgine träumte von einer Karriere als Model, Michi interessiert sich vor allem für Technik, absolviert eine Lehre zur Fachinformatikerin.
Vielleicht liegt es in den Genen, vielleicht aber auch am Schicksal der Schwester, dass sich Michelle Krüger zu ihrem Gegenentwurf entwickelt hat. Denn die unbeschwerte Kindheit fand an diesem 25. September für Michi ein abruptes Ende. Oma und Mutter lassen das Mädchen nicht mehr aus den Augen: Michi darf nicht mehr alleine runter, im Hof nur spielen, wenn ein Erwachsener am Fenster wacht, sie wird zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. „Michelle hat das nie verstanden“, sagt die Mutter. „Aber ich hatte doch schon eine Tochter verloren.“
Es ist ein Segen, dass es Michelle immer wieder gelingt, ihre Mutter aus der Traurigkeit zu reißen – und Fluch zugleich. „Ich kann meine Mutter bis heute nicht weinen sehen.“ Als Vesna Krüger die Kraft für weitere Fernsehauftritte ausgeht, sie aber verhindern will, dass das vermisste Kind in Vergessenheit gerät, übernimmt Michelle. Sie ist da gerade zwölf.
Der Verlust macht Vesna Krüger krank. Ein Jahr lang quält sie sich fast nur aus dem Bett, um Journalisten Interviews zu geben, damit der Fall Georgine nicht in Vergessenheit gerät. Ginas älterer Bruder Tommy - er ist damals 22 Jahre alt und lebt nicht mehr bei der Familie - habe sich bis heute nicht erholt, sagt die Mutter im Prozess. „Auch er ist seelisch kaputt, hat sich total verändert, zurückgezogen.“
Was sie sich vom Urteil erhoffen? „Lebenslang“, sagt Vesna Krüger. „Für meine Tochter und die anderen Mädchen.“
DIE VERDECKTEN ERMITTLER
Der Fall ist längst ein Cold Case, als Ali K. ins Visier der Polizei rückt. Erst im April 2016, also vier Jahre nach dem Urteil, erfahren die Mordermittler, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft ein verdächtiger Sexualstraftäter lebt. Die Überprüfung der Funkzellendaten ergibt, dass das Handy von Ali K. am Tag des Verschwindens im selben Bereich wie Georgines Telefon eingeloggt war. Um 13.14 Uhr, 14.25 Uhr, 14.32 Uhr und 15.13 Uhr. Doch wie soll man einen Mörder zehn Jahre nach der Tat noch überführen? Ohne einen Beweis, eine einzige DNA-Spur?
Die Polizei überwacht die Telefone der Familie K., schneidet Tausende Gespräche mit, dann entschließt sich die Staatsgewalt zu einem ungewöhnlichen Schritt: Sie setzt drei verdeckte Ermittler auf Ali K. an. Im Juni 2017 taucht „Hakan“ das erste Mal im Moabiter Kiez auf, der Legende nach ein Geschäftsmann aus Frankfurt am Main, der jetzt Reinigungsmittel in Berlin verkaufen will. Hakan mietet eine Wohnung in der Rathenower Straße, setzt sich in Restaurants und Cafés, um Kontakte zu knüpfen. An seiner Seite taucht eines Tages „Kara“ auf, angeblich sein Geschäftsfreund und Cousin mütterlicherseits, ein sportlicher Typ, attraktiv, vermögend.
Es dauert nur einige Wochen, bis Ali K. den Weg der beiden kreuzt, sich die Männer anfreunden. Als Ali K. Hakan zu sich nach Hause einlädt, ist die erste Hürde genommen. „Er war etwas schüchtern, fast verlegen, als ob er uns stören würde“, sagt Ehefrau Melek K. als Zeugin. Hakan habe dann gefragt, ob sie sich um seine deutsche Freundin „Susann“ – in Wahrheit die dritte verdeckte Ermittlerin – kümmern könne. Melek K. ist einverstanden, will „Susi“ beibringen, türkisch zu kochen.
Die Drei schleichen sich ins Herz der Familie K. ein. „Ali war glücklich. Hakan hatte ihm wohl einen Job in einer Autowaschanlage in Aussicht gestellt, nicht unter 4000 Euro monatlich“, sagt seine Schwester Arzu D. Man trifft sich regelmäßig zum Kaffeetrinken und Essen, macht gemeinsame Ausflüge. Mit dem ältesten Sohn von Ali K. fahren die Männer in Karas Mercedes umher, der Jüngsten schenken sie Spielzeug, was zum Anziehen, und alle zusammen spielen auf dem Balkon „Mensch ärgere dich nicht“. Oft ziehen die Männer auch alleine los, vertreiben sich die Zeit im Café, schauen Fußball oder gehen ins Bordell „Artemis“. „Der Angeklagte zeigte sich in Gesprächen vielseitig sexuell interessiert, nicht auf einen bestimmten Frauentyp festgelegt und auch professionellen Dienstleistungen gegenüber aufgeschlossen“, heißt es in der Anklageschrift. Die Zeche übernehmen Hakan oder Kara.
Für seine neuen Freunde vernachlässigt Ali K. die alten. Im Prozess sagt sein Sohn, das Trio sei ihm unangenehm protzig vorgekommen, sein Vater aber in ihrer Gesellschaft geradezu aufgeblüht. „Er ist Sportwagen gefahren und war jeden Tag unterwegs mit denen. Er hatte ein Grinsen im Gesicht.“
Der sonst eher wortkarge Ali K. taut auf. Da vertraut Kara dem Familienvater an, dass er Angst habe, weil seine Freundin ihn erpressen könne. Sie habe herausgefunden, dass er jemanden umgebracht habe, und könne dies beweisen. Nun müsse er sie loswerden. 150.000 Euro Kopfgeld sei ihm das wert. Ali K. bietet seine Hilfe an.
Offenbar buhlt Ali K. regelrecht um den Auftrag, versichert, dass auch er bereits einen Menschen getötet habe. So beschreibt es die Dolmetscherin im Zeugenstand, die das aufgezeichnete Gespräch übersetzt hatte. Nein, Reue habe sie nicht gehört. „Es war mehr so wie: Ich erzähle dir ein Geheimnis.“ Wer, wo, wann? Ali K. bleibt zunächst vage.
Die Ermittler nutzen jede Gelegenheit, um die Sprache auf Georgine zu bringen: ein neuer Zeugenaufruf, ein Flyer, die Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ ... Hakan und Kara berichten, dass Ali K. auf Neuigkeiten auffällig reagiert, nervös wirkt, sogar errötet. Am 30. Oktober 2018 kommt es zum Durchbruch. Ali K. begleitet Kara nach Frankfurt am Main, sechs Stunden lang unterhalten sich die beiden Männer: im Auto, im Restaurant, im Bordell. Rund 200 Seiten umfasst die Abschrift des Bandes, auf dem Ali K. sein Geständnis ablegt.
Er vertraue Kara jetzt zu „hundert Prozent“. Es sei „Georgina“ gewesen, „Georgina Krüger“. Er sei „krank“ nach „diesem Mädchen“ gewesen. Sie sei wie ein Mannequin gewesen. Sie hätten sich vom Hallo-Sagen gekannt. Als er sie um Hilfe beim Tragen bat, sagte sie „kein Problem“ und folgte ihm in den Keller. Unten sei er „durchgedreht“, habe die Tür geschlossen, das Licht ausgeschaltet. „Ich habe sie gehauen. Sie war weg. Sie war bewusstlos.“
Fast eine Dreiviertelstunde schildert Ali K. das Geschehen: wie er das reglose Mädchen vergewaltigt und anschließend erwürgt. Georgines Leiche habe er in Plastiktüten und einen Teppich eingewickelt, in einem Müllcontainer auf seinem Hof geworfen, ihr Handy mit einem Hammer zertrümmert und die Reste in der Toilette heruntergespült.
Am 4. Dezember 2018 wird Ali K. verhaftet. Bei der Polizei bestreitet er die Vorwürfe: Als er merkte, dass Kara ihn „verarscht“, habe er behauptet, schon mal jemand getötet zu haben, damit ihm der falsche Freund vertraue. Es sei eine Lüge. Als er diese Geschichte später Georgine als Opfer zuschrieb, habe sich Kara über die Antwort gefreut und nach Einzelheiten gefragt. Dabei, beteuert Ali K., kannte er Georgine gar nicht, nicht einmal vom Sehen. Ali K. gibt in der Vernehmung zu, dass er die Geldübergabe sehnsüchtig erwartet habe – aber nur, weil er mit dem Geld zur Polizei gehen und Kara hinter Gitter habe bringen wollen.
Damit sie weiter verdeckt ermitteln können, sagen die Beamten per Videovernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Verteidiger Fabian Mirtschew argumentiert, durch das „Einschleichen in die Familie“ sei die vermeintliche Beichte seines Mandanten begünstigt worden. „Ali K. hat gelogen, um Kara zu gefallen.“ Zu dem falschen Geständnis sei es nur „durch eine polizeilich vorbereitete Selbstbelastungsprovokation“ gekommen.
Das Gericht muss nun darüber entscheiden, wie glaubhaft diese Aufnahmen sind und was für eine Verurteilung verwertbar ist.
DIE FAMILIE DES BESCHULDIGTEN
Der eigene Vater, der Ehemann – ein Kindermörder? Wer will, wer kann sich das vorstellen, ohne in Verzweiflung zu stürzen? Es ist Anfang November und es läuft im Prozess bislang nicht gut für Ali K., als seine Ehefrau Melek K., 46, im hellen Mantel vor dem Richter steht. Sie verzichtet auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht, als sie mit fester akzentfreier Stimme erklärt: „Ich will aussagen.“
Melek K. ist gekommen, um ihren Ehemann zu verteidigen. Sie nimmt ihn in Schutz, wo sie kann. Was sie zu seiner Verurteilung wegen sexueller Nötigung sagt, will der Vorsitzende Peter Faust wissen. „Die Mädchen aus der WG im Haus gegenüber haben sich an Ali rangemacht.“
Der Richter fragt nach den jungen Frauen, die davon berichten, dass Ali K. oft anzüglich wurde, einige aufgefordert hatte, mit ihm im Auto umherzufahren. Die Ehefrau antwortet: „Ich habe nichts über Sexuelles gehört oder mit eigenen Augen gesehen.“
Zwei überwachte Telefonate beweisen, dass sie ihrem Mann nicht getraut hat. „Ich habe Angst um meine Kinder“, sagte Melek K. ihrer Freundin. Sie habe ihren Sohn gebeten, darauf zu achten, dass Ali K. niemals mit ihren Töchtern allein sei. Ein anderes Mal stritt sie mit ihrem Mann am Telefon: „Was hast du für eine Dreckigkeit in dir. Du bist nicht normal!“
Nach der Pause entschließt sich Melek K., vermutlich auf Rat der Anwälte ihres Mannes, zu schweigen. Danach tritt der Sohn von Ali K. in den Zeugenstand, 22 Jahre alt, Polizist. „Er ist für mich der perfekte Vater. Er hat nie die Hand erhoben. Ich habe alles bekommen, auch meine Schwestern.“ Er habe Ali K. nach dessen Festnahme fest in die Augen geblickt und gefragt, ob er Georgine getötet habe. Der Vater beteuerte, unschuldig zu sein. Das Geständnis sei falsch, sein Vater habe sich verführen lassen, „weil ihm Geld angeboten wurde“.
Richter Faust lässt nicht locker, will wissen, ob ihm, dem Polizisten, die Ermittlungsergebnisse nicht zu denken geben. „Ich habe das Für und Wider gegenübergestellt und kam zu der Entscheidung, dass er es nicht war.“
Jetzt wird es sehr still im Saal. Nach einer Pause sagt der Sohn leise: „Er ist eben der Vater.“
DER ERMITTLER
Es gibt niemanden, der sich besser mit dem Fall Georgine auskennt als er: Thomas Ruf, 57 Jahre alt, Kriminalhauptkommissar, Sachbearbeiter der 6. Mordkommission. „Bereits drei Tage nach dem Verschwinden übernahmen wir den Fall“, sagt der Ermittler im Zeugenstand. Seine Vernehmung am zweiten Prozesstag zieht sich über Stunden hin, er scheint sich an jedes Detail zu erinnern.
Es beginnt eine einzigartige Aktion: Rund 300 Gebäude durchsucht die Polizei, Dachböden und Keller, Grünflächen und Gewerbehöfe. Fahnder kleben mehr als tausend lebensgroße Fahndungsplakate an Häuserwände. Lautsprecherwagen fahren mit Aufrufen in deutscher und türkischer Sprache durch den Kiez. Ermittler überprüfen Alibis von rund 150 bekannten Sexualstraftätern, die in dem Postleitzahlenbereich wohnen. Und finden: nichts.
336 Hinweise arbeiten die Ermittler im Lauf der Jahre ab: anonyme Anrufer, die angeblich wissen, wo die Leiche liegt. Zeugen, die Georgine noch Wochen später lebend gesehen haben wollen. Häftlinge, die behaupten, den wahren Mörder zu kennen, und sich von dem „Tipp“ Hafterleichterungen versprechen. Hinzu kommen Seher, Wahrsager und andere Spinner. Es ist auch Rufs Hartnäckigkeit zu verdanken, dass es doch noch zum Verfahren kommt. „Ich habe den Vorgang nie weggelegt“, sagt Ruf. Anfang 2016 erreicht ihn endlich die Information, dass in der Stendaler Straße ein bislang unbekannter potenziell Verdächtiger leben könnte. Die Ermittler nehmen Ali K. ins Visier.
Aber hat sich Ali K. sein Geständnis nur ausgedacht, um den verdeckten Ermittler Kara zu beeindrucken?
Rechtsmediziner Michael Tsokos bezweifelt das. Er sagt im Prozess als sachverständiger Zeuge aus. Der Angeschuldigte habe das Geschehen, also das Töten, so detailliert geschildert wie es sonst fast nur ein Rechtsmediziner vermöge. Dass das Erwürgen eines Menschen so viel Kraft koste, dass es am nächsten Tag zum Muskelkater in den Unterarmen kommen könne, sei ein Phänomen, das sich selbst im Internet nicht nachlesen lasse. Roland Weber, der für Vesna Krüger die Nebenklage vertritt, weist noch auf ein anderes Detail hin: In seinem Geständnis sagt Ali K., dass es ihm „keinen Spaß“ bereitet habe, das bewusstlose Mädchen zu vergewaltigen. Weber fragt: „Warum sollte er so etwas erfinden, wenn er es nicht selbst erlebt hätte?“
DER RICHTER
Kein Platz bleibt leer auf den Zuschauerbänken, als am 31. Juli 2019 der Prozess beginnt. Ali K. wird von zwei Verteidigern vertreten. Für die Familie der Vermissten sind drei Rechtsanwälte mit im Saal. Die Anklage lautet auf schwere Vergewaltigung und Mord zur Verdeckung einer anderen Straftat.
Für Peter Faust, den Vorsitzenden der 22. Großen Strafkammer, ist es der letzte Prozess. In Moabit gilt Faust als „Urgestein“, ein erfahrener, fairer Jurist, der in seiner Karriere schon etliche spektakuläre Verfahren entschieden hat. Faust ist seit 1985 Richter und seit 1995 als Vorsitzender für schwere Verbrechen an Leib und Leben zuständig. Als Leiter einer Strafvollstreckungskammer entschied er auch darüber, ob ein Straftäter vorzeitig auf Bewährung freikommt.
„Lebenslänglich“ verhängt Faust beispielsweise über Krankenschwester Irene B., den „Todesengel“ der Charité, wegen fünffachen Mordes an Patienten. Seinen Schuldspruch gegen die Arzthelferin Monika de Montgazon hebt der Bundesgerichtshof hingegen wieder auf. Faust hat die Arzthelferin wegen Mordes an ihrem Vater verurteilt, Brandstiftung und Versicherungsbetrugs. Sie kommt im Jahr 2012 nach 889 Tagen im Gefängnis wieder frei.
Eine schwere Zeit erlebt Faust am Landgericht im Jahr 2015, als er von der "Bild"-Zeitung als schlampigster Richter Deutschlands vorgeführt wird, weil er Akten liegen ließ, Fristen versäumt haben soll und die Justiz deshalb Beschuldigte wieder laufen lassen muss.
Auf Öffentlichkeit hat es der Motorradfahrer Faust, der, bevor er sich in seine Richterrobe überzieht, meist in Jeans und Turnschuhen unterwegs ist, nie abgesehen. Der taz sagte er 2007 in einem seiner spärlichen Interviews einmal auf die Frage, ob er noch an das Gute im Menschen glaubt: „Ein gewisser Zynismus hat sich sicher eingeschlichen. Dafür habe ich zu viele schlimme Dinge gehört und gesehen. Aber ich versuche, dagegen anzukämpfen.“
Offenbar hat Faust damit gerechnet, dass ihn die Pension vor dem Urteil einholen könnte: Seit dem ersten Prozesstag sitzt eine Ergänzungsrichterin mit im Saal, die mit seinem Ausscheiden in die erste Reihe der Richterbank aufrutschen wird. Das Programm ist eigentlich seit Ende Dezember abgearbeitet, doch die beiden Verteidiger stellen immer neue Beweisanträge. Fragen zum weiteren Zeitplan bügelt Faust Mitte Januar knapp ab. „Es gibt leider kein Recht darauf, dass das Gericht seine Pläne offenlegt.“
Nun hat das Berliner Landgericht hat drei weitere Verhandlungstage anberaumt. Nach der neuen Terminlage könnte das Urteil am 3. März gesprochen werden. Freispruch oder lebenslange Haft? Wie auch immer das Urteil ausgeht: Es ist mit Revision der unterlegenen Seite zu rechnen. Dann geht der Fall zum Bundesgerichtshof.