Ermittlungen in Berlin: Neue Ungereimtheiten im Fall Georgine
Mehrfach hatte die Polizei mit Georgines mutmaßlichem Mörder zu tun. Jetzt wird bekannt: Schon 2009 war er ins Visier der Ermittler geraten.
Die Berliner Polizei und die Generalsstaatsanwaltschaft haben sich am Mittwoch zu Pannenvorwürfen im Fall der vermutlich ermordeten Georgine Krüger geäußert - und konnten die Vorwürfe doch nicht ausräumen. Vielmehr ergeben sich neue Ungereimtheiten. Polizeiintern ist von verschiedenen Seiten sogar von systematischen Problemen beim Informationsaustausch die Rede.
Die beiden Behörden gaben am Mittwoch sogar zu, dass Ali K. weitaus früher - als bislang bekannt - ins Visier der Ermittler geraten war. Bereits im Juli 2009 war er der Polizei aufgefallen - drei Jahre nachdem Georgine spurlos verschwunden war. Dennoch blieb der Mann auf freiem Fuß und konnte weitere Sexualstraftaten begehen.
In der vergangenen Woche hat die Polizei den 43-jährigen Familienvater festgenommen. Er sitzt in Untersuchungshaft wegen des dringenden Tatverdachts, die damals 14-jährige Georgine am 25. September 2006 in seinen Keller in Moabit gelockt, dort sexuell missbraucht und ermordet zu haben. Georgine lebte damals in unmittelbarer Nachbarschaft in der Stendaler Straße.
43-Jähriger in Untersuchungshaft
Der dreifache Familienvater war bereits wenige Tage nach dem Verschwinden von Georgine als Zeuge befragt worden und hatte erklärt, das Mädchen nicht zu kennen. Im Juli 2009 soll K. zwei damals 11- und 13-jährige Mädchen mit anzüglichen Äußerungen belästigt haben. Nach einer Anzeige wegen Beleidigung landete der Fall im für Sexualdelikte zuständigen LKA-Dezernat 13. In derselben Abteilung 1 ist im Dezernat LKA 11 auch die Mordkommission angesiedelt, die den Fall Georgine bearbeitet. Auch die Mordermittler wurden informiert.
Gegenüber den LKA13-Ermittler bestritt K. "Äußerungen mit sexuellem Hintergrund". Zu Georgine sagte er, dass ihm bekannt sei, dass ein Mädchen verschwunden sei. Die Ermittler befanden, der Fall der beiden 11- und 13-jährigen Mädchen sei strafrechtlich nicht relevant, das Verfahren wurde eingestellt. Auch die Mordkommission habe keine Ansätze für erfolgversprechende Ermittlungen im Fall Georgine erkannt.
Der zweite Fall ereignete sich im Jahr 2011. Gegen Ali K. war damals ermittelt worden, 2012 erging gegen ihn ein Bewährungsurteil - weil er eine damals 17-Jährige in seinen Keller zerrte und vergewaltigen wollte. Wie die heute 24-Jährige der "B.Z." berichtete, habe K. sie geschlagen, begrapscht und versucht, sie zu küssen. Weil sie gesagt habe, sie sei noch Jungfrau, habe er von ihr gelassen. Zudem habe sie versprechen müssen, nicht mit der Polizei zu sprechen. Die junge Frau ging dann doch zur Polizei.
2012 erging gegen Ali K. Bewährungsurteil
Die damals 17-Jährige hat nach eigener Darstellung im Polizeiabschnitt 33 Anzeige erstattet - und hat die Beamten darauf hingewiesen, dass K. auch mit dem Fall Georgine zu tun haben könnte. Doch anstatt dem Verdacht nachzugehen, sollen die Beamten sie gemaßregelt haben: Ohne Beweise solle sie die Anschuldigung nicht wiederholen.
Polizei und Staatsanwaltschaft erklären nun: Zwei Kripobeamte in der Direktion 3 hätten das Opfer vernommen. Es habe eine "umsichtige und von Erfahrung geprägte Arbeitsweise", heißt es in der Stellungnahme von Mittwoch. Kontaktpersonen aus dem Umfeld des Opfers seien vernommen worden, der Tatort durchsucht und Ali K. eine Speichelprobe für die DNA-Datei entnommen worden.
„Ob Äußerungen durch die Geschädigte mit Hinweis auf Georgine fielen, ist nicht dokumentiert und somit nicht mehr nachvollziehbar“, heißt es in der Erklärung. Auch bei weiteren Vernehmungen habe das Opfer nichts mit Bezug auf Georgine gesagt. Vielmehr sei sie gefragt worden: „Haben sie noch etwas anzugeben, was bislang nicht zur Sprache kam?“ Doch das Opfer – das bei der ersten Vernehmung brüsk abgewiesen wurde – habe keine weiteren Angaben gemacht.
Zu Frage, ob die Ermittler nicht spätestens 2012, als Ali K. wegen der Sexualstraftat verurteilt worden war, hellhörig werden müssen, erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft nun: „Eine Erfassung aller Befragten im polizeilichen Informationssystem erfolgt jedoch standardmäßig nicht. Somit war für andere Dienststellen nicht erkennbar, dass der Tatverdächtige damals im Zuge der Hausermittlungen aufgesucht wurde.“
Das Problem: Der Fall wurde gar nicht erst an die für den Fall Georgine zuständige 6. Mordkommission weitergeleitet. In der Stellungnahme von Mittwoch erklären sich Polizei und Staatsanwaltschaft mit keinem Wort dazu.
Weiterer Fall im Januar 2014
Im Januar 2014 soll K., noch auf Bewährung, erneut versucht haben, eine 14-Jährige aus der Nachbarschaft in den Keller zu zerren. Doch damit befasste Beamten schrieben nur einen Tätigkeitsbericht: Keine Straftat, auch weil K. nicht vorbestraft sei.
Nun erklären Polizei und Staatsanwaltschaft: „Eine Abfrage der Person im polizeilichen Informationssystem führt auch nicht unweigerlich zur Feststellung einer einschlägigen Vorstrafe.“
Polizeibeamte berichten dem Tagesspiegel hingegen, dass Sexualstraftäter in den Datensystemen mit „personenbezogenen Hinweisen“ gekennzeichnet werden - wie auch Gewalttäter oder Drogendealer. Es ist ein Warnsystem. Bei dem Fall im Jahr 2014 wurde das LKA offenbar gar nicht erst eingeschaltet, ob es einen DNA-Abgleich gab, ist fraglich.
Die Mordkommission ist erst im Frühjahr 2016 auf den Zusammenhang gestoßen, als sie die Zeugenliste nochmals abgeglichen hat. Dabei stießen die Ermittler auf den Fall aus dem Jahr 2011, stellten Parallelen bei der Begehungsweise und der örtlichen Nähe fest. Auch die Opfer aus den Jahren 2009 und 2011 wurden vernommen. Im Frühjahr 2017 hätten Mordkommission und Staatsanwaltschaft dann den Tatverdacht gegen K. als bestätigt gesehen. Grund waren auch Erkenntnisse aus der Abfrage der damaligen Handyfunkzellen und Ergebnisse einer Telefonüberwachung. Es sei ein „auffälliges Interesse an minderjährigen Mädchen“ bei K. festgestellt worden.
Ein verdeckter Ermittler wurde auf K. angesetzt, K. soll ihm die Tat gestanden haben. Der Beamte zeichnete alles auf. Anfang vergangener Woche schlug die Polizei zu. Es dauerte 12 Jahre, bis die Polizei den mutmaßlichen Täter fassen konnte. Der Ermittlungserfolg wird durch die nun bekannt geworden Pannen überschattet.
Norbert Cioma, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sagte: „ Wir können die gemeinsame Stellungnahme nachvollziehen, auch wenn sicherlich ein paar Fragen offenbleiben, gerade was den Datenaustausch zwischen einzelnen Dienststellen angeht.“ Bei Massenbefragungen erscheine nicht jede potentielle Zeuge in den Akten. Es sei auch nicht selbstverständlich ist, dass ein Sachbearbeiter hier überhaupt einen Zusammenhang erkannt habe. „Folgt man den Darstellungen, waren vielleicht Ansätze vorhanden, wir haben aber keine Zweifel an den Schilderungen der Kollegen, dass bei den Befragungen nicht mehr herausgekommen ist“, sagte Cioma.
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Alexander Fröhlich