West-Berlin: Bürgerliche Szene
Offenheit und Entspanntheit, ein Klima, in dem Neues gedeihen kann – wo wäre das in Berlin heute zu finden? Wohl eher abseits der erst gehypten, dann im Verdrängungskampf sich aufreibenden sowie schließlich verneubürgerlichten und verlangweiligten (Ex-)In-Bezirke. Ein Kommentar.
Wenn es um West-Berlin geht – in Medien, Internet-Debatten, Kneipengesprächen –, gehört das Adjektiv „alt“ irgendwie dazu, gern auch noch „piefig“. Das „alte, piefige West-Berlin“ – die Wortkombination ist ein ähnlicher Sprachstandard wie der „triste Plattenbau“ oder der „Kardinal“, der, wenn er etwas sagt, meist etwas „geißelt“. Lange Jahre nach der Wende war es für Neu-Berliner geradezu undenkbar, nicht nach Prenzlauer Berg, Mitte oder Friedrichshain zu ziehen, vielleicht noch nach Kreuzberg, in Teile Weddings, Schönebergs oder in den Norden Neuköllns, zusammengenommen so eine Art Ehren-Osten. Charlottenburg, Friedenau und Wilmersdorf, von exotischen Gegenden wie Tempelhof, Steglitz oder Zehlendorf fangen wir gar nicht erst an, waren jwd. Das alte, piefige West-Berlin war abgemeldet, galt als Hipness-Verlierer des Mauerfalls. Hier wollte keiner hin, obwohl alle nach Berlin wollten. Die Musik spielte im Osten der Stadt. Dort waren die von der DDR hinterlassenen Freiräume, die Ruinen und Brachen, ohne die sich Subkultur angeblich nicht entfaltet.
Dabei war doch im Westteil der Stadt zu Mauerzeiten gut was los. Dies belegt einmal mehr die Ausstellung „West:Berlin. Eine Insel auf der Suche nach Festland“ im Ephraim-Palais, die Politik, Wirtschaft, Architektur und Kultur der Mauerstadt ins Licht rückt. Vom subkulturellen Kreuz- und Schöneberg bis zur City West, die mit dem Amerika- und dem Bikini-Haus aktuell wieder angesagt ist. Im Rahmenprogramm ging es zum Beispiel um die Musikszene. Beim „West-Berlin-Musiktalk“ von "Radio Eins" dabei war Kulturstaatssekretär Tim Renner, selbst gebürtiger Berliner (West) und Teil der Achtzigerszene.
"Subventionsfern in ihrem Tun"
Jörg A. Hoppe hat zwar mit dem Film „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin“ gerade seinen Teil zur West-Berlin-Nostalgie beigetragen. Der Impresario, einst Manager des Techno-Miterfinders Westbam, sagte aber auch, dass ihn Musik heute eigentlich nicht mehr interessiert. Er arbeite lieber mit Youtubern, teilte er ausgerechnet beim Musiktalk mit. Die Videokünstler, die jungen Digitalen, seien ein „Melting Pot für eine neue Szene“, ein Schmelztiegel, von der Anziehungskraft her der experimentellen Musikszene West-Berlins durchaus ähnlich.
„Subventionsfern in ihrem Tun“ (Renner über die Achtzigerkünstler) ist diese neue Szene in jedem Fall. Sie machen einfach. Die Worte des Staatssekretärs sind durchaus als Seitenhieb auf staatlich geförderte Theatergrößen, die ihm derzeit Stress bereiten, interpretierbar. Um Berlin attraktiv zu halten, schweben Renner weniger direkte Kultursubventionen als Hilfen bei der Infrastruktur vor. Liegenschaften des Landes müssten mit Blick auf kulturelle Ziele vergeben werden. Clubs müsste beim Lärmschutz geholfen werden, damit nicht ein genervter Nachbar einen Club schließen lassen kann. In der Mauerstadt habe es eine Offenheit gegeben, die nun nicht alle Zugereisten teilten, sagte Renner bemerkenswert deutlich.
Offenheit und Entspanntheit, ein Klima, in dem Neues gedeihen kann – wo wäre das in Berlin heute zu finden? Wohl eher abseits der erst gehypten, dann im Verdrängungskampf sich aufreibenden sowie schließlich verneubürgerlichten und verlangweiligten (Ex-)In-Bezirke.
Die „New York Times“ hat einem Abgesang auf Berlin nun eine Hommage an, genau, Wilmersdorf folgen lassen. Genauer: die Rüdesheimer Straße. Mehr Mitteferne geht nicht. Als attraktiv beschrieben wird die Bürgerlichkeit, die diese Gegend ausstrahlt. Eine gewachsene, nicht durch Verdrängung und Gentrifizierung erzwungene Bürgerlichkeit. Dass hier Kultur, Gegenkultur, gedeihen kann, zeigt die weiter zurückgreifende Berlinhistorie anhand der Künstlerkolonie Wilmersdorf, einst kultureller Hotspot der Hauptstadt.
Berlin muss nicht dauernd bang auf die „New York Times“ und andere internationale Medien blicken. Aber letztlich ist die Stadt auch auf das dort transportierte Image angewiesen, um Talente anzulocken, um als Tourismusziel interessant zu bleiben. Ruinen und Brachen werden dabei hoffentlich weniger wichtig.
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Markus Hesselmann
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