Berlin-Wilmersdorf: Warum die "New York Times" die Rüdesheimer Straße so mag
Die Rüdesheimer Straße in Wilmersdorf gehört zu den zwölf schönsten Straßen Europas – jedenfalls für die „New York Times“. Wer dort wohnt, wundert sich ein wenig über die internationale Aufmerksamkeit.
Hier gibt es keine Bio-Burger-Restaurants, kein veganes Eis und auch keine Cafés, in dem junge Menschen vor ihrem MacBooks Flat Whites trinken. Dafür gibt es hier zwei Optiker, einen Uhrmacher und ein Blumengeschäft, das hier schon seit den 1920er Jahren Hortensien und Geranien verkauft. Hier, das ist in der Rüdesheimer Straße in Berlin-Wilmersdorf – eine der zwölf schönsten Straßen Europas, wie die „New York Times“ jetzt befand. „Ordentlich und zutiefst bürgerlich“, nannte der amerikanische Journalist Joshua Hammer, der derzeit mit seiner Familie in Berlin lebt, die unscheinbare Straße im Süden Wilmersdorfs.
„Langweilig und irgendwie spießig“, finden zwei junge Mädchen, die auf einer Bank am Rüdesheimer Platz in der Sonne sitzen und Eis essen. Sie sind in Friedenau groß geworden und verbringen ihre Freistunden gern am „Rüdi“. Ob sie es schön finden hier? „Also da fallen mir locker zwölf Straßen ein, die schöner sind“, sagt eines der Mädchen. „Ja locker, allein in Kreuzberg“, fällt ihr die andere ins Wort.
Im Sommer fließt der Wein
Typisch für das hippe Berlin, über das internationale Medien sonst gern berichten, ist die Rüdesheimer Straße gewiss nicht. Viel mehr erinnert die kleine Einkaufsstraße mit den Jahrhundertbauten im englischen Landhausstil an das Stadtzentrum einer mittelgroßen Weinstadt. Auf dem Platz plätschert der Brunnen. Nebenan ruht eine riesige Statue des Nibelungenhelden Siegfried. Der Bezug zur hessischen Weinkultur kommt nicht von ungefähr: Der Unternehmer Georg Haberland hatte 1905 die Gestaltung des Rheingauviertels initiert. Der Rüdesheimer Platz ist noch heute das Herzstück des Viertels. So intakt wie die 1910 erbauten Häuser, ist auch die Weinkultur: Weinmotive wie Trauben, Weinlaub und Schädlinge zieren den U-Bahnhof Rüdesheimer Platz, und auf dem Platz selbst bieten Winzer aus dem Rheingau jedes Jahr von Mai bis September ihre Weine an.
„Im Sommer blüht die Gegend wieder richtig auf“, sagt Marion Freydank, die seit 25 Jahren in einer Bäckerei in der Rüdesheimer Straße arbeitet. Am Wochenende vom 9. und 10. Mai wird auf dem Rüdesheimer Platz die Weinfest-Saison eingeläutet. „Dann kommen die Leute wieder aus ganz Berlin zu uns,“ erzählt Freydank.
Fast wie auf dem Oktoberfest
Aber warum die Straße es jetzt sogar in New York zu Berühmtheit gebracht hat, versteht die Bäckerei-Verkäuferin auch nicht. Sie tritt für einen Moment aus der Backstube und deutet auf den Laden neben ihr: „Hier gibt es ja sogar Leerstand.“ Der Nachbar habe sein Café wegen Problemen mit dem Gebäude schließen müssen. Der beliebte Italiener um die Ecke renoviere auch gerade. „Viel zu sehen gibt es hier nicht“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Dann hellt sich ihr Gesicht auf, sie deutet auf das grün angestrichene „Café Achteck“ – die scherzhafte Bezeichnung für das historische Toilettehäuschen, das aus dem Jahr 1900 stamme. Vom Wochenmarkt gegenüber ziehen Frauen mit vollen Körben vorbei. Immer dienstags und freitags verkaufen Bauern aus dem Umland hier Beelitzer Spargel, eingelegten Kürbis und Senfgurken.
„Es ist nicht unbedingt ein junges oder diverses Viertel“, sagt Alexander Franke, ein Student, der knapp zwei Jahre in der Nähe des Rüdesheimer Platz gewohnt hat. „Aber wo sonst in Berlin gibt es schon so eine Art Biergarten?“, sagt der 26-jährige Student, der ursprünglich aus München kommt. Besonders an dem Weinfest sei auch, dass man auch mal sein eigenes Essen mitbringen kann - fast wie auf dem Oktoberfest.
Vor sechs Monaten ist Franke von Wilmersdorf nach Wedding gezogen. Doch zum Rüdesheimer Platz kommt er immer noch gern: „Der Platz liegt auf meinem Weg zur Uni, perfekt also für ein Glas Wein auf dem Nachhauseweg“, sagt der 26-Jährige. Für das Weinfest im Mai hat er sich schon verabredet.
Luisa Jacobs