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Hinweisschild für die Transitstrecke nach Westberlin
© Imago

Music Talk mit Tim Renner: West-Berlin: Scheitern erlaubt

Iggy Pop eingesperrt in der Telefonzelle oder im Schlafanzug zum Bäcker: Irgendwie hat doch jeder seine ganz eigene West-Berlin-Geschichte. Beim Music Talk in der Nikolaikirche erzählten Tim Renner, Westbam und Annette Humpe von den Mythen der Stadt.

Tim Renner fühlt sich augenscheinlich ganz wohl an diesem Dienstagabend in der Nikolaikirche, in dieser siebenköpfigen Runde, in der neben ihm unter anderem der Musik- und Filmproduzent Jörg A. Hoppe, die einstige Ideal-Musikerin Annette Humpe und DJ Westbam sitzen. Was kein Wunder ist, denn es geht hier nicht um seine Pläne für die Volksbühne, um den immer heftiger werdenden Berliner Theaterkampf, sondern um West-Berlin. Darum, was damals auf der Westseite der Mauerstadt alles so los war, wie sich das Leben seinerzeit anfühlte und was sich davon womöglich erhalten hat.

Renner, gebürtiger West-Berliner, aufgewachsen in Hamburg, muss nicht allzu viel reden – und darf sich dann der Abwechslung halber einmal erinnern, wie er Anfang der achtziger Jahre sein Kassettenfanzine „Festival der guten Taten“ gründete und dafür unter anderem den ebenfalls neben ihm in der Runde sitzenden Tödliche-Doris-Mastermind Wolfgang Müller in dessen 30-qm- Hinterhauswohnung mit Außentoilette interviewte. Oder er darf auf die nicht besonders ausgeprägten Labelstrukturen in West-Berlin verweisen, darauf, dass die großen Labels wie auch die Indie-Labels in den großen Städten im Westen, in der Bundesrepublik saßen, aber nicht in West-Berlin. Da gab es nur den Zensor, das Hansa-Label, bei dem Mitte der achtziger Jahre Dieter Bohlen Hausproduzent wurde, und schließlich das Techno-Label Low Spirit, der ersten Heimat von Westbam.

Jeder hat seine eigene West-Berlin-Geschichte

In seiner Einleitung hatte Moderator Andreas Müller angekündigt, in dem sogenannten, vom Stadtmuseum Berlin und dem rbb-Sender Radio eins veranstalteten „West Berlin Music Talk“ womöglich ein paar Mythen über West-Berlin richtig stellen zu wollen, gerade angesichts der eher zu- als abnehmenden Flut von West-Berlin-Büchern, -Filmen und -Erinnerungen, von Wolfgang Müllers Müller-und-Tödliche-Doris-Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“ über Oskar Roehlers „Mein Leben als Affenarsch“ (als Buch wie Film) bis hin zu dem Film „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin“. Doch ist an diesem Abend unter dem am Kreuz hängenden Jesus naturgemäß vor allem Erinnerung Trumpf. Es gibt zwar keine Verklärung, aber doch haufenweise Anekdoten.

Jeder hat nun einmal seine ganz eigene West-Berliner Geschichte, und die besten, das weiß natürlich jeder, der Thorsten Beckers "Bürgerschaft" gelesen hat, erzählte man sich auf den Transit-Strecken von und nach West-Berlin.

Kunst, Kultur, Spaß, Leben, Drogen - alles ohne Geld

Humpe sagt, dass die Mauerstadt für sie "ein Schutzraum" gewesen sei; Westbam berichtet von seinem DJ-Initiationserlebnis im Metropol; der Musiker Lüül, der als gebürtiger Berliner die hiesige Szene vom Krautrock über die Neue Deutsche Welle bis hin zu seinem heutigen Engagement bei den 17 Hippies mitgeprägt hat, und Annette Humpe versichern, wie klein die damalige Szene gewesen sei, dass man alle wichtigen Bars und Clubs in einer Nacht hätte abklappern können. Und Wolfgang Müller, na klar, erzählt von Wolfgang Müller und seiner Band, der Tödlichen Doris, gern als Tödliche Dosis bezeichent, die ihren ersten Auftritt lustigerweise ebenfalls in einer Kirche hatte, in Fallersleben, nicht weit von Müllers Heimatstadt Wolfsburg entfernt. Immerhin: Müller korrigiert Oskar Roehler, der in seinem Affenarsch-Roman suggeriert, das Sozialamt habe seinerzeit ohne Fragen und Ansehen der Person mit Geld nur so um sich geschmissen, das Subventionsparadies sei gewissermaßen kommunistisch gewesen. Viele hatten kein Geld, aber es ging eben eine Menge ohne Geld: Kunst, Kultur, Spaß, Leben, alles.

Im Schlafanzug zum Bäcker

Nachdem die Runde natürlich den in der Telefonzelle eingesperrten Iggy Pop, die ewig legendären Hansa-Studios und ihren Spirit sowie die Neubauten-Cave-Szene (die nur ganz kurz und mit spitzen Fingern, warum bloß?) hat Revue passieren lassen, geht es schließlich um einen Ausblick: Was bleibt von West-Berlin? Spontan fallen Müller die vielen neuen Bars in den einschlägigen Bezirken ein, die immer noch am besten funktionieren, wenn sie schön ungestylt und mit Sperrholzmöbeln eingerichtet seien; Renner sammelt Beifall dafür ein, die Brachflächen, ungenutzte Liegenschaften, die immer wieder neu sich erschließenden Kreativräume schützen zu wollen; und Annette Humpe verweist schön treffend auf Berliner Vorzüge. Zum Beispiel dass es hier nach wie vor keinen stört, „wenn Du im Schlafanzug zum Bäcker gehst, sowas ist in Hamburg oder Düsseldorf unmöglich“.

Was in der Nikolai-Kirche bei aller Erinnerungsseligkeit etwas zu kurz kommt, trotz Wolfgang Müllers Roehler-Widerrede, ist die Berliner Ökonomie, der Hang zum prekären Durchwurschteln. Ja, dass das Scheitern in West-Berlin keinen störte, mitunter gar zum guten Ton gehörte. Dass sich davon einiges erhalten hat, weiß aber Tim Renner, als er zumindest einmal auf seinen neuen, gerade sehr schwierigen Job zu sprechen kommt: „In Berlin ist Scheitern immer noch erlaubt, sonst hätte ich mich nie getraut, diesen Job zu machen".

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