Schule: Berliner Schüler schwänzen exzessiv
In Berlin bleiben tausende Schüler unentschuldigt dem Unterricht fern - viele länger als acht Wochen. Strengere Vorschriften ändern daran nichts.
Berlins Schulen machen keine Fortschritte im Kampf gegen Schulschwänzer: Im vergangenen Schulhalbjahr haben abermals mehr als 2000 Schüler über vier Wochen oder sogar über acht Wochen lang unentschuldigt gefehlt. Weitere 2300 schwänzten den Unterricht zwei bis vier Wochen. Dies geht aus der Antwort auf eine Anfrage des SPD-Bildungspolitikers Joschka Langenbrinck hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt. Die Zahlen sind umso alarmierender, als sie sich nur auf die Klassen 7 bis 10 beziehen und nur auf das letzte Halbjahr 2015/16. Die Schwänzer aus der Grundschule fehlen demnach.
Die Schwänzerquoten haben sich kaum geändert, obwohl seit 2014 wesentlich strengere Vorschriften gelten. Die sehen vor, dass die Schule bereits am ersten unentschuldigten Fehltag Kontakt mit den Eltern aufnimmt; nach insgesamt fünf Tagen ohne Entschuldigung muss die Schule dies dem Schulamt anzeigen und mit den Eltern sprechen.
Geholfen hat das bisher kaum. Nur im ersten Halbjahr sind die Schwänzerquoten etwas gesunken, im zweiten Halbjahr ist keine positive Tendenz zu sehen. Aus den Statistiken der Senatsverwaltung für Bildung geht hervor, dass 20 Prozent der Schüler bis zu zwei Wochen unentschuldigt gefehlt haben; 4,5 Prozent schwänzten über zwei Wochen.
Förderschulen haben das größte Problem
Das Schwänzen gilt als Hauptgrund für fehlende Schulabschlüsse. Daher werden von Schulleitern immer wieder stärkere Sanktionen gefordert – bis hin zu Kürzungen bei der Sozialhilfe der Erziehungsberechtigten. Die Politik ist von einem derartigen Schritt aber weit entfernt: Einige Bezirke wollen noch nicht einmal Bußgelder erheben, sondern setzen auf Gespräche mit den Eltern. Dies gilt auch für den Bezirk Mitte, der die meisten Schwänzer hat.
Welcher Weg am erfolgreichsten ist, soll jetzt untersucht und evaluiert werden. Eine "Zusammenstellung der Maßnahmen sowie die Evaluation werden voraussichtlich 2017 veröffentlicht", hat Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles (SPD) auf eine Anfrage des bildungspolitischen FDP-Sprechers Paul Fresdorf angekündigt.
Sehr große Unterschiede gibt es nicht nur zwischen den Bezirken, sondern auch zwischen den Schulformen. Das mit Abstand größte Problem mit der Schuldistanz haben Förderschulen für Lernbehinderte. Hier fehlten zuletzt 30 Prozent bis zu zwei Wochen unentschuldigt und weit über zehn Prozent blieben für mehr als zwei bis acht Wochen unentschuldigt zu Hause.
Bei den Gymnasiasten ist die Schuldistanz erwartungsgemäß am geringsten ausgeprägt: Nur zwei von ihnen fehlten im zweiten Halbjahr 2015/16 über acht Wochen ohne einen Entschuldigungszettel der Eltern; bei den Sekundarschülern waren es 365 Schüler.
In ganz Berlin beträgt die durchschnittliche Fehlquote 7,5 Prozent. Die geringste Schwänzerquote hat im Übrigen Pankow. Hier sind es nur 0,8 Prozent, die überhaupt unentschuldigt fernbleiben.
Für einzelne Schulen lässt sich die Fehlquote der Schüler im Netz ermitteln – in den Schulporträts, die sich auf der Homepage der Bildungsverwaltung finden.
Berlins Bezirke gehen sehr unterschiedlich mit notorischen Schwänzern um: Während Neukölln den betroffenen Familien konsequent mit Bußgeldverfahren zu Leibe rückt, haben sich die drei Bezirke Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf komplett gegen dieses Vorgehen entschieden. Dies geht nach Informationen des Tagesspiegels aus der Antwort auf eine Anfrage des SPD-Bildungspolitikers Joschka Langenbrinck hervor.
Demnach hat Neukölln im Schuljahr 2015/16 über 500 Bußgeldverfahren auf den Weg gebracht – mehr als alle anderen elf Bezirke zusammen. Ähnlich konsequent ging nur Steglitz-Zehlendorf vor: Dort gibt es nur wenige Schwänzer und dennoch wurden fast 130 Bußgeldverfahren abgearbeitet (siehe Grafik).
Bezirke gehen unterschiedlich damit um
"Wir haben im Schulamt schon länger ein Verfahren etabliert, das auf Gespräche mit den Familien setzt und auf Hilfsangebote, weil wir die Erfahrung gemacht haben, nur so zu nachhaltigen Ergebnissen zu kommen", begründet der neue Schulstadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, Andy Hehmke (SPD), den Verzicht auf Bußgelder. Ähnlich argumentiert auch Charlottenburg-Wilmersdorf.
Das mit Abstand größte Schwänzerproblem hat Mitte. Das sieht man nicht nur an den fast 1400 Schulversäumnisanzeigen, sondern auch an der Statistik für das vergangene Schulhalbjahr: Die Fehlquote an den Sekundarschulen betrug zuletzt zwölf Prozent und die Quote der unentschuldigt Fehlenden 4,7. Das liegt deutlich über dem von der Schülerklientel her vergleichbaren Neukölln (3,6 Prozent) und über dem Berliner Schnitt (2,7 Prozent). Die geringste Fehlquote bei den Sekundarschülern hat Steglitz-Zehlendorf (1,0 Prozent). Alle Bezirke zusammen haben im vergangenen Schuljahr rund 7000 Schulversäumnisanzeigen geschrieben.
35 Mal wurden Schwänzer polizeilich zugeführt
Transparenz gibt es auch bei den polizeilichen "Zwangszuführungen" von Schulschwänzern: Von diesem Notbehelf machten im Schuljahr 2015/16 nur vier Bezirke Gebrauch – insgesamt 35 Mal: Marzahn-Hellersdorf (13), Spandau(9), Treptow-Köpenick (8) und Pankow (5).
Im Jahresvergleich gibt es wenig Bewegung in Sachen "Schuldistanz", wie das Schwänzen offiziell genannt wird. Die jährlich von Langenbrinck erfragten Statistiken zeigen, dass die Probleme vor fünf Jahren vergleichbar groß waren – trotz aller Programme. Zuletzt hatte der alte Senat von SPD und CDU auf das "Berliner Programm zur Vorbeugung und Bekämpfung der Schuldistanz" gesetzt, das im Januar 2014 beschlossen wurde.
Jetzt auch Daten für die Grundschüler
Unter Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) wurde dieses Programm in einigen Punkten möglicherweise noch nicht umgesetzt. Zumindest bleibt ihr Haus seit Freitag die Antwort auf die Frage schuldig, wo die vom Parlament im Januar 2014 verlangten halbjährigen Berichte zu den Schulversäumnissen zu finden sind.
Die Schulversäumnisse der Grundschüler werden inzwischen zwar erfasst, aber erst seit 2015/16 und nur für die Klassen 5 und 6. Deren Schwänzerquote fehlte in der Antwort auf Langenbrincks Anfrage, wurde inzwischen auf Tagesspiegel-Anfrage aber nachgereicht: Sie betrug im zweiten Halbjahr 0,54 Prozent und lag damit deutlich unter den Sekundarschülern (2,7 Prozent), aber etwas höher als bei den Gymnasiasten (0,4 Prozent).