Unternehmer, Bezirke, Corona: Berliner Fraktionschefs diskutieren über Wirtschaftspolitik
Vertreter der sechs Parteien waren am Freitag bei einer moderierten Debatte bei der IHK zu Gast. Die Unterschiede zwischen den Lagern wurden deutlich.
Wahlkampf in der Pandemie ist nicht leicht. So nutzen die Parteien jede Gelegenheit, ihre Positionen darzulegen, Unterschiede zu betonen. Am Freitag hat Berlins Industrie- und Handelskammer (IHK) eine Plattform geboten und Chefinnen beziehungsweise Chefs aller sechs im Abgeordnetenhaus vertreten Fraktionen persönlich in ihre Zentrale, das Ludwig-Erhard-Haus in Charlottenburg, geladen. Rund 150 Personen folgten der Live-Übertragung im Internet.
Kammerpräsidentin Beatrice Kramm sagte zur Begrüßung, dass angesichts der Corona-Lage jetzt ist nicht die Zeit sei "für wahltaktische Streitereien oder ideologische Verhakelungen." Jetzt müsse der Re-Start Berlins vorangetrieben werden. "Ich setze darauf, dass die Politik an den richtigen Rahmenbedingungen für diesen Neustart arbeitet."
Tatsächlich ging es in der Form weitgehend diszipliniert zu unter Moderation von IHK-Hauptgeschäftsführer Jan Eder. Er hatte die Regel aufgestellt, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeweils nur 60 Sekunden Zeit für ihre Antwort bekommen.
Sollten sie überziehen, werde er sie in der nächsten Fragerunde ausschließen, drohte er. Soweit kam es nicht. Die Fraktionschefs Sebastian Czaja (FDP), Burkard Dregger (CDU), Silke Gebel (Grüne), Anne Helm (Linke), Georg Pazderski (AfD) und Jörg Stroedter (SPD, stellvertretend für Raed Saleh) blieben im zeitlichen Rahmen.
Auch gab es kaum persönliche Angriffe auf die Konkurrenten. Alle Parteien, bis auf die AfD, möchten offensichtlich anschlussfähig bleiben für eine Koalition aus drei Parteien, die wahrscheinlich schiene, wenn schon an diesem Sonntag Abgeordnetenhauswahl wäre - und nicht erst am 26. September. Bei den wirtschaftspolitischen Vorstellungen aber gehen die Vorstellungen weit auseinander.
Die Berliner Fraktionschefs bezogen dabei Stellungen, die in ihren Parteien teils seit Jahrzehnten fest etabliert sind: Es geht um möglichst große unternehmerische Freiheit für CDU, FDP und AfD in Konkurrenz zum Modell eines starken Staates, der gestaltend eingreift. Dafür stehen SPD, Grüne und Linke. Die konservativ-liberale Seite scheint sich implizit auf den 1976er CDU-Slogan "Freiheit statt Sozialismus" verständigt zu haben, ohne dass dieser Satz wörtlich gefallen wäre.
Zumindest Anne Helm als Vertreterin der Linken machte nicht den Eindruck, als hätte sie mit dieser Parole ein Problem. Sie sprach von einer "Industrieholding", die ihre Partei nach erfolgreicher Wahl gründen wolle. Es gehe darum, wieder verstärkt Ansiedelungen im Großraum Berlin zu ermöglichen, in den Sektoren Medizin, Verkehr und Energie.
"Die Idee ist, dass wir eine solche Investitionen unterstützen durch eine Beteiligung über eine landeseigene Industrieholding, und dadurch auch absichern können, dass Standorte auch nachhaltig Betrieben werden können". Man wolle sicherstellen, dass nachhaltig im ökologischen Sinne gewirtschaftet werde und auch Fachkräfte ausgebildet würden in den Betrieben. "Es wäre eine Partnerschaft von gegenseitigem Interesse", sagte die Linken-Politikerin.
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Moderator Eder fragte Helm nach Finanzierbarkeit der Linken-Politik und warf dem rot-rot-grünen Senat Ideenlosigkeit und Schizophrenie vor. So habe die Landesregierung rund 300 Millionen Euro als Corona-Hilfe ausgeschüttet und wolle zugleich acht bis 36 Milliarden Euro investieren, um Wohnungsbestände zu rekommunalisieren. Für 29 Milliarden könnte man auch 230.000 neue Wohnungen bauen, anstatt 226.000 bestehende in Staatseigentum zu holen, argumentierte Eder.
Helm entgegnete, man sei nicht ideenlos: "Sie haben ja schon ganz viele unserer klugen Ideen hier aufgezählt". Mietsenkungen werde man allein durch einen Neubau nicht erreichen, da Immobilien als Spekulationsgut so attraktiv geworden seien, dass für Eigentümer derzeit keine Investitionen in Gebäude nötig seien, um eine Rendite zu erwirtschaften. "Dem Phänomen müssen wir entgegenwirken".
Als Eder den Fraktionschefs anbot, eine Minute lang frei über ein Thema zu sprechen, wurde es erstmals lebendiger in der Runde. Burkard Dregger von der CDU wählte das Thema "Innovationsfreundlichkeit und Unternehmensfreundlichkeit", wie er es nannte.
"Wir haben eine beispiellose Zeit der unternehmerfeindlichen Politik erlebt mit dieser rot-rot-grünen Koalition. Das hat es in der Geschichte Deutschlands in keinem anderen Bundesland bisher gegeben." Unternehmen würden bekämpft, es werde nicht erkannt, dass sie diejenigen seien, die Steuereinahmen generieren, mit denen man den Sozialstaat und den nachhaltigen Umbau der Gesellschaft finanziere.
"Diejenigen die Leistungsträger sind, werden bekämpft mit Enteignungsphantasien, mit Mietendeckeln, mit staatlicher Regulierung und auch noch mit Behördenversagen und Unfähigkeit." Der Gedanke, das Unternehmertum müsse bekämpft werden, müsse beendet werden, forderte der CDU-Fraktionschef.
Die Grünen-Fraktionschefin Silke Gebel warf Dregger Fatalismus vor. "Wenn Sie sich mit Unternehmerinnen und Unternehmern mal unterhalten würden, würden sie sehen, dass die Gewerbemieten ein eklatantes Problem sind. Und dafür haben wir in Berlin keine Regelungsmöglichkeiten".
In der Corona-Krise finanziere man die "übertriebenen Renditeerwartungen" der Vermieter. Unterstützungsgelder an Ladenbesitzer würden oft nur in die Miete fließen. Sie vermisse solidarisches Verhalten der Gewerbevermieter - etwa in Form von Mietnachlässen. "Wenn Sie sich dem verweigern, verweigern Sie sich der unternehmerischen Realität in Berlin", sagte Gebel dem CDU-Kollegen. Wie genau die Grünen die Renditeerwartungen von Gewerbevermietern dämpfen wollen, sagte sie nicht.
Sebastian Czaja von der FDP führte aus, wie seine Partei Berlin besser verwalten wolle. "Wir müssen Doppelzuständigkeiten abschaffen", schlug er vor. Überall da, wo das Land Berlin zuständig sei, müsse es auch zuständig sein - und nicht der Bezirk. "Wenn wir dafür sorgen, dass nicht mehr vier Verwaltungen zuständig sind, um ein Berliner Schulklo zu sanieren, sondern nur noch eine, dann beschleunigen wir Vieles."
Czaja plädierte für ein Prinzip, dass das Verhältnis von Behörden und Unternehmen grundlegend neu sortieren würde: "Wenn wir zukünftig Probleme statt Leistungen ausschreiben würden, um darauf Lösungen angeboten zu bekommen, dann würden wir die gesamte Innovationskraft (…) heben können, um in der gesamten Verwaltung schneller zu werden." Zudem müsse Schnittstellen beim IT-Dienstleistungszentrum (ITDZ) geöffnet werden, damit private Dritte mehr digitale Lösungen anbieten könnten.
Jörg Stroedter (SPD) nahm für die Koalition und seine Partei, die seit nunmehr 32 Jahren ununterbrochen an der Landesregierung beteiligt ist und seit 2001 die Regierenden Bürgermeister stellt, in Anspruch, überhaupt Wirtschaftspolitik zu betreiben in der Pandemie. "Denn der Bund hat nicht gemacht", sagte er.
Der Bundesgesundheitsminister und der Bundeswirtschaftsminister, beide von der CDU, seien verantwortlich für die aktuelle Situation. Man brauche nun dringend eine Öffnungsperspektive. "Außengastronomie: Warum soll sie nicht geöffnet werden? Ich sehe da kein Ansteckungsrisiko", meinte Stroedter. "Wir werden Sie beim Wort nehmen", rief Czaja dazwischen. Auch beim Einzelhandel müsse man "ein System finden", sagte der SPD-Mann.
Georg Pazderski, Fraktionschef der AfD, aber neuerdings nicht mehr Landesparteivorsitzender, sagte, seine Partei werde nach den Wahlen mutmaßlich nicht regieren. Allerdings seien "viele" in seiner Partei, auch er selbst, bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Er demonstrierte Anschlussfähigkeit in Richtung von CDU und FDP. Wie Czaja plädierte Pazderski dafür, Mehrfachzuständigkeiten in der Verwaltung abzubauen. Und wie Dregger kritisierte der AfD-Mann die lokale Bildungspolitik. Berlin stehe regelmäßig bei allen Vergleichen am unteren Ende und die SPD stelle seit 25 Jahren den Bildungssenator oder -senatorin. In der Bildungspolitik sei "Erhebliches" falsch gemacht worden.
Es fehlten etwa 100.000 Fachkräfte in Berlin und jeder zehnte Schüler verlasse die Schule ohne Abschluss. "Wir unterrichten mittlerweile Orchideenfächer, die die Kinder kein Stück weiterbringen, anstatt MINT-Fächer auszubilden." Auch beklagte sich Pazderski über Löcher im Mobilfunknetz.
Zum Ende der Runde versuchte Moderator Eder die Politiker mit einer intellektuellen Lockerungsübung aus der Reserve zu locken. Jede und jeder bekam 30 Sekunden Zeit, um ihn von der eigenen Partei zu überzeugen und sollte anschließend eine Alternative nennen, da Eder sich nicht habe überzeugen lassen.
Die beiden Fraktionschefinnen sowie die Vertreter von CDU, FDP und AfD konnten sich nicht durchringen, über den parteipolitischen Tellerrand zu blicken. SPD-Mann Jörg Schroedter riet in diesem Fall zur Wahl der FDP, damit auch sie es über die Fünf-Prozent-Hürde schaffe. "Vielleicht hilft's ja".
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