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Am 1. März wurden in Rheinland-Pfalz einige Corona-Maßnahmen wieder gelockert. Geht es so weiter?
© Andreas Arnold/dpa

Gastronomie und Handel fordern Öffnung: „Die ausschließliche Ausrichtung am Inzidenzwert muss aufgegeben werden“

Die Wirtschaftsverbände überbieten sich mit Forderungen nach einem Ende des harten Lockdowns. Neue Strategien sollen die Öffnung ermöglichen.

Auf Angela Merkels Schreibtisch dürften sich in diesen Tagen noch mehr Briefe türmen als ohnehin schon. Denn im Vorfeld des Treffens der CDU-Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch überbieten sich die Wirtschaftsverbände gegenseitig mit Brandbriefen und Appellen, um für eine Öffnung der Geschäfte zu werben.

Sie sei in dieser Hinsicht „vorsichtig optimistisch“, sagte etwa Douglas-Chefin Tina Müller am Montag auf einer digitalen Veranstaltung des Arbeitgeberverbandes BDA.

Hoffnung macht den Händlern vor allem, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) gemeinsam mit ihnen an einer Strategie zur Öffnung arbeitet. Wie das „Handelsblatt“ berichtet, wird in diesem Papier von der Inzidenz 35 als Richtwert für eine Wiedereröffnung der Geschäfte abgerückt.

„Oberhalb einer Inzidenz von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner eines Bundeslandes, eines Landkreises oder einer kreisfreien Stadt sind Lockerungen zulässig, wenn sie in Verbindung mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen im Einzelfall vertretbar sind“, heißt es dort demnach.

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In dem fünfseitigen Schreiben fasst Altmaier die Ergebnisse seiner Beratungen mit den Wirtschaftsverbänden zusammen. Es soll als eine Grundlage für den Gipfel am Mittwoch dienen.

„Das Erreichen einer generellen bundesweiten oder regionalen Inzidenz von 35 oder darunter wird unter der Voraussetzung der zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen derzeit nicht für erforderlich gehalten“, heißt es weiter.

Schon am Freitag hatte Altmaier gesagt, dass ein Öffnungskonzept mehr Kriterien als nur die Inzidenz berücksichtigen müsse – etwa die Zahl der Neuinfektionen, die Arbeitsfähigkeit der Gesundheitsämter oder die Auslastung der Intensivbetten. Eine Verlängerung des Lockdowns in seiner jetzigen Form könne sich die Wirtschaft „nicht leisten“.

Elektronikmärkte formulieren Appell

Diese Einschätzung untermauern die Briefe der Verbände. So haben Deutschlands Elektronikhändler in einem Schreiben die Dringlichkeit für ein baldiges Öffnen ihrer Geschäfte untermauert. „Für immer mehr Unternehmer ist die Entwicklung existenzgefährdend“, heißt es dort.

Unterschrieben haben unter anderem die Chefs von Conrad Electronic, Euronics, Media Markt, Saturn und weiteren Firmen. Sie sehen im Einzelhandel kein erhöhtes Infektionsrisiko.

Durch die Schließung seit Mitte Dezember hat die Branche hierzulande dem Schreiben zufolge etwa zwei Milliarden Euro an Einnahmeverlusten hinnehmen müssen.

Auch die Vertreter des Spielwarenhandels formulierten ihre Anliegen in einem Brandbrief. Ihre Branche habe etwa 300 Millionen Euro Umsatzeinbußen hinnehmen, schrieben sie an Merkel. Unter diesen Händlern sind Firmen wie Vedes, Spiele Max, Rofu Kinderland und Galeria Karstadt Kaufhof.

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Die Unzufriedenheit ist auch in der Möbelindustrie zu spüren. Die Lage in der Branche spitze sich immer weiter zu und zwei Drittel der Hersteller planten im März Kurzarbeit, erklärte der Geschäftsführer der Möbelverbände VDM und VHK, Jan Kurth, am Montag. Er berief sich auf eine aktuelle Verbandsumfrage. Demnach hatte im Februar nur die Hälfte der Produzenten Kurzarbeit angeordnet.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) hatte schon in der vergangenen Woche eine Öffnung ab dem 8. März gefordert. „Mehr als die Hälfte der vom Lockdown betroffenen Händler sehen sich in Insolvenzgefahr“, hatte HDE-Hauptgeschäftsführer Stephan Genth am Freitag gesagt. „Wir brauchen jetzt den Einstieg in den Ausstieg.“

Sieben-Punkte-Plan von Händler-Zusammenschluss

Eine Gruppe von Einzelhändlern hat am Montag ein eigenes Öffnungskonzept vorgelegt. Ihr Sieben-Punkte-Plan sehe einheitliche Zugangsbeschränkungen für die Läden, Abstandsregelungen, Hygienemaßnahmen sowie Kontrollen vor, ob die Regeln eingehalten werden, berichtet das „Handelsblatt“. Diskutiert werde auch Kontaktnachverfolgung mittels einer App.

Alexander Otto, Chef des Shoppingcenterbetreibers ECE und einer der Initiatoren der Initiative, warnte vor einem „Totalschaden“ für die Branche. Jeder weitere Tag koste Millionen, da bereits gekaufte Ware abgeschrieben werden müsse. Patrick Zahn, der Chef des Textildiscounters Kik, sagte, es sei höchste Zeit, dem Handel eine Perspektive zu bieten. „Es ist für die Unternehmen überlebenswichtig, in Abstimmung mit der Regierung nun konkrete Schritte für eine langsame Lockerung zu entwickeln.“

In Baden-Württemberg will die Landesregierung unabhängig vom Bund eigene Hilfsmaßnahmen zur Öffnung einläuten. Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) kündigte ein „Click & Meet“-Konzept an. Es soll den Kunden ab dem 8. März das Einkaufen wieder ermöglichen.

Sie können dann in den Läden stöbern, Waren begutachten und kaufen, sofern sie sich vorab einen Termin für ihren Einkauf reserviert haben. Das Konzept biete „zunächst für kleinere Geschäfte eine echte Perspektive“, sagte Hoffmeister-Kraut dem „Handelsblatt“.

Gastronomie fordert Gleichbehandlung mit anderen Branchen

Der Frust sitzt auch in der Gastronomie und Hotelbranche tief. 84 Prozent der Gastwirte gehen nach einer Umfrage aus dem Februar davon aus, noch vor Ostern wieder ihre Geschäfte aufnehmen zu können.

Die Gastronomie ist im März seit sechs Monaten geschlossen
Die Gastronomie ist im März seit sechs Monaten geschlossen
© imago images/Chris Emil Janßen

Die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes, Ingrid Hartges, fordert von Bund und Ländern „einen klaren Fahrplan“, um dieses Ziel zu erreichen.

„Die Politik muss jetzt dringend ihre Hausaufgaben machen und aus den drei Bausteinen Impfen, Schnelltests und digitaler Aufrüstung der Gesundheitsämter ein Konzept entwickeln, das Öffnungen erlaubt und gesellschaftliches Leben ermöglicht“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Es brauche eine Balance zwischen gesundheitspolitisch notwendigem und dem, was der Wirtschaft zugemutet werden kann. „Die ausschließliche Ausrichtung am Inzidenzwert muss aufgegeben werden und andere vom RKI empfohlene Messwerte müssen berücksichtigt werden.“

Im März 2020 wird die Branche sechs Monate geschlossen sein. „Wir sind immer die ersten und es kann nicht sein, dass wir auch die letzten sind, die wieder öffnen dürfen“, meint Hartges. „Wir fordern Gleichbehandlung mit anderen Branchen ein.“

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