Wie Flüchtlinge Berlin sehen: Berlin vergisst die Obdachlosen
Warum werden Flüchtlinge besser behandelt als die Menschen auf den Straßen der Stadt? Das fragte sich unser Autor und begab sich auf die Suche nach Antworten.
Eine der täglichen Szenen in Berlin, die ich oft sehe: Obdachlose schlafen überall unter harten Bedingungen, draußen, in der Kälte. Als Flüchtling tut mir dies in der Seele weh. Denn Berlin bietet mir ein stabiles Leben – aber für diese Menschen, die doch angestammte Berliner sind, bedeutet Obdachlosigkeit nichts als Instabilität.
Ich habe mich immer gefragt, warum Flüchtlingen offenbar eine bessere Versorgung zukommt als Obdachlosen: Essen, Kleidung, Betten – warum bekommen das diese Leute nicht? Es gibt zwar viele Obdachlosenheime in Berlin mit viel Personal. Auch mich wirkt es trotzdem so, als lasse Berlin die Leute auf der Straße im Stich. Ist denn die Zahl dieser Menschen größer als die Zahl der Geflüchteten? Oder liegt ihr Problem woanders? Warum finden Flüchtlinge Wärme, und diese Menschen schlafen in der Kälte? Die großen Städte wie Chicago, London und Paris haben auch viele Obdachlose – aber aus meiner Sicht hat Deutschland viel mehr Erfahrung mit Menschen, die Sicherheit suchen. Doch warum gibt es dann so viele Obdachlose?
Im Internet suchte ich jetzt lange nach der offiziellen Zahl und las einige Berichte, in denen steht: Die Bundesregierung und auch die Berliner Landesregierung verschanzten sich hinter dem „erheblichen finanziellen und bürokratischen Aufwand“ der Datenerfassung.
Heute schläft keiner der Flüchtlinge in Berlin mehr draußen, die Obdachlosen schon
Ich war schockiert, weil ich keine aktuellen Zahlen gefunden habe und es nur Schätzungen gibt. Die Flüchtlinge sind dagegen schon registriert auf den Listen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, seit dem Jahr 1955 bis heute – auch wenn es da noch Nachbesserungsbedarf gibt. Doch warum gibt es in einem Land wie Deutschland keine genauen Aufzeichnungen zu den Obdachlosen? Statistiken sind doch immer das Fundament, um eine Krise zu lösen.
Ich las auch, dass die Zahlen in Berlin zwischen 2013 und 2015 im Bereich zwischen 2.000 und 15.000 Menschen liegen sollen. Die Mehrheit sind Männer, es scheint, dass die Frauen eine andere Lösungen im Leben gefunden haben.
Die Zahlen der Obdachlosen sagen uns, dass der Anstieg der Obdachlosigkeit immer groß ist. Aber die Obdachlosigkeitskrise ist nicht größer als die Asylkrise, die war im vergangenen Jahr. Mehr als 80.000 Flüchtlinge sind da in Berlin angekommen. Heute schläft keiner von ihnen mehr draußen. Warum sehen wir in Berlin die vielen Menschen, die in Parks, in U-Bahn-Stationen und unter Brücken Zuflucht suchen?
Hier gibt es eine Ungerechtigkeit, das sagt mir mein Gewissen
Es gibt Menschen, die wegen Wohnungsräumungen kein Obdach mehr haben werden, weil es Schwierigkeiten gab wegen fehlender Mietzahlungen oder wegen Verhaltensauffälligkeiten innerhalb der Mietergemeinschaft. Viele arbeiteten lange Zeit in Deutschland – und jetzt finden sie sich auf der Straße wieder. Gut, es gibt wohl auch welche, die wollen unbedingt draußen leben. Aber am häufigsten sind doch Armut und der knapper werdende Wohnraum der Grund. Damit teilen Obdachlose das gleiche Leid wie Flüchtlinge. Diese sind zwar in Deutschland angekommen ohne irgend etwas, aber sie fanden viele Plätze zum Schlafen vor.
In Syrien habe ich alles verloren, dafür habe ich die Stabilität in Deutschland gefunden. Vor zwei Jahren habe ich neues Leben angefangen. Seit dem ersten Tag hier konnte ich in einem Camp leben. Dann zog ich in eine Wohnung. Wie ich selbst haben auch viele Obdachlose nichts, egal aus welchem Grund. Ich empfinde das so, dass ich besser als diese Leute behandelt wurde. Hier gibt es eine Ungerechtigkeit, das sagt mir immer mein Gewissen.
Vielleicht hat er das Gefühl, dass sich niemand um ihn kümmert
Wie in jenem Moment, als ich am Ausgang vom U-Bahnhof Mehringdamm einen Obdachlosen traf.
Er hatte einen langen Bart, einen langen Schnurrbart und hielt seine langen Haare mit einem Hut zusammen. Er trug zerfetzte Kleidung , sein Gesicht sah sehr blass aus. Er war ein wenig neben mir gelaufen. Dann hatte ich ihn gefragt: „Wirst du bei den Berliner Wahlen abstimmen?“ Er antwortete mir schnell: „Nein, alle Politiker sind Lügner, sie wollen nur unser Geld.“ Ich konnte kein Wort sagen, denn der Mann sagte erneut: „Nicht wählen, sie sind Lügner!“ Als ich ihn fragte, wie lange er auf der Straße lebe und wie alt er sei, dachte er nach und antwortete: „Na ja, ich weiß es nicht“ – und lief weg. Ich fragte mich, warum der Mann das gesagt hat? Vielleicht hat er ja das Gefühl, dass sich niemand um ihn kümmert.
Danach in Stadtmitte, gegen elf Uhr in der Nacht, sah ich einen Mann, der auf einem Betonblock schlief. Er sprach mit sich selbst. Ich wollte zuhören, was er sagt. Er redete so, als ob er mit jemandem sprach, der vor ihm steht. Ich sagte: „Guten Abend, sprichst du Deutsch?“ Er hob seinen Kopf und zog seine langen Haare aus dem Gesicht. Aber als ob er mich nicht gesehen hätte, sprach er wieder mit sich selbst. Es war kein Deutsch.
Ich fragte ihn erneut, ob er Deutsch spricht, aber der Mann war in einer anderen Welt. Das Wetter war sehr kalt, und er erkennt die Menschen nicht mehr. So ließ ich ihn allein und ging zu meinem Haus, wo ich im Warmen schlafen sollte.
"Flüchtlinge brauchen Hilfe wie wir!"
Aber wie können sie sich wohl fühlen, diese Obdachlosen, wenn sie sehen, dass die Flüchtlinge alles bekommen, aber sie nichts haben? Im Bahnhof Zoo fragte ich einen Berliner, der ist seit ungefähr zwei Jahren auf der Straße lebt. Er sah stämmig aus, aber so arm. Ein Stück Brot hatte er in der Hand, er saß auf seiner Tasche. Ich ging näher an ihn heran und fragte ihn, auf was er warte. Er sagte, dass die Menschen wie er Essen von der Bahnhofsmission bekämen, aber nicht so viel. In diesem Moment sprach ich das aus, von dem ich dachte, dass er es sagen wolle. Ich sagte: „Warum du kriegst so wenig Essen und schläfst draußen – und Flüchtlinge haben viele warme Schlafplätze zur Verfügung?“ Er guckte mich an und sagte ganz ruhig: „Sie sind Menschen wie wir! Sie kommen aus dem Krieg, und sie brauchen Hilfe wie wir.“ Ich hielt ihm entgegen; „Ja, aber du bist auch ein Mensch, warum diese unterschiedliche Behandlung, was denkst du?“
Er sagte: „Vielleicht liegt das an der Politik, vielleicht bekommen die Behörden mehr Geld für Flüchtlinge als für uns.“ Ich hob nochmal an: „Aber was ist dein Gefühl gegenüber Flüchtlingen?“ Er sagte: „Ich habe kein Gefühl.“ Ich fragte wieder und wieder viele Obdachlose, aber keiner von ihnen sagte, dass er etwas gegen Flüchtlinge habe. Ich war wirklich überrascht.
In Berlin schläft kein Hund auf der Straße, aber dafür viele Menschen
In Syrien hatten wir keine Obdachlosen, sondern nur Arme. Aber auf jeden Fall schlafen sie nicht auf der Straße. Sie haben Familie oder sie sind Bettler, die manchmal mehr Geld besitzen als du selbst. Obdachlose zu sehen, ist ganz neu für uns hier.
In den zwei Jahren in Berlin habe ich gesehen, dass kein Hund alleine auf der Straße schläft, aber dafür viele Menschen. Ich denke, dass Berlin ohne diesen traurig machenden Anblick der bedürftigen Obdachlosen besser aussehen würde.
Dieser Text erschien in der Sonderausgabe des Tagesspiegels am 15. Oktober, die maßgeblich von geflüchteten Journalisten gestaltet worden ist. Weitere Texte aus dieser Ausgabe finden Sie hier.
Bilal Al Dumani