Entmieterstadt Berlin: Die Geschichte vom Häuserkampf in Wedding
Ihr halbes Leben wohnen die Menschen in dem unscheinbaren Altbau in Gesundbrunnen. Jetzt sollen sie raus. Der neue Eigentümer braucht die Wohnungen angeblich für seine Töchter.
In der Remise feiern sie ihre Partys, hören Willis alte Platten – Hippiemusik und so –, gucken Fußball oder reden über die Kinder, die längst aus dem Haus sind. Die Remise ist etwas baufällig, hat aber viel Charme. Mit dem blinkenden Flipper als Wandleuchte, den kyrillisch beschrifteten Schildern aus russischen Kasernen und dem Werkstatt-Krimskrams aus Jahrzehnten ist sie das emotionale Zentrum des Hauses Neue Hochstraße 48.
Willi, Elisabeth, Ingrid und die anderen haben ihr halbes Leben hier verbracht, mindestens. Sieben Mietparteien in einem kleinen Altbau. Die Fassade unten aus roten Fliesen, oben aus gelbem Rauputz, selbst für den Gesundbrunnen-Kiez eine ästhetische Zumutung. Dass sich mal ein Immobilienunternehmer für dieses Haus interessieren könnte, hätten sie kaum für möglich gehalten. „Der hat sich noch nicht mal die Wohnungen angeschaut, bevor er das Haus gekauft hat“, wundert sich Ingrid, die schon 46 Jahre in der 48 wohnt. Der ist Marc J. von einem Immobilienunternehmen.
Wenn ein anderer über das eigene Leben bestimmt
Willi, der eigentlich Wilhelm heißt, hat vor 31 Jahren seinen Mietvertrag unterschrieben, damals bei dem angesehenen Bildhauer und Hochschulprofessor Rolf Szymanski. Der ließ die Mieter machen, wie sie wollten. Sanieren und renovieren war damals ohnehin eher Mietersache. Das Haus wechselte noch mehrfach den Besitzer, aber gekümmert habe sich nie jemand. Als J. übernahm, hatte Willi schon ein merkwürdiges Gefühl. Irgendwann wird was passieren, dachte er und hoffte gleichzeitig sich zu irren. Dann erreichte ihn ein Kündigungsschreiben von J.s Anwalt. Wegen Eigenbedarfs müsse er bis zum März 2017 raus. Auch Ingrid soll gehen. Elisabeth darf bleiben, soll aber bald 70 Prozent mehr zahlen, wegen der Umlage für die energetische Sanierung.
Als das Kündigungsschreiben kam, seien sie erst mal sprachlos gewesen, erzählt Willi. In der Werkstatt saßen sie zusammen und waren wie benommen. „Es ging uns dreckig.“ Weniger die Tatsache, umziehen zu müssen, bereitete ihm seelische Pein als die Erkenntnis, dass „ein anderer über mein Leben bestimmt“. Willi hat immer selbstständig gearbeitet, suchte sich seine Auftraggeber aus wie seine Wohnungen. Doch nun wirft ihn jemand raus, der sich nicht einmal vorgestellt hat, mit einem einfachen Schreiben vom Anwalt. Das findet er schäbig.
Frank Henkel hat nebenan sein Bürgerbüro
Sie wissen, dass sie nicht die einzigen sind, die es erwischt. Überall steigen die Mieten, werden Häuser saniert, müssen Menschen ihren Kiez verlassen, weil sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Das war ja großes Wahlkampfthema. Alle seien sie schon bei ihnen gewesen, SPD, Linke, Grüne, Piraten. Die Politiker hätten sich ihre Geschichte angehört und versprochen sich zu kümmern. Vor der Wahl wollte sogar CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel einen Brief an Marc J. schreiben. Henkel ist direkter Nachbar, hat die hintere Remise im Hof gemietet, als Bürgerbüro.
Was Marc J. über die Schreiben der Politiker denkt, würde man jetzt gern wissen. Was er eigentlich mit dem kleinen unscheinbaren Haus vorhat und ob er vielleicht andere Wohnungen für die Mieter in der Gegend besorgen könnte. Doch statt Antworten kommt eine Mail vom Anwalt, diesmal einer anderen Kanzlei. Die Vorgänge beträfen nicht die berufliche, sondern die private Sphäre des J., daher werde er sich nicht dazu äußern.
Vier Zimmer Eigenbedarf für die jüngere Tochter des Eigentümers
Die Mieter halten die Privatangelegenheit für vorgeschoben. Tatsächlich muss Eigenbedarf gut begründet und plausibel sein, um vor Gericht standhalten zu können. Im Fall von J. gibt es erhebliche Zweifel. Er möchte seine erwachsenen Töchter auf zwei Etagen einziehen lassen. Die jüngere beginne demnächst ein Medizinstudium und benötige dafür eine geräumige Wohnung von 112 Quadratmetern mit vier Zimmern, nämlich genau die von Willi. So steht es im Kündigungsschreiben vom Anwalt. Und weil die jüngere Tochter „eine Bezugsperson in unmittelbarer Nähe“ brauche, müsse die ältere die dritte Etage beziehen, dazu sollen zwei Wohnungen zusammengelegt werden, eine davon ist die von Ingrid.
Auf Facebook haben sie Fotos der Töchter gefunden, im Pool auf Mallorca, beim Reiten. Was man so macht, wenn Geld da ist. Stört sie ja nicht, der Luxus der Reichen. Ist ja weit weg. Aber wenn sie jetzt ausziehen sollen, ihren Kiez verlieren, abwandern müssen nach Spandau oder Marzahn, wo es noch bezahlbar ist, um diesem Luxusleben der Reichen Platz zu machen, stört es sie gewaltig.
Angst vor dem Auszug
Sie werden sich auch einen Anwalt nehmen, na klar. Und es steht eine Wohnung leer im Haus, sagt Willi. Da könnte die Studentin sofort einziehen. Er ärgert sich manchmal, dass er nicht zusammen mit den anderen das Haus gekauft hat. Als es noch bezahlbar war. Sie hätte dazu wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, erzählt Elisabeth, die in Vorruhestand ist. Und jetzt bekomme sie keinen Kredit mehr. Sie fürchtet sich davor, ihre Heimat zu verlassen, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, das wäre der soziale Abstieg.
Früher hat Willi in der Hausnummer 53 gewohnt, in einer WG, und gegen den geplanten Abriss der halben Straße gekämpft. Damals war er politisch unterwegs, bei der Alternativen Liste. Heute sei er desillusioniert von Politik, sagt er. Das Gebäude wurde später von einem Verein übernommen und irgendwann unter den Bewohnern aufgeteilt. Glück gehabt. Willi dreht sich eine Zigarette und schaut auf „sein“ Haus. „C’est la vie“.