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Armut ist hierzulande oft unsichtbar. Sie betrifft vor allem Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende.
© picture alliance / dpa

Armut in Deutschland: Caritas-Chef warnt vor Skandalisierung

Alarmismus und Übertreibungen helfen nicht im Kampf gegen Armut, mahnt der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Das nutze nur den Populisten.

Schon sein erster Satz ist eine Provokation. „Die derzeitige Armutsdebatte“, urteilt Georg Cremer, „nützt den Armen nichts.“ Die rituelle Empörung von Sozialverbänden und Medien nach jedem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung bleibe folgenlos. Und mehr noch: „Die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf, sondern stumpfen ab.“ Das alles spiele denen „in die Hände, die den deutschen Sozialstaat ohnehin für aufgeblasen halten“.

Wer das schreibt, ist kein Außenstehender: Cremer ist seit 16 Jahren Generalsekretär des größten deutschen Sozialverbandes, der Caritas, mit fast 600.000 Mitarbeitern. Im Vorstand kümmert er sich um Sozialpolitik, und bei Caritas International war der habilitierte Volkswirt für Katastrophenhilfe in Asien und für soziale Programme in Osteuropa zuständig. Cremer ist, wenn man so will, der Armutsexperte schlechthin.

Vergleiche mit der "Dritten Welt" führen in die Irre

Entsprechend weit ist er davon entfernt, die Armut in Deutschland zu bagatellisieren. Auch wenn die Situation „vergleichsweise stabil“ sei und sich „entgegen einer weitverbreiteten Wahrnehmung“ momentan nicht verschlimmere, handle es sich doch um ein „drängendes Problem“, insistiert der Autor. Und natürlich führten Vergleiche mit der „Dritten Welt“ in die Irre.

Gemessen am Armutsbegriff der Vereinten Nationen und verglichen mit denen, die anderswo in Hunger und Elend dahinvegetieren, gebe es hierzulande zwar keine Armut. Doch man könne Armut auch nicht ohne Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Standards definieren. Um „ohne Scham in der Öffentlichkeit auftreten“ zu können, müsse man in einer reicheren Gesellschaft beispielsweise auch höheren Standards der Kleidung und anderer Konsumgüter genügen, zitiert Cremer den indischen Armutsforscher Amartya Sen.

Streit mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband

Gleichwohl fand es der Caritas-Generalsekretär im vergangenen Jahr notwendig, einen Grundsatzstreit vom Zaun zu brechen. Hauptadressat seiner Kritik war eine Konkurrenzorganisation, die beim Alarmschlagen gern in vorderster Reihe steht: der Paritätische Wohlfahrtsverband. Cremer warf ihr in der „FAZ“ vor, mit ihren Armutsberichten real bestehende Armutsprobleme in einer Weise zu skandalisieren, die „nicht dem gerecht wird, was der Sozialstaat leistet“. Dies könne „Abstiegsängste der Mittelschicht schüren, die Legitimität des Sozialstaats untergraben und den Blick verstellen auf politisch erreichbare Schritte, um die Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft zu verbessern“.

Die Retourkutsche kam prompt. Verbandschef Rolf Rosenbrock bezichtigte den Caritas-Mann „neoliberaler“ Positionen. Und sein talkshowerprobter Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider, der sich vor Kurzem von den Linken für seinen Parteieintritt feiern ließ, assistierte. Mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent sei in Deutschland nun mal „ein trauriger historischer Rekord erreicht“. Die Caritas spiele mit dem Feuer, sie falle denen in den Rücken, die sich gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich engagierten. „Armut kann man nicht skandalisieren. Armut ist der Skandal."

Plädoyer für eine handlungsbezogenere Debatte

Cremers Buch, das am Freitag von Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) in Berlin vorgestellt wird, ist beides: unaufgeregte Replik und faktengesättigte Fortführung der Debatte. Auf 270 Seiten plädiert der Experte dafür, künftig anders über Armut und Armutsbekämpfung zu sprechen: „konkreter, sachlicher und vor allem handlungsbezogen und im Dialog mit einer Politik, die komplexe Wirklichkeit immer nur schrittweise verändern kann“.

Dafür versucht sich der Autor an der Beantwortung wesentlicher Fragen. Welche Auswirkungen hatte die Einführung von Hartz IV? Schrumpft die Mitte wirklich? Wer ist besonders von Altersarmut bedroht? Warum leben Arme deutlich kürzer als Reiche, obwohl auch sie Zugang zu guter medizinischer Versorgung haben? Welche Potenziale verschenkt unser Bildungssystem? Wird die Armut im Land durch die Aufnahme der vielen Flüchtlinge weiter zunehmen?

Bei Azubis und Studenten ist Armut nur vorübergehend

Zu Recht klagt der Sozialexperte über verzerrende Darstellungen von Armut. Zur Bebilderung dienten oft Obdachlose, die mit Abstand kleinste Gruppe unter den Armen. Und da die Gruppe der Armutsbedrohten per EU-Definition alle umfasst, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben, zählten dazu auch viele Auszubildende und Studenten - die zwar momentan ein Geldproblem haben, aber höchstwahrscheinlich kein dauerhaftes.

Die Hauptrisikogruppen seien aber Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Bezieher niedriger Einkommen, meist noch mit Familienverantwortung. Auf sie habe sich der Fokus zu richten. Zudem lebten viele trotz harter Ganztagsjobs an der Grenze des Existenzminimums. Cremer nennt dies eine „Herausforderung an unser Gerechtigkeitsprinzip“. Abhilfe sei hier aber nur möglich, wenn die Gewerkschaften in der Dienstleistungsbranche stärker Fuß fassten. Und wenn die Verbraucher ihren Konsum auch an den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten orientierten.

Soziale Probleme werden nicht an der Realität gemessen

Hartz IV, so stellt der Autor klar, ist das bei Weitem wichtigste Grundsicherungssystem und zu Unrecht in Verruf. Es müsse aber weiterentwickelt werden, etwa bei der Kindergrundsicherung. Die Crux dabei: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger würde dadurch noch mal steigen – und die Skandalisierer hätten einen weiteren Beleg für wachsende Armut und soziale Kälte. Cremer nennt dies das „Janusgesicht“ unserer Sozialdaten: Soziale Probleme würden nicht an der Realität gemessen, sondern anhand der Hilfen, die der Sozialstaat bereitstellt.

Außerdem reiche auch eine großzügiger bemessene Grundsicherung nicht, um soziale Gerechtigkeit herzustellen: „Das Problem unseres Sozialstaats ist es nicht, dass er zu wenig Hilfe böte, sondern dass er viele Potenziale, Notlagen zu vermeiden, ungenutzt lässt“, schreibt Cremer. Es gehe darum, die Menschen zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu befähigen. „Hier leistet unser Sozialstaat nicht genug und seine Akteure stehen sich oft selbst im Weg.“

Übertreibung nutzt nur den Populisten

Nötig sei „eine Politik der zähen reformerischen Arbeit“, die Versuch und Irrtum nicht scheut und bereit ist, aus Fehlern zu lernen. Wer stattdessen – unbedacht oder aus Kalkül – mit schriller Übertreibung die Angst in der Mitte anheize, nutze den populistischen Parteien, warnt Cremer. Wie hoch die Risiken hier seien, zeigten die Ergebnisse der jüngsten Wahlen.

Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? Verlag C.H.Beck, München 2016, 271 Seiten, 16,95 Euro.

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