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Kampf oder Kommunikation - in Berlin ist das nicht immer klar.
© Paul Zinken/p-a

Leitbild-Suche: Berlin bleibt anders - aber wie?

"Be Berlin" funktioniert nicht mehr. Der Senat hat sich deshalb auf die Suche nach der neuen Berlin-DNA gemacht. Jetzt wurde ein vorläufiges Fazit gezogen.

Berlin steckt in der Sinnkrise. Die Freiheit als bisheriger Markenkern der Stadt verliert angesichts steigender Mieten, schwindender Freiräume und zunehmender Nutzungskonflikte in der wachsenden Stadt an Bindungskraft. „Be Berlin“ funktioniert nicht mehr. Der Berliner Senat hat sich deshalb auf die Suche nach der neuen Berlin-DNA gemacht. Nach dem, was die Stadt heute ausmacht und in Zukunft ausmachen soll – kein einfaches Unterfangen. Denn Berlin, das sind 96 Ortsteile in zwölf Bezirken mit insgesamt 3,6 Millionen Einwohnern – und Lebenswirklichkeiten. Das ist Digital-Hauptstadt und Flughafen-Desaster, Start-Up-Hub und Tourismus-Hochburg.

Die erste Phase der Leitbild-Suche ist nun abgeschlossen. 210.000 Euro hat sie den Senat gekostet. Die beauftragte Agentur hat recherchiert, Kiezspaziergänge mit Anwohnern unternommen, Einzelinterviews geführt und Berlin-Experten befragt. Das nun entstandene Leitbild-Papier umfasst 36 Seiten und ist mit „Berlin bleibt anders“ überschrieben. Das ist zwar noch nicht der neue Slogan, lässt sich aber als vorläufiges Fazit der Berlin-Suche verstehen. Doch wie ist der Status Quo? Und was ist für Berlin geplant? Ausgehend von ausgewählten Zitaten der insgesamt 2500 Befragten ziehen wir eine Bilanz.

„Berlins Rolle ist es nicht, der Streber der Bundesrepublik zu sein. Das können andere besser.“

Berlin nimmt seit Ende des Krieges nicht nur politisch und kulturell eine Sonderrolle ein. Beide Teile der Stadt hingen finanziell am Tropf des restlichen Landes. Mit der Wende brachen viele Subventionen weg, große Betriebe mussten schließen, der Senat baute kräftig Personal ab: Es drohte der Kollaps. Bis heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen der Hauptstadtbewohner unter dem Bundesdurchschnitt, die Arbeitslosigkeit liegt – trotz jüngster Erfolge – weiter deutlich höher: Im März immerhin noch um 2,7 Punkte bei 7,8 Prozent. Anders als in vielen anderen Regionen kann von „Vollbeschäftigung“ also noch keine Rede sein.

Zugleich ist Berlin dabei, diese Lücke zu schließen. So dürfte die Wirtschaft 2019 das sechste Mal infolge überdurchschnittlich stark wachsen. Insofern ist Berlin „Streber“ was das Tempo der Aufholjagd angeht, aber es bleibt eine Aufholjagd. In der Spitzenforschung ist die Haupstadt dagegen Nummer eins in Deutschland. 191.000 Studierende sind an einer der elf staatlichen und 30 privaten Hochschulen eingeschrieben. Außerdem wird an mehr als 70 öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen geforscht. Die drei großen Universitäten wollen in der nächsten Exzellenzinitiative als Verbund siegen. kph/akü

„Alles wird mehr, die Stadt wächst in allen Bereichen: Menschen, Bauvolumen, Dreck.“

Sehnsuchtsort Berlin: Fast 40.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr in die Stadt. Schon wieder. Seit Jahren wächst die Bevölkerung, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sogar um 60.000 Menschen. Da mussten alle Brachen, alle Lücken, das Tempelhofer Feld und seine Hangars mit Traglufthallen, Containern und Fertigbauten zugestellt werden. Neuberliner aus Syrien, dem Irak, aus Nordafrika und aus Osteuropa kommen und reihen sich ein unter die Wohnungssuchenden.

Die Stadt platzt aus allen Nähten. Es wird zwar gebaut, aber viel zu wenig: 15.000 Wohnungen im Jahr zuletzt, obwohl es mehr als 20.000 braucht. Und ohnehin fehlen schon 100.000 Wohnungen, um den Bedarf zu decken und damit die Mieten nicht weiter so drastisch steigen. Und weil es an Wohnungen fehlt, sind immer mehr Menschen ohne Obdach und campen im Schatten der Stadt, im Tiergarten zum Beispiel und hinterlassen ihre Spuren, als handle Fassbinders Bühnenstück – der Müll, die Stadt und der Tod – von Berlin. ball

„Berlin connects worlds.“

Inwieweit Berlin wirklich Welten verbindet, ist eine Frage der Perspektive. Die Gastgeber der Stadt werden das wohl bestätigen: Auch im Jahr 2018 stieg die Zahl der Berlin-Besucher erneut an – insgesamt 13,5 Millionen Touristen waren hier zu Gast. Das spiegelt sich auch in den Besucherzahlen der Messen in der Stadt und in den Passagierzahlen der beiden Berliner Flughäfen. Allerdings klagt vor allem die regionale Wirtschaft darüber, dass man von Berlin aus zu wenige Fernziele ohne Umsteigen erreicht. Und ein Flughafen, der die Besucherströme von Tegel und Schönefeld aufnehmen könnte – und noch mehr – ist noch immer nicht eröffnet. Spötter sagen: Er ist auch nicht in Sicht.

Weltverbindend ist Berlin eher im übertragenen Sinne: Mit wirklich jeder Nationalität, Glaubensrichtung, oder sexuellen Orientierung ist man in dieser Stadt zumindest geduldet, bei der Mehrheit der Berliner sogar willkommen. kph

„Manchmal ist Berlin ein Kiezdorf. Das Nachtleben in Berlin funktioniert nur, wenn man keine Nachbarn hat, die sich über den Lärm beschweren.“

Die Debatte über Karaoke im Mauerpark, die zunächst in diesem Frühjahr nicht genehmigt werden sollte, ist symptomatisch. Oder die über das Lollapalooza-Festival, das in Berlin immer wieder nach einem neuen Zuhause suchen muss. Es häufen sich Konflikte, weil Anwohner sich durch Bässe und kreischende Party-Gänger gestört fühlen. Ob entlang des Flutgrabens in Kreuzberg, wo sich ein Techno-Club an den nächsten reiht, oder am Rosenthaler Platz, wo Berlin-Besucher vor dem Späti Party machen.

Die Clubcommission fürchtet derzeit vor allem zwei Senatsverordnungen. Feiern im Freien, die länger als fünf Stunden dauern, sollen strengeren Lärmschutzregeln unterliegen, so sieht es zumindest ein Entwurf aus dem Haus von Senatorin Regine Günther vor. Und Veranstaltungen mit mehr als 200 Gästen müssen angemeldet werden – aus Brandschutzgründen. Das trifft nicht nur Diskotheken, sondern auch die Hochzeitsfeier oder den Kegelclub. lho

„Berlin ist wie eine Familie, in der es kein Oberhaupt gibt und alle machen, was sie wollen, und sich streiten.“

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller gilt als angezählt. Der Vorwurf: Müller sei führungsschwach, habe keine eigenen Ideen und sei nicht in der Lage, die Konflikte im rot-rot-grünen Regierungsbündnis zu schlichten. Im SPD-Landesverband gilt es als ausgemachte Sache, dass die Partei für die nächste Abgeordnetenhauswahl einen populären Spitzenkandidat braucht, der nicht Müller heißt. Im Gespräch sind die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Innensenator Andreas Geisel. Wobei die Sozialdemokraten laut Meinungsumfragen nur noch viertstärkste Partei sind und, wenn sich das nicht ändert, den Amtssitz Rotes Rathaus verlieren werden.

Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) würde gern die Nachfolge Müllers als Regierende Bürgermeisterin antreten und hat die besten Chancen. Unabhängig davon, wer die Landesregierung führt, gilt die Berliner Verwaltung als überfordert, wenig effektiv und schwer kontrollierbar. Seit der Gründung von Groß-Berlin im Jahr 1920 verfügt die Metropole über eine zweigliedrige öffentliche Verwaltung: Die Senatsbehörden sind, so die Theorie, für die politische Steuerung und Strategiefindung zuständig, die zwölf Bezirksämter für die kommunalen Dienstleistungen. In der Praxis ergeben sich vielfältige Doppelzuständigkeiten und ein unproduktiver Wettbewerb zwischen den beiden Verwaltungsebenen. za

„Berlin ist wie eine eigene Welt.“

Sollte Berlin ein Vorbild für andere Städte in Deutschland und der Welt sein? Eher nicht, meinen die Autoren der Leitbild-Studie. Dafür ist die Stadt zu besonders. Aber Vorreiter soll Berlin sein. Und ist es auch schon. Das Haus der Statistik am Alexanderplatz, einst Sitz der DDR-Verwaltung, wird gerade als Modellquartier entwickelt, in dem soziale Projekte ebenso ihren Raum bekommen wie öffentliche Verwaltungen. Von den 300 geplanten Wohnungen sollen die Hälfte Sozialwohnungen sein. Der Euref-Campus in Schöneberg hat die Klimaziele 2050 schon 2014 erreicht: Bürogebäude steuern ihren Energieverbrauch selbst und Solaranlagen versorgen Deutschlands größte Stromtankstelle mit erneuerbarer Energie.

Und das Mobilitätsgesetz, angestoßen durch die Initiative Volksentscheid Fahrrad, ist das bundesweit erste, das alle Verkehrsteilnehmer in den Blick nimmt. Doch es geht nur schleppend voran, es gibt erst drei fertige geschützte Radwege. Zu diesem Ergebnis kommt auch der ADFC: Berlin erreicht im am Dienstag vorgestellten Fahrradklima-Test im Vergleich der Großstädte nur Platz 12 von 14. lho

„Berlin ist eine Brücke ohne Geländer. Runterfallen ist erlaubt, im Gegensatz zum restlichen Deutschland.“

An Patienten in den Berliner Rettungsstellen mangelt es nicht – die 38 Notaufnahmen sind seit Jahren überlastet. Mehr als 1,2 Millionen Fälle werden dort pro Jahr behandelt, wobei die Hälfte der Patienten gar keine Notfälle sind. Touristen und Zugezogene aus anderen Ländern kennen das Prinzip der Praxis um die Ecke oft nicht, viele Neu-Berliner aus Deutschland haben sich (noch) keinen Hausarzt gesucht – und so verstopfen sie die Kliniken.

Die medizinische Versorgung ist jedoch besser als in den meisten anderen Städten. Kaum irgendwo gibt es so viele Praxen und Krankenhäuser wie in Berlin. Zudem werden die Rettungsstellen inzwischen besser vernetzt. Bislang fuhren Notärzte eine Klinik an, auch wenn dort – beispielsweise – das für den Einzelfall nötige Geräte ausgefallen war. Oder ein Rettungsdienst telefonierte sich von Haus zu Haus, um einen Platz auf einer Geburtsstation zu finden. Durch eine Software, die von Rettungsdiensten und Kliniken gleichermaßen genutzt wird, klären sich solche Fragen nun fast automatisch. hah

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