Online-Magazin "Mit Vergnügen": "Manche Berliner haben einfach Angst vor Veränderung"
Matze Hielscher ist Co-Gründer von „Mit Vergnügen“. Jetzt hat er einen besonderen Berlin-Stadtführer herausgebracht. Ein Spaziergang durch Mitte.
Auf dem Friedhof würde man ihn eher nicht vermuten. Denn Matze Hielscher ist ein Lebemann, wenn man darunter verstehen mag, dass er sich an sinnlichen Genüssen besonders erfreut. Er hat sie schließlich zu seinem Beruf gemacht. Doch Friedhöfe erfreuen sich immer größerer Beliebtheit bei Berlinern, denen die Freiräume in der Stadt verloren gehen. Sie kommen hierher zur Erholung, was vor der Kulisse des Todes fast schon komisch anmutet.
Hielscher geht jedenfalls gern auf den „II. Sophien-Friedhof“ in Mitte, manchmal auch für Meetings. Zuletzt hat er hier, zwischen dem Grab von Herrmann Friedrich Waesemann, dem Architekten des Roten Rathauses, und dem des letzten Enkels von Johann Sebastian Bach – Wilhelm Friedrich Ernst Bach – den Schriftsteller Takis Würger getroffen. Das war im Herbst, noch bevor sich die gesammelte Wut des Feuilletons über Würger ergoss, aber das ist eine andere Geschichte.
An diesem gefühlt ersten richtigen Frühlingstag Anfang April – Hielscher trägt Jeans, Turnschuhe, eine Steppjacke und hat eine große Flasche Wasser für den Weg dabei – flanieren nur wenige Besucher an den großen Mausoleen und kleinen Urnengräbern mit bunten Blumen vorbei. Hielscher ist bester Laune, quatscht ungezwungen, stellt Fragen, lächelt, und man ist geneigt, sich das als seinen Dauerzustand vorzustellen. Denn der 39-jährige gebürtige Süd-Brandenburger erlebt und verkauft schöne Dinge. So könnte man es sehr vereinfacht ausdrücken.
Gelernt hat er Lampenverkäufer und Geld verdient als Bassist der Indie-Pop-Band Virginia Jetzt!. 2010 löste die Gruppe sich auf und Hielscher gründete zusammen mit Pierre Türkowsky, den er irgendwie schon immer kennt und der Covermodel für das erste Virginia Jetzt!-Album war, das Online-Magazin „Mit Vergnügen“. Das hat sich vom Blog für Party-und Kulturtipps zum führenden digitalen Stadtmagazin entwickelt, mit Ablegern in München, Köln und Hamburg und 25 angestellten Mitarbeitern in Berlin. Eine Erfolgsgeschichte.
Reiseführer mit Tipps für alle Lebenslagen
Jetzt hat Hielscher ein Buch herausgebracht. So richtig analog, zum Anfassen und durchblättern, zusammengestellt hauptsächlich von seinen Mitarbeiterinnen Daliah Hoffmann und Wiebke Jann. Es heißt „Berlin. Mit Vergnügen“, ein Buch für den Küchentisch, zum Berlin-Erleben, eine Mischung aus Schatztruhe und Erste-Hilfe-Koffer für die Stadt. Deswegen ist es auch nicht wie ein gewöhnlicher Reiseführer aufgebaut, sondern an 22 Lebenslagen orientiert. Mit Restaurant-Tipps fürs erste Date, schönen Einrichtungsläden für die erste eigene Wohnung, Unternehmungen für den Elternbesuch.
Einige Lieblingsläden seines Teams sind im Buch zu finden, auf einen steuert Hielscher jetzt zu: die Eisdiele „Süßfein“ in der Brunnenstraße. „Natürlich haben wir eine sehr Prenzlauer Berger Sicht auf die Stadt“, sagt er auf dem Weg. Im Sommer sind er und seine Mitarbeiter von der Straßburger Straße in Prenzlauer Berg in die Strelitzer Straße nach Mitte gezogen. „Wir schauen aber auch, dass wir mal nach Spandau fahren.“
Im Eisladen entscheidet Hielscher sich für eine Kugel Banane-Brownie-Karamell für 1,50 Euro. Was diese Wahl über ihn verrät? Er überlegt kurz. „Der Ossi lässt sich noch immer von Bananen ködern!“, sagt er dann und erzählt die Geschichte vom Tag nach dem Mauerfall, als er mit seinen Eltern von Elsterwerda nach Berlin fuhr und vom Begrüßungsgeld fünf Knight Rider Kaugummis und eine Bravo kaufte. „Jetzt frage ich mich: Was ist eigentlich mit den restlichen 95 Mark passiert?“ Da müsse er mal mit seiner Mutter sprechen.
Überhaupt, das Geld. Auch so ein Thema in Berlin, wo alles immer teurer wird, und die Angst, sich die Innenstadt nicht mehr leisten zu können, für immer mehr Menschen zur Realität. „Ich bin da nicht so nostalgisch“, sagt Hielscher. Auch er ist gerade umgezogen, zahlt jetzt viel mehr Miete als früher. Er sieht’s locker: „Jetzt können wir uns das noch leisten. Und wenn das irgendwann nicht mehr geht, ziehen wir eben woanders hin.“ Bei ihm klingt es einfach. Wobei ihn die Preise in Kalifornien schon schockiert haben. Da hat er gerade zwei Monate Auszeit mit Frau und Kind verbracht, das erste Mal richtig raus, seit der Gründung von „Mit Vergnügen“.
Wenn er nicht im Loft-artigen Büro in Mitte abhängt oder neue Läden ausprobiert, wohnt Hielscher im Bötzowkiez, dort, wo die Nachbarn für die Sonntagsöffnung eines Spätis auf die Straße gehen. „Klar ist Verdrängung Scheiße“, sagt er. „Aber für einen Späti demonstrieren? Wenn euch das beschäftigt, ist alles gut“, so sein Urteil. Das gelte auch für den Aldi in der Markthalle Neun in Kreuzberg. „Da gibt es einen Lidl 150 Meter weiter!“ Er finde das befremdlich, die Menschen hätten einfach Angst vor Veränderung.
"Für einen Späti demonstrieren?"
Nach dem Eis noch einen Kaffee? Klar, gern. Sein Lieblingscafé in der Gegend, das „Hermann Eicke“, das sein Team nur „Hermann Scheide“ nennt – warum, weiß er auch nicht so genau – ist nur ein paar Meter die Brunnenstraße rauf gelegen. Hielscher kennt den Barista, die zwei Cappuccini gehen für den Stammgast aufs Haus.
Gefühlt kennt er sowieso halb Berlin, alle wichtigen Leute allemal. In seinem Podcast „Hotel Matze“ waren schon Lars Eidinger, Sarah Kuttner oder auch Robert Habeck zu Gast.
Hielscher hat draußen vor dem Café auf einer Holzbank in der Sonne Platz genommen, er schlägt ein Bein übers andere, das gibt den Blick auf seine Socken mit Yellow-Submarine-Motiv frei – Beatles-Fan. Hielscher blickt auf die Brunnenstraße, gegenüber ist noch eine Eckkneipe aus vergangenen Zeiten, sonst finden sich hier vor allem Galerien, Restaurants, teure Einrichtungsläden. Doch es gibt sie noch, die netten Ecken, auch hier, im durchgentrifizierten Mitte. Auf dem Arkonaplatz um die Ecke ist freitags immer Markt, da geht Hielscher gern essen. Und am Tisch mit den Anwohnern lernt er immer nette Leute kennen. Dass ihm das leicht fällt, ist unschwer zu erkennen. Hielscher ist ein Menschenfänger im besten Sinne des Wortes.
Wie er die Stadt heute wahrnimmt? „Berlin ist dabei, erwachsen zu werden“, sagt er. Die Herausforderung sei, die Balance zwischen sicherem Schritt und Leichtfüßigkeit zu finden. Und zu sagen: Tanz doch mal! Das macht auch er. Zumindest einmal im Jahr geht er noch ins Berghain.