Streifzug durch das industrielle Berlin: Auf den Spuren der Arbeit
Einst waren Streifzüge durch Berlin ein Hochamt für Industriebegeisterte – 84 Jahre alte Feuilletons des großen Flaneurs Franz Hessel zeugen davon. Aber was bleibt von dieser untergegangenen Welt? Eine Suche nach Hessel und dem Sinn der Arbeit im Heute.
(Anmerkung: Tagesspiegel-Reporter Tiemo Rink wurde für diesen Text mit dem Ernst-Schneider-Preis 2014 ausgezeichnet, dem größten deutschen Wettbewerb für Wirtschaftspublizistik, ausgeschrieben von den Industrie- und Handelskammern.)
Szene 1: Die Fabrik
Am schnellsten bekommt man Streit mit Rosa, wenn man ihr ins Treppenhaus pinkelt. Sie sitzt hinter ihrer Wohnungstür aus Brettern, in ihrem Zimmer mit dem Bett vom Sperrmüll, und wenn es plätschert im Treppenhaus, dann läuft sie raus und schimpft. Und wundert sich über die Touristen und Bummler, die im Sommer auf dem Dach sitzen und irgendwann feststellen dass diese Ruine zwar ein toller Ort zum Biertrinken ist, aber leider keine Toiletten hat. Und so landen sie bei Rosa im Treppenhaus, öffnen die Hose und der Ärger geht los.
Aber manchmal ist da auch einer unter Rosas rund 20 bulgarischen Nachbarn, der keine Lust hat auf Streit mit den Touristen vom Dach. Und wenn man Rosa glauben mag, dann rufen sie, die obdachlosen Schwarzarbeiter aus Osteuropa, in solchen Momenten die Polizei: dass da Menschen auf dem Dach seien, darunter auch Minderjährige, und ob der Jugendschutz jetzt nicht ein Erscheinen der Beamten zwingend geböte.
Berlin, Elektropolis
Und so bricht mitunter in lauen Sommernächten eine gewisse Verwunderung rund um die Ruine aus. Rosa wundert sich über die schlechten Angewohnheiten der Touristen und die Touristen wundern sich, dass die Obdachlosen ihnen die Polizei auf den Hals hetzen. Aber da ist noch eine dritte Partei: die deutschen Trinker, die ein Zeltlager zwischen Ruine und Spree errichtet haben. Und diese Trinker wiederum wundern sich auch, wenn nämlich nachts Polizisten zwischen den Zelten auftauchen, obwohl die hier Zeltenden doch mehrfach betont haben, dass sie mit der Polizei gar nicht so viel anfangen können. Ob sich auch die Polizei wundert – man weiß es nicht. Was man hingegen weiß: Diese Ruine in der Köpenicker Straße in Kreuzberg, fast 100 Jahre lang eine Fabrik zur Herstellung von Eis – sie stiftet Verwirrung. Es ist, als sei diesem Ort seine Bestimmung entglitten. Wenn die Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren, kann das schon mal passieren.
Das war nicht immer so. In verschiedene Basare sei die Stadt eingeteilt, schrieb der Autor und Flaneur Franz Hessel in seiner 1929 erschienenen Sammlung „Spazieren in Berlin“. „Etwas von der Arbeit“ heißt der Aufsatz, für den Hessel da wanderte: durch Quartiere der Metallbearbeitung und die der Tischler, durch eine Straße nur für Lampen, die andere für Schaufensterpuppen. Die großen Fabriken an der Spree, die kleinen in den Höfen. Auf den Spuren der Arbeit durch das Berlin der 20er Jahre zu streifen – es muss ein Hochamt für Industriebegeisterte gewesen sein. Die Stadt groß, die Industrie stark, als Zentrum für Elektroindustrie europaweit führend. Berlin – Elektropolis.
Und heute? Fast vergessen. Als Hessel durch die Stadt spazierte, waren bis zu 570 000 Menschen im produzierenden Gewerbe beschäftigt – bei damals gut 4,2 Millionen Einwohnern. Heute arbeiten noch rund 100.000 Berliner in der Industrie, das entspricht nicht einmal zehn Prozent aller Beschäftigten in der Stadt. Im Vergleich mit anderen Ballungszentren ist die Berliner Industrie schwach.
Also höchste Zeit, zwischen all den Kreativwirtschaftlern mal wieder einen Blick zu werfen auf das alte Berliner Panorama von Industrie, Schornsteinen und Fabrikarbeit. Auf den Spuren Franz Hessels und den Spuren der Arbeit – knapp 85 Jahre später.
Erst die Sprayer, dann die Obdachlosen, dann die Touristen
Vielleicht zu spät, denn die Arbeit ist weg. Zurück in der Köpenicker Straße, in der Ruine der alten Eisfabrik. Vor einigen Monaten ist sie hier eingezogen, sagt Rosa aus Bulgarien. Mal ist sie 35 Jahre alt, trifft man sie ein paar Wochen später, sind es nur noch 26 Jahre. Man kann es also glauben oder sein lassen, gewisse Zweifel sind angebracht, wenn sich jemand beim eigenen Geburtstag mal locker um neun Jahre vertut. Aber das Entscheidende ist nicht das Alter, sondern die Tatsache, dass da jemand wohnt in einer stinkenden Fabrikruine, auf einem kleinen Ofen in der ersten Etage kocht und die Wäsche am Bauzaun zum Trocknen aufhängt. Ihr Zimmer: der Boden ausgelegt mit PVC, das Fenster mit Gardinen verhangen, zwei Betten, ein Schrank, ein Tisch, kein Foto.
Bevor sie nach Berlin kam, lebte Rosa in Mailand: Haushaltshilfe für eine alte Italienerin, 500 Euro im Monat schwarz bezahlt. Aber dann starb ihre Arbeitgeberin und Rosa war frei oder arm oder beides, je nach Lesart. Berlin hat unter Wanderarbeitern einen guten Ruf, in Italien schwärmte man von den Jobs in der Stadt, also ging auch Rosa hierher, zusammen mit ihrem Freund, einem schweigenden Mann. Aber nichts klappt, fast nichts. 50 Euro ist der Tagessatz auf dem Bau, 20 Euro zahlen Imbissbuden für Aushilfen. Die Preise sind miserabel, sagt Rosa, deshalb wohnen sie hier, in diesem unter Denkmalschutz stehenden Relikt industrieller Zeiten, wo sie auf andere treffen, die hier auch nicht arbeiten: Touristen, für die die Ruine eine Art Abenteuerspielplatz ist und Kulisse für einen oder mehrere dieser berühmten Abende in Berlin, der Stadt mit den Brachen. Wo man auf Dächern an der Spree sitzt, den Sonnenuntergang bewundert und dann weiterzieht in die Clubs.
Das ist das Schicksal der Industriebrache: Erst kommen die Sprayer, dann die Wohnungslosen und dann die Touristen. Bier trinken sie alle, und man sieht es der Ruine an: die Scherben von mehreren tausend Flaschen, überall. Und während es tagsüber oft ruhiger auf dem Dach zugeht, ist das Camp am Spreeufer schon früher wach. Auch hier wohnen einige Bulgaren, die im Haus keinen Platz mehr fanden, und zwischen ihnen die Deutschen. Natürlich gibt es mittags Bier, wie überhaupt recht viel getrunken wird auf dieser Brache und in dieser ganzen Geschichte. Und der Zeltplatz-Anführer, nennen wir ihn Django, erzählt jedem Neuling gerne, wie er den Nachwuchspolizisten verscheuchte, der hier nachts das Gelände räumen wollte: Wo denn der Einsatzführer sei, habe Django ihn gefragt, man sieht ihn an, diesen gut zwei Meter hohen Brecher mit den Lederarmbändern und rötlichen Bartzotteln und glaubt ihm sofort: Das ist einer zum Polizeinachwuchsverscheuchen.
Und als der Einsatzleiter kam, habe Django ihn gebeten, ob er bitte das Kind da mal wegnehmen könne, denn das hier sei eine Sache für Männer. Und als der junge Polizist dann gegangen war, erklärte Django dem Einsatzleiter, dass hier heute nicht geräumt wird, und wie man ja sehe – das Camp ist noch da, sagt Django, joviale Geste über Menschen und Zelte.
Heldengeschichten vom Widerstand, auch so ein Thema für laue Berlin-Abende, erst recht hier, an der Grenze zu Kreuzberg, wo die linksautonome KöPi auf der anderen Straßenseite liegt, wo auf dem Hinterhof einer anderen Brache Mauerstücke gelagert werden und wo die Wanderarbeiter ohne Arbeit wohnen, direkt nebenan die Bundesgeschäftsstelle von Verdi. Mit anderen Worten: ein Ort, wo die Spuren der Arbeit schon gleich zu Beginn heillos in alle Richtungen ausfransen. Ein irritierender Ort. Höchste Zeit für einen klarer strukturierten. Hessel, hilf!
Szene 2: Die Reste
Die Rettung sitzt in Moabit, bei Siemens in der Huttenstraße. Seit über 100 Jahren baut man hier Turbinen, immer größere, immer stärkere. Vom Stolz auf und über die Arbeit kündet die Halle, die der Architekt Peter Behrens zur Turbinenmontage entwarf: ein hohes, helles Gebäude, damals über 120 Meter lang, gut 25 Meter hoch. Das hier ist keine Bretterbude, weil halt irgendetwas um Werkzeug und Material drum herum sein muss. Diese Halle drückt eine Haltung aus, es gebe „kein schöneres Gebäude“, schrieb Hessel, „und von keiner Domempore gibt es ein eindrucksvolleres Bild als, was man von der Randgalerie dieser Halle sieht, in der Augenhöhe des Mannes, dessen Luftsitz mit Kranen wandert“. Aber wie betet es sich in diesem Dom, beim mit knapp 13.000 Beschäftigten bis heute größten industriellen Arbeitgeber der Stadt?
Preisgekrönte Turbinen
Wenn es nach der Pressedame geht: spitzenmäßig! „Hier ist alles Superlativ“, sagt sie, die Kennerin der Unternehmensgeschichte. Für gute Turbinen gibt’s Preise: einen bayerischen Energiepreis, einen Stahlinnovationspreis, einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde für die größte Turbine überhaupt, das alles hergestellt in einer alten Halle, die auch noch zu den bauhistorisch bedeutendsten Industriegebäuden des Landes zählt.
Dazu ein paar Zahlen als scheinbare Erklärung für ein Produkt, dessen Details der Laie ohnehin nicht versteht. Bis zu 10 000 Teile sind in einer Turbine verbaut, sagt die Pressedame, bis zu 3600 Umdrehungen pro Minute machen die 2400 Turbinenschaufeln, die Schwingungen an den Schaufelspitzen erreichen Schallgeschwindigkeit. Und nun? Kein Erkenntnisgewinn.
„Es ist nicht nötig, alles zu verstehen, man braucht nur mit Augen anzuschauen, wie da etwas immerzu unterwegs ist und sich wandelt“, zitiert man zur Verteidigung Hessel und die Pressedame lächelt milde und erklärt, dass Hessel nach dem, was er so über einzelne Produktionsabläufe schreibt, da doch einiges durcheinandergebracht habe, so jedenfalls sei das hier nie gewesen. Hinter dem Werktor hängt die norwegische Fahne am Mast, manchmal kommen Staatsgäste und gucken sich ihre bestellten Turbinen an, sagt die Pressedame, da wird dann auch mal der rote Teppich ausgerollt. Aber nicht heute, strömender Regen, ein paar Arbeiter stehen rauchend vor einem Automatencafé, gelegentlich pömpelt ein Gabelstapler um die Ecke, mürbe die Stimmung. 18 Fußballfelder groß ist das Gelände, wenn Zahlen nicht helfen, müssen Vergleiche her, Fußballfeldvergleiche ziehen immer, die stärkste Turbine liefert genug Energie für die Bevölkerung von ganz Hamburg und eine einzelne Turbinenschaufel bringt die Leistung von elf Porsche 911.
Italienische Osterprozessionen in der Fabrik
Ein Rundgang durch die historische Halle, mittlerweile erweitert auf jetzt 242 Meter. Von der Galerie in der oberen Etage fällt der Blick wie einst bei Hessel auf die Bauteile der Turbinen, die wie Zündstufen einer Rakete herumliegen, auf den Mann mit dem roten Hemd, der da auf einer Art Kommandobrücke sitzt und einen Bildschirm überwacht, unter sich ein drehendes Bauteil, und ein stetes Brummen füllt die Halle, und irgendwann merkt man, dass kaum Menschen in diesem über 200 Meter langen Raum arbeiten. Zu Spitzenzeiten waren es über 6000 Menschen in diesem Werk, richtige Arbeiter gibt es heute noch etwa 900.
Aber wie als Gegenbeweis setzt sich in dem Moment der große Lastenkran in Bewegung, auf einem Gestänge unter dem Dach kann er durch die ganze Halle fahren, 150 Tonnen dabei tragen. Und am Kran hängt ein Tau, und in dessen Schlaufe hängt eine meterhohe stählerne Figur, blank poliert, wie der Läufer eines Schachspiels. Neun Tonnen wiegt sie, fast geräuschlos schwebt sie durch die Halle, und eine Handvoll Männer in roten T-Shirts folgt ihr, wie eine italienische Osterprozession aus dem Mezzogiorno: Männer mit Ikone. Also runter von der Empore, hin zu ihnen, echte Menschen, ganz vorne der Kranführer, vor dem Bauch eine mobile Schaltkonsole, Hebel hoch, Hebel runter, seit 22 Jahren ist er Kranführer, ein kräftiger Mann, Mitte vierzig. Eine vordere Hohlwelle sei das, sagt er, mit einem Gewinde an der Innenseite, man schraubt sie zusammen mit anderen Wellen und etwa zwölf Monate später ist die Turbine dann fertig. Und eigentlich könnte er die Welle jetzt langsam auf dem Boden absetzen, wäre da nicht diese Sache mit der Nullstelle: eine wichtige Stelle am Gewinde, die Anschlussstelle, an der dieses Bauteil mit anderen Bauteilen zusammengesetzt werden muss. Wenn’s hier nicht passt – dann passt am Ende gar nichts.
Und nun mag es zwar sein, dass in dieser Halle Turbinen gebaut werden, die genug Strom erzeugen für eine Stadt von der Größe Hamburgs – wenn die Nullstelle nicht gefunden wird, dann ist es alles nichts. Ein halbes Dutzend Männer steht schließlich um die Welle herum und sucht einen kleinen Punkt, eine minimale Prägung, denn größer darf sie nicht sein, dann würde zu viel Material in Mitleidenschaft gezogen werden. Und deshalb läuft nun einer los und kommt mit einer Taschenlampe wieder, Minitechnik trifft Maxitechnik, Nullstelle suchen.
Eifer und Image
Eine haushohe Turbine, filigran bis ins Detail. Rotierende Giganten, aber präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, hatte die Pressedame gesagt. Bei Siemens achtet man aufs Detail, deutsche Wertarbeit undsoweiter – das ist die eigentliche Botschaft. Also dann: Wie ist es, einer der noch rund 900 Siemens-Arbeiter zu sein? Dass er die Arbeit gerne mache, sagt ein junger Zerspanungsmechaniker, frisch ausgelernt. „Wenn ich ehrlich bin: Wo ich mein Geld verdiene, ist mir völlig egal“, sagt ein anderer und dass er hoffe, bei der nächsten Einsparrunde nicht mit erwischt zu werden. Tatsächlich wirken die Werkshallen an der einen oder anderen Stelle ziemlich leer, bei der letzten Unternehmensbilanz erklärte Konzernchef Löscher, in den nächsten zwei Jahren sechs Milliarden Euro und einige Arbeitsplätze einsparen zu wollen. Was bleibt, ist Eifer und Imagepflege. Und so ist wohl auch der gelbe Helm zu erklären, den die Assistentin der Pressedame immer bei sich trägt und jedem Arbeiter in die Hand drückt, bevor der fotografiert werden darf. Und die Geste, mit der sie ihre Schirmmützen abstreifen und den Helm aufsetzen, verrät die Übung: Hier wird oft fotografiert. Und das ist doch auch etwas wert: In Zeiten, in denen die industrielle Produktion der Stadt weiter nach unten rutscht, bekommt der noch übrig gebliebene Arbeiter einen gewissen Seltenheitswert. Also draufhalten, solange sie noch schrauben.
Szene 3: Die Manufaktur
Ginge es darum, die vom Aussterben bedrohteste Branche zu finden, Reno Jünemann hätte gute Chancen auf den Sieg. Ortswechsel, Hessel war schließlich auch bei den kleinen Produzenten, in den Höfen und Kellern: Berlin-Mitte, Torstraße, Ecke Schönhauser Allee. Als der Weltgeist vor einigen Jahren auf die Idee kam, diese Ecke zum In-Bezirk zu machen, war seine Familie schon da. Seit über 30 Jahren. Mit dem wohl unattraktivsten Angebot, das man zugezogenen Stylern machen kann: Pantoffeln, schön wie bei Oma, aus einem Material, das sie hier Kamelhaar nennen, das aber mit Tieren nichts zu tun hat. Eine Werkstatt mit Verkaufstresen im Untergeschoss, eine Manufaktur für Hausschuhe, die hingeschlurfte Antithese zum heutigen Drumherum.
Manchmal kommen welche, die fragen ihn, den 41-jährigen Familienvater, Raspelfrisur, Turnschuhe, Jeans, was er denn anders machen würde, wenn er könnte. Denn schließlich sei das doch sein Laden hier, also nun mal los mit den Innovationen, aber die Wahrheit ist: Jünemann will gar nichts ändern. Das Ding läuft. Seit über 100 Jahren. Ein Familienbetrieb, Reno Jünemann ist die vierte Generation. Der Vater hat zwei Söhne, sagt Reno Jünemann, und der eine war mal gut in Judo und ist heute Kellner und der andere ist er selbst. Und der Vater seines Vaters hatte sieben Töchter und vier Söhne. Und dessen Vater hatte wohl auch mindestens fünf Söhne, und wie viele Töchter es waren, weiß Reno Jünemann gar nicht mehr, aber dass es sich hier um Familiengrößen aus einer Zeit handelt, „in der Verhütung maximal in einem ,Nein’ bestand, wenn überhaupt“, das werde hoffentlich klar, sagt er.
"Vorwärts" statt "Salamander"
In den 22 Jahren, die er hier arbeitet, hat es noch keinen Tag gegeben, an dem er nicht wenigstens ein Paar Pantoffeln verkauft hat, sagt er. Es ist ein Sommertag im Juni, draußen glüht die Luft, bummelige 35 Grad im Schatten, und dann kommt jemand auf die Idee, dass heute ein schöner Tag zum Pantoffelkaufen wäre, „und das macht mich schon froh“, sagt Jünemann junior. Und in dem Moment geht die Tür auf und Jünemann senior kommt herein, mal kurz Tschüss sagen, ein Händedruck für den Sohn, der Opa fährt in die Sommerfrische, die Laube im Grünen, und dass die Enkeltöchter gerne anrufen können, heute ist doch Zeugnisvergabe, da ist der Opa auf dem Festnetz erreichbar, dann Abgang.
Nun also hinein in die Werkstatt, dort: stillstehende Zeit. Die Schachtel Zigaretten auf dem Tisch, daneben das Feuerzeug in Habachtstellung. Das Regal voller Leisten, 50er Jahre, DDR-Produktion aus volkseigenem Betrieb, und weil Schuhe nun mal nicht Salamander oder Flip-Flop heißen können, wenn mit ihnen in den Kommunismus spaziert werden soll, steht „vorwärts“ auf den Leisten, mit denen hier seit gut 60 Jahren Pantoffeln gemacht werden. Es ist nicht das älteste Werkzeug. Hinten im Raum die Stanze, ein Schwungrad rechts, eines links, mittlerweile angetrieben durch einen Motor, der war bei Inbetriebnahme noch gar nicht vorgesehen, damals mit den Füßen betrieben. „Das Herz der Firma“ – es schlägt schon etwas länger. 1936 hergestellt, 77 Jahre ist die Stanze alt, mit der Jünemann Fußumrisse aus Filzkarton stanzt. Die Kunst dabei: sich nicht einschläfern zu lassen von den stetigen Bewegungen, wach bleiben, und nicht die Finger zwischen Stanzeisen und Grafitblock haben.
Wenn die Stanze stanzt, sind die Finger weg
„Die Stanze versteht keinen Spaß – die macht einfach immer weiter“, sagt Jünemann, eine Art Olli-Kahn-Gedächtnis-Stanze quasi, weiter, immer weiter, und auch nicht aufhören, wenn die Finger vom Uronkel dazwischen sind, sauber durchgetrennt, erzählt Jünemann junior die Schreckensgeschichte der Familiendynastie, schon als Kind die Warnungen vor der Stanze, und das sieht die Genossenschaft wohl ganz ähnlich: Deshalb gibt es eine Sondergenehmigung für den Betrieb der fast 80 Jahre alten Maschine – nur Jünemann junior und Jünemann senior dürfen sie benutzen, versicherungstechnische Gründe, denn eine Stanze, die auch stanzt, wenn die Finger dazwischen sind – so was hat man verboten
„Zwicken“ nennt Jünemann die Produktion, wenn er Stoff über einen Leisten zieht, eine gestanzte Sohle anklebt und mit der Zwickzange, einer Kombination aus Zange und Hammer, auf Stoff und Sohle einschlägt. 43 Schläge braucht Jünemann beim ersten Pantoffel, 44 beim darauf folgenden. Zehn Pantoffeln später ist klar: Nie sind es mehr als 45 Schläge, nie weniger als 43. Handarbeit, jeder Pantoffel ein Einzelstück in dem Sinne, dass hier keine Maschine große Mengen auf einmal fertigt. Über eine Million Pantoffeln wird er schon gezwickt haben in seinem Leben, schätzt Jünemann, Das entspricht also etwa 45 Millionen Hammerschlägen mit einer kleinen Zange, und wenn es wirklich mal Routinen gibt in einem Arbeitsleben, dann ja wohl diese: gerade mal 41 Jahre alt zu sein und mit einem Hammer, der an einer Zange befestigt ist, rund 45 Millionen Mal auf ein Stück Stoff an einer Sohle geschlagen zu haben. Und natürlich könnte so auch die Klage gegen die Monotonie, die Stumpfheit der Arbeit beginnen, aber Jünemann klagt gar nicht. Sondern ist glücklich in seiner Nische, von der er weiß, dass es eine Nische ist. 150 000 Euro Jahresumsatz macht er mit seinen drei Angestellten, außerdem die Rente für den Vater. Die Kunden kommen aus der ganzen Stadt, zunehmend auch über das Internet zu ihm, Tendenz steigend. Und dennoch: Der letzte Pantoffelmacher der ganzen Stadt verdient weniger als seine Frau mit einer Teilzeitstelle, aber es ist egal, es ist halt seine Nische, und warum denn nicht, und keinen Chef im Nacken. Die Arbeit macht ihn stolz, denn es ist Jünemann-Tradition, und wenn ausgerechnet er den Laden in vierter Generation an die Wand fahren würde, „das wär schon ziemlicher Mist“.
Und nun könnte man sich natürlich fragen, wie ein Handwerker in eine Industrie-Geschichte hineinpasst, aber darum geht es nicht. Sondern es geht um Jünemann senior, der ein Berufsleben lang mit Schuhmacherschürze unterwegs war, und natürlich sollte auch Jünemann junior die Schürze tragen, denn „das machen Pantoffelmacher so“. Aber Papa, hat Jünemann junior dann gesagt, welche Pantoffelmacher er denn meinen würde, denn da seien ja nur noch zwei: Vater und Sohn. „Wir sind die letzten. Und was wir anziehen, entscheiden wir selbst“, sagte Jünemann junior, und das ist es, worum es geht: um die Würde in der Arbeit, eine Frage der Haltung. Und man verlässt Jünemanns Laden, die Sonne ballert und irgendwann ist es Abend und Zeit, und wenn es um Haltung geht, dann wird die Frage konkret gestellt: Was macht eigentlich die SPD, die erklärte Schutzmacht der Arbeiter, die heute Angestellte genannt werden und es manchmal sogar sind? Und die Antwort lautet: Die SPD singt. Und zwar Arbeiterlieder. Im Wedding. Wo sonst?
Szene 4: Die Lieder
Ein Freitagabend im „Glaskasten“, ein Veranstaltungszentrum, schon zu Hessels Zeiten Hort der Arbeiterklasse. Gut 20 Zuschauer sind im Raum, das ist viel, findet der Gitarrist, ein knotiger Leipziger mit Rauschebart, und in der Pause gibt es Wein, rot oder weiß, der ist bei den fünf Euro Eintritt aber schon mit inklusive, sagt der Mann an der Kasse. Anna singt von der jungen Garde des Proletariats, dazu Gitarre und Klarinette, und sie spielen Lieder zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die beide einst erschlagen wurden, nicht zuletzt auf Initiative der damals regierenden SPD. Nun könnte man denken, dass das eine erstaunliche Liederauswahl ist, aber die Zuschauer scheinen sehr zufrieden. Und vielleicht ist das ja das Wesen der deutschen Sozialdemokratie: die wohl einzige Partei zu sein, die Liederabende gegen sich selbst veranstaltet. Klassenkampf als Kulturabend. Und irgendwann ist Pause und beim Rauchen vor der Tür wirkt es, als genieren sie sich alle ein bisschen für ihre etwas seltsame Partei, die das eine singt und das andere macht.
Aber dann geht es schon wieder weiter, vorne hat der Leipziger Bandleader Platz genommen, das Hemd weiß, die Hosenträger schwarz, ein netter, alter Liedermann, und natürlich ist sein Lieblingsdichter Heinrich Heine, der war ja auch immer so witzig und schlagfertig, und der Sänger steht auf und schmiert der SPD, der alten Tante, so dies und das aufs Brot: die Sache mit den Kriegskrediten, dann die Agenda 2010, natürlich Gerhard Schröder und Peer Steinbrück. Ach, wer ist schon Steinbrück an einem Abend, an dem man die Internationale singt, wenn auch nur vom Blatt? Es gibt Wahrheiten und Wahlkampfwahrheiten.
Und dann fällt der Blick auf ein altes Ehepaar mit Eisengesichtern; sie mit Blumenbluse und Dauerwelle, legt gelegentlich ihre Hand auf seine, sie sind lieb zueinander. An seiner linken Wade ist ein frischer Verband, die Hose kurz, Turnschuhe und graue Bartstoppeln. Er könnte das Gesicht der alten SPD sein, aus Zeiten, in denen die Partei noch unschlagbar war, erst recht hier im Bezirk. Ein Veteran, der jetzt loslegt, die alten Schlachten, der rote Wedding. Oder wenigstens ein paar Müntefering-Slogans: Dann wird der Boden festgetrampelt und dann stellen wir die Leiter auf undsoweiter. Aber es ist alles nix. Gemeinsam mit seiner Frau ist er nach Berlin gekommen, sagt er, später gefragt, in weichem Hessisch, schön mal die Tochter besuchen, und die ist nun mal Sozialdemokratin, und deshalb geht’s zum Liederabend. Er selber, naja, kein echter Fan.
Gemeinsam singen sie noch das Lied von der neuen Zeit, mit der sie ziehen oder ziehen wollen, dann steigt der Kreisvorsitzende auf sein Motorrad und fährt davon. Eine Juso-Mittdreißigerin steht vor der Tür und sinniert: „Man macht sich schon Gedanken über die Macht und fragt sich, was sie mit einem macht, die Macht“, sagt sie, die Zeit für solche Gedanken hat, weil es ohne Macht im Bund grad so wenig zu machen gibt und es ja selbst mit Macht kaum besser wäre. Aber niemand ist da, der ihr diese Frage beantworten kann. Und so bleibt sie ungeklärt, ebenso wie die Frage, was Politik ist: die Suche nach Macht oder nach Verbesserungen.
Szene 5: Das Ende
Vielleicht gibt es Antworten in Gesundbrunnen, rund um den Humboldthain, wo in den Sommermonaten die Parkbänke besetzt sind von den Trinkern, morgens gegen halb zehn. Seit Wochen sitzt er hier, und die Beule über dem Auge ist schlimmer geworden, und ein böser Riss zieht sich über die Stirn und scheint nicht mehr zu verheilen. Und Frühstück sind manchmal Tomaten, manchmal Fladenbrot, und immer Bier, die Sternburgbrigade. Und eine Bank weiter liegt der nächste und schläft oder frühstückt, frühstückt flüssig. Und dann kommt die erste Gruppe in den Park, sie sind kollegialer, vielleicht haben sie ein Zuhause und übernachten nicht im Humboldthain. Sie trinken in Gruppen, am und um den Park herum. Männer um die fünfzig, mit Mofa und Bier.
Die Ausgespuckten und Überflüssigen
Und der Blick fällt auf die Kolonne mit den Harken und Müllpiekern, und da auf den Mann mit dem Blaumann ohne Unterhemd und die Stofftüte in seiner Hand. „Deutschland – Land der Ideen“ steht auf dem Beutel, und wer hält hier eigentlich wen: der Mann den Beutel oder umgekehrt? Und was für eine Idee war das noch gleich, Arbeitslosen Müllpieker in die Hand zu drücken und sie für einen Euro in der Stunde durch den Park streifen zu lassen? Das sind die Fragen, die sich auch Arco Zürch mal gestellt hat, der Arbeiter, der mal Rohrschlosser bei Borsig war und dann einen Monat arbeitslos und es da schon mit der Angst bekam, vor dem Nichtsnutz und dem Alkoholismus. Wenn die Räder stillstehen, bricht Panik aus. Und zum Glück wurde er dann hier Hausmeister, in Sichtweite der Ausgespuckten und Überflüssigen, direkt am Humboldthain.
Und so sind wir am Ende wieder bei Hessel, im Gesundbrunnen in der Voltastraße, wo die AEG mal saß, Kleinmotorenproduktion, Dynamos, Großmaschinen, Glühlampen. „Das ganze Haus ist eine Kette der Arbeit“, schrieb Hessel, „die ununterbrochen die Werkbänke hin von Stockwerk zu Stockwerk wandert“, eine Stadt der Arbeit, über 9000 Menschen arbeiteten zu Hochzeiten hier, wo Zürch heute hausmeistert. Von der Vergangenheit zeugt das sogenannte „Beamtentor“ an der Brunnenstraße, verziert mit steinernen Glühbirnen, ein Zahnrad statt eines Kreuzes, die zwei Türme an der Seite wie Kirchenminiaturen – wer einen Eindruck gewinnen möchte, was eine an sich so simple Sache wie elektrischer Strom mal bedeutete: Er bekommt ihn am Beamtentor, Zutritt nur für Angestellte und Gäste, die Arbeiter nahmen den Seiteneingang.
Der allwissende Hausmeister
48 Jahre ist Zürch alt, die letzten 23 Jahre Hausmeister auf dem Gelände, das heute der GSG gehört. Die Deutsche Welle hat hier ihre Redaktion, die TU bildet Studenten aus, Schornsteine rauchen hier längst nicht mehr.
Und Zürch? Vorher bei Borsig in Tegel, die alten Zeiten, zehn Stunden Nachtschicht im Akkord, aber auch 4000 DM am Monatsende und jedes Jahr sechs Prozent mehr Lohn – nie war er besser bezahlt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist Gestank, harte, anstrengende Arbeit, bei der man verblödet. Und dass es auch Vorteile hat, wenn Maschinen sich darum kümmern. Zum Beispiel bei der Pappordner-Produktion, die seiner Frau einmal als Job angeboten wurde. Zehn Stunden am Fließband, Löcher in Kartons stanzen, „das machst du nicht, auf keinen Fall“, hat er ihr gesagt. 25 Jahre ist er verheiratet, eine Thailänderin, geheiratet damals nach langem Kampf gegen die Ausländerbehörde, sagt er, da kann er doch nicht zulassen, dass sie am Fließband kaputtgeht.
Zürch, im Wedding geboren, dann nach Reinickendorf und Spandau, aber schnell wieder zurück; sein Bezirk, auch wenn die Arbeiter immer weniger werden. „Wir sind zufrieden, dass wir überhaupt noch Arbeit haben“, sagt er, mehr noch: Wie eine große Familie seien sie hier, die Hausmeister von der GSG. „Man muss doch eine Aufgabe haben im Leben“, sagt er, Arbeit als Sinnstifter, da ist ein Hausmeisterjob gar nicht schlecht. „Chef würde ich nicht sagen“, beschreibt er sein Jobprofil, der Mann, der hier jeden Raum kennt, „vielleicht eher der Allwissende – das passt besser“. Mit ihm auf einem Rundgang, auf den Spuren der Arbeit, die hier auf dem Gelände auch schon ihre erkennbar kriegerischste Form angenommen hat: Zwangsarbeit. Wo die AEG Tausende entrechtete, zu Tode arbeitete.
Die Quelle am Gesundbrunnen
Mit Zürch im alten AEG-Tunnel, Berlins erster Versuchstunnel für eine U-Bahn, ein paar hundert Meter ist er lang, Baujahr 1895. Beweisen wollte die AEG, dass sie im märkischen Schwemmsand Tunnel für eine U-Bahn bauen konnte, aber den Zuschlag bekam dann Siemens, die eine überirdische Bahn baute, erzählt Zürch. Und wie es aussieht, säuft der Tunnel allmählich ab, vor einiger Zeit entdeckte Zürch eine kleine sprudelnde Stelle am Tunnelgrund. Grundwasser dringt ein. Dann hat er die Stelle gefilmt und per Mail an seine Chefs geschickt. Betreffzeile: „Gesundbrunnen – Quelle entdeckt“, aber nichts ist passiert, abpumpen lässt sich das Wasser nicht, es gab Streitigkeiten mit dem Besitzer des anderen Tunnelendes, und so verplätschert sie langsam im Untergrund, die wohl älteste Spur der Arbeit, von der wohl selbst Hessel nichts wusste, und das ist das Ende, der Untergrund, der vollläuft, aber so kann es nicht aufhören.
Und deshalb hinaus aus der Tiefe und gemeinsam mit Zürch auf den höchsten Punkt. Der Turm auf dem Dach, durch eine enge Luke gezwängt, und da steht er dann und schaut über das Gelände: vor sich der Alex, hinter sich der Humboldthain, und links die Masten vom Jahnstadion und rechts die startenden Flugzeuge in Tegel – es ist ja alles noch da, und von hier oben sieht’s schon ganz gut aus, nicht wahr, sagt er. Und dann der Blick in den Innenhof, die vielen Etagen, die vielen Fenster, und wie gesagt: Über 9000 Beschäftigte zu Hochzeiten! „Aus dem, was diese Menschen schaffen, kommt Licht in dein kleines Zimmer und wandert Häuserfronten entlang, bestrahlt, preist an, wirbt und baut um“, schrieb Hessel, und das ist die eine Seite, die vergangene, und damit hinab vom Turm. Und die andere Seite ist die Gegenwart, ist das Glasschild, das fehlt im Erdgeschoss von Gebäude 12, Treppe 1. Es fehlt, weil vor einigen Wochen ein junger Mann hier aus dem vierten Stockwerk gesprungen ist und beim Aufprall das Schild abgerissen hat. Und warum er sprang, weiß Zürch nicht, „schon sehr traurig, das alles“, sagt Zürch, und so hört es auf.
Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.