Stadtentwicklung: Das Strahlen der Städte
Erstmals gibt es mathematische Formeln für Stadtentwicklung. Doch in schrumpfenden Städten nutzen sie Planern nicht viel.
Städte sind wie Ameisenstaaten. Wie eine Maschine, die man immer weiter optimieren kann. Ein Ökosystem wie jedes andere in der Natur. Der Physiker Luis Bettencourt kann angesichts solcher Vergleiche nur mit dem Kopf schütteln. Er liebt Städte. Städte, Zahlen und Formeln. Zehn Jahre lang hat er gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe am Santa-Fe-Institut in New Mexico einen riesigen Datenberg zum urbanen Leben angehäuft und ihn mit Modellen, Gleichungen und Netzwerkanalysen erschlossen. Mit seinen Formeln zeigte er im Fachblatt „Science“, dass alle Metaphern für Städtewachstum irreführend sind. Höchstens die Physik der Sterne funktionierte ähnlich, sagt er. „Eine Stadt ist vor allem ein sozialer Reaktor. Sie zieht Menschen an und beschleunigt soziale Interaktionen und erbrachte Leistungen in einer Art und Weise die man höchstens mit dem Wachstum von Sternen vergleichen kann. Sie ziehen Materie an und strahlen heller, je größer sie sind.“ Auch wenn die Mathematik dahinter eine andere ist.
„Städte haben kein Vorbild in der Natur“, sagt auch Dieter Rink vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. Deshalb vergleicht der Soziologe Städte nur untereinander – sofern sie ähnliche Merkmale haben. Zum Beispiel Leipzig und das englische Liverpool. Beide sind ähnlich groß und zeigen einige Parallelen in ihrer Geschichte. Aus solchen Vergleichen können auch Städte ihre Schlüsse ziehen, die wie Berlin als Hauptstadt und Metropole in einer anderen Liga spielen.
Denn es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Alle drei gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den am schnellsten wachsenden Städten in Europa. Luis Bettencourt schilderte in „Science“ die unübersehbaren Vorteile, die solch dynamisches Wachstum damals wie heute bietet: Meist steigt der Wohlstand schneller als die Zahl der Einwohner, „Big“ ist also nicht nur „beautiful“, sondern auch reicher. Seine Berechnungen gelten zumindest in gut entwickelten Regionen in großen und kleinen Städten gleichermaßen. Unabhängig davon, ob eine Riesenmetropole wie London ihr Land stark dominiert oder ob wie in der Schweiz oder Deutschland eine ganze Reihe von Gemeinden übergeordnete Rollen spielen, liefern seine in „Science“ publizierte Formeln gute Beschreibungen.
Ein Boom kann schnell zu Ende sein
Allerdings kann jeder Boom abrupt enden, wenn eine Katastrophe die Stadt oder das Land trifft. In Liverpool und Leipzig brach der Boom mit der Weltwirtschaftskrise am Anfang der 1930er Jahre ab. Seit der Hurrikan Katrina im August 2005 New Orleans in den USA flutete, ging die Einwohnerzahl von knapp einer halben Million Menschen auf weniger als 200 000 zurück. Seit Griechenland von einer beispiellosen Wirtschaftskrise gebeutelt wird, hat die Innenstadt von Athen rund die Hälfte ihrer Einwohner verloren. In der spanischen Hauptstadt Madrid entstehen in Folge der Krise zum ersten Mal seit langem wieder Slums in Europa. Inzwischen leben dort angeblich 20 000 bis 30 000 Menschen. In diesen Fällen versagen die Formeln von Bettencourt. Sie ergänzen deshalb die Arbeit eines Stadtsoziologen wie Dieter Rink vom Leipziger UFZ, nur ersetzen können sie seine Forschung nicht.
Berlin erlebte seine Katastrophe im Zweiten Weltkrieg und durch die Teilung der Stadt. War die Zahl der Einwohner durch Eingemeindungen in den zwanziger Jahren und einem später von den Nationalsozialisten weiter angeheizten Boom bis zum Anfang der 1940er Jahre auf knapp 4,5 Millionen Menschen gestiegen, schrumpfte die Stadt bis zur Wiedervereinigung auf wenig mehr als drei Millionen Einwohner.
In Leipzig endete der Boom bereits 1930, als die Stadt mit 718 000 Menschen so viele Einwohner wie nie zuvor hatte. Die Nationalsozialisten interessierten sich nicht für die politisch eher links stehende Stadt; seit 1933 schrumpfte die Einwohnerzahl. Diese Entwicklung setzte sich in der DDR fort, 1989 lebten gerade noch 530 000 Menschen in Leipzig. Dann traf die nächste Katastrophe die Stadt. Nach der Wende verlor Leipzig mehr als 80 Prozent seiner Industrie und damit seine wirtschaftliche Basis. Die Stadt drohte auszubluten, 1998 zählte man nur noch 430 000 Leipziger.
Leipzig schrumpfte - und trotzdem musste investiert werden
In dieser Zeit hatten die Stadtväter von Bundesmitteln unterstützt begonnen, sich gegen den Trend zu stemmen. „Die marode Stadt sollte saniert und die Lebensqualität verbessert werden“, sagt Rink. Mit dem Ausbau der Infrastruktur sollte Leipzig als Standort wettbewerbsfähig werden. In den 1990er Jahren flossen Milliardensummen in solche Investitionen: 1991 wurde die neue Messe geplant, die bereits fünf Jahre später eröffnet wurde. Innerhalb von zehn Jahren wurde der Flughafen erneuert und ausgebaut, zwei Drittel der historischen Gebäude wurden saniert, der Hauptbahnhof modernisiert, das Telekommunikationsnetz ausgebaut, Umweltschäden beseitigt. Die Liste ist lang.
„Für die öffentliche Hand sind Investitionen in Schrumpf-Phasen ein Risiko, weil sie zunächst die Kosten für Projekte trägt, deren spätere Auslastung unsicher ist“, sagt Rink. Lässt das erhoffte Wachstum auf sich warten, muss die Stadt zum Beispiel die Kosten für eine neue Kläranlage auf weniger Nutzer umlegen.
Wie praktisch wären da Formeln, mit denen man die Entwicklung einer Stadt berechnen kann! Während Bettencourts Analyse eher beschreibend ist, hat sich Alberto Hernando von der Polytechnischen Hochschule im schweizerischen Lausanne gemeinsam mit zwei Kollegen an der Vorhersage versucht. Ihre Formeln zur Entwicklung von Städten haben sie online auf „ArXiv.org“ publiziert.
Formeln für die Vorhersage
Tatsächlich konnten die Schweizer Forscher aus den demografischen Daten der Jahre 1900 bis 2011 aus Spanien die weitere Bevölkerungsentwicklung einer Stadt voraussagen. Der Haken: Das klappt nur, wenn für Jahrzehnte zuverlässige Bevölkerungszahlen vorliegen. Und die Prognose ist nur für die nächsten 15 Jahre zuverlässig. Danach taugt sie immer weniger. Für Stadtplaner ist aber der längere Zeitraum interessant. Oft erst nach Jahrzehnten fährt der Kämmerer eine Rendite ein, wenn dank der Investitionen in die Infrastruktur die Einnahmen aus Steuern und Gebühren wachsen, weil die Wirtschaft floriert und die Menschen in die Stadt strömen.
Leipzig wurde relativ schnell für seinen Mut belohnt. Seit 1999 steigt die Einwohnerzahl, 2012 gab es wieder 520 000 Leipziger. Seit 2005 entstanden in der Stadt rund 35 000 neue Jobs. Automobilkonzerne wie BMW und Porsche haben in Leipzig Werke aufgebaut, Internet-Versandhändler und Logistik-Konzerne wie Amazon und DHL sind heute große Arbeitgeber in der Stadt. Gleichzeitig profitiert Leipzig von der schlechten Situation in großen Teilen Ostdeutschlands. Junge Menschen wandern ab und suchen ihr Glück in den Städten wie Dresden, Erfurt, Jena und Leipzig, in denen sich die Wirtschaft erholt hat.
Oder Berlin, das seine Einwohnerzahl 2012 um immerhin 50 000 vergrößern konnte. In Metropolen sei die Situation allerdings wieder anders, sagt Rink. Berlin kann mit drei Universitäten und einem riesigen kulturellen Angebot punkten. Die Funktion als Hauptstadt tut ein Übriges, dass viele Menschen zusätzlich in die Stadt strömen, Wohnungen suchen und einkaufen. Berlin ist eine Art Selbstläufer geworden, gestärkt durch viele Einzelmaßnahmen. Der Hauptbahnhof zum Beispiel verbesserte die Verbindungen zum Rest der Welt. Einzige Einschränkung: Die Investitionen sollten gelingen und sich nicht zu einer unendlichen Geschichte entwickeln. Mit seiner Messe und dem zügig erneuerten Flughafen hat Leipzig vorgemacht, wie das geht.
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