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Neue Heimat. Heute gibt es auf dem Gelände hinterm Borsigtor in Tegel Industrieunternehmen, Händler und Dienstleister.
© Mike Wolff

Berliner Industrie: Hinter alten Mauern

Vor 175 Jahren wurde der Borsig-Konzern gegründet. 2002 kam die Pleite, doch Teile leben weiter.

Berlin - In der Berliner Industriegeschichte gehört Borsig zu den klangvollsten Namen, nur wenige Unternehmen in der Stadt haben eine ähnlich lange Tradition. Dennoch ist die heutige Borsig GmbH, die jetzt das 175. Jubiläum der Firmengründung feiert, nur noch wenigen Berlinern bekannt. Denn mit Eisenbahnen hat der einst größte Lokomotivhersteller Europas längst nichts mehr zu tun. Fünf Einzelunternehmen mit insgesamt rund 630 Mitarbeitern erwirtschaften jährlich etwa 200 Millionen Euro mit speziellen Technologien für die Industrie – darunter Kühl- und Wärmetauschanlagen, Kesselsysteme für Kraftwerke, Kolbenverdichter für Erdgastankstellen oder Gastrennanlagen für die Gas- und Ölproduktion.

„Die Tage der Insolvenz im Jahr 2002 sind längst vergessen“, sagte Geschäftsführer Stefan Beck am Freitagabend bei einem „Abend der Industriekultur“, zu dem der Verein „Berlin-Brandenburger Wirtschaftsarchiv“ mehr als 100 Gäste ins Ludwig-Erhard-Haus der Berliner Wirtschaft geladen hatte. Vor zehn Jahren war der hoch verschuldete Mutterkonzern Babcock-Borsig auseinandergebrochen. Borsig selbst hatte jedoch profitabel gewirtschaftet, und nur ein Jahr später gelang dem Management mithilfe eines Finanzinvestors der Neustart.

Seit 2008 gehört das Unternehmen, das seinen Hauptsitz noch immer auf dem historischen Firmengelände in Reinickendorf hat, zum Konzern KNM Group Berhad aus Malaysia. Heute sieht sich Borsig als weltweiter Marktführer bei der Entwicklung und Herstellung von industriellen Gaskühlapparaten. Laut Beck lassen außerdem Energiekonzerne wie Eon und RWE ihre Kraftwerke von Borsig-Technikern überholen. Es gibt Niederlassungen in Hamburg, Gladbeck, Rheinfelden sowie in Malaysia; bald soll auch ein Standort in Australien hinzukommen.

Der Öffentlichkeit präsentierte man sich zuletzt bei der „Langen Nacht der Industrie“ am 9. Mai, die zentrale Jubiläumsfeier ist für den 15. September geplant. Dazu sind auch Nachfahren des Gründers August Borsig (1804 bis 1854) eingeladen; am Geschäftsbetrieb ist die Familie allerdings nicht mehr beteiligt.

Romantik. Das Werk im Industriegebiet „Feuerland“ im Jahr 1847, gemalt von Eduard Biermann.
Romantik. Das Werk im Industriegebiet „Feuerland“ im Jahr 1847, gemalt von Eduard Biermann.
© picture-alliance / akg-images

Begonnen hatte alles im Jahr 1837, als August Borsig im Industriegebiet vor dem Oranienburger Tor, das die Berliner „Feuerland“ nannten, seine Eisengießerei eröffnete. Drei Jahre später wurde dort die erste Dampflokomotive namens „Borsig“ gebaut. Den Durchbruch brachte eine Wettfahrt gegen eine englische Dampflok, bei der die Berliner zehn Minuten früher in Jüterbog (Teltow-Fläming) ankamen. Daraufhin bestellte die preußische Eisenbahngesellschaft fast nur noch bei Borsig. „Bald hatte man ein Monopol im Lokomotivbau“, sagte Dieter Vorsteher, stellvertretender Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, am Freitag in seinem Festvortrag. 1854, im Todesjahr des Gründers, wurde bereits die 500. Lokomotive produziert, bis 1858 stieg die Zahl bereits auf 1000. Später wurde Borsig zum zweitgrößten Lokomotivenhersteller der Welt.

1898 eröffnete das 22,4 Hektar große Borsiggelände in Tegel. Zu den Besonderheiten gehörten ein eigener Hafen, das heute denkmalgeschützte Borsigtor am Werkseingang und die Werkssiedlung Borsigwalde, die seit 2012 offiziell ein Ortsteil des Bezirks Reinickendorf ist. 1922 kam der 65 Meter hohe Borsigturm hinzu, er war das erste Hochhaus Berlins. Zeitweilig hatte Borsig mehr als 7000 Mitarbeiter.

Doch während der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren endete der Boom des Eisenbahngeschäfts. In den 1930er Jahren wurde die Bahnsparte an die AEG verkauft und der Lokomotivbau ins AEG-Werk Hennigsdorf verlagert, während sich Borsig auf den Landmaschinenbau konzentrierte. Auf eine Übernahme durch Rheinmetall folgte die Umwandlung zu einer Rüstungsschmiede des Nazi-Regimes, in der auch Zwangsarbeiter schuften mussten. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Werk großenteils zerstört, die Reste demontierte später die Rote Armee. 1950 folgte ein Neubeginn als Hersteller von Werkzeugmaschinen; 1970 kam es zur Übernahme durch die Deutsche Babcock AG, die später zum vorläufigen Niedergang führte.

Das alte Tegeler Borsiggelände beherbergt neben der heutigen Borsig GmbH auch einige andere Nutzer: 1999 eröffnete das Shoppingcenter „Hallen am Borsigturm“ mit 50 000 Quadratmeter Verkaufsfläche und ein ehemaliges Regallager des Papierwarenherstellers Herlitz wurde zum Logistikzentrum „Dock 100“ umgewandelt. Die MAN Diesel & Turbo SE baut Turbinen und Kompressoren für Ölraffinerien, Pipelines und Stahlwerke. Im Jahr 2000 eröffnete zudem der US-Konzern Motorola dort ein internationales „Kompetenzzentrum“ für den digitalen Mobilfunkstandard Tetra, den Behörden und Sicherheitsdienste nutzen.

Die wechselvolle Fimengeschichte fand übrigens auch der als Krimiautor unter dem Kürzel „-ky“ bekannt gewordene Schriftsteller Horst Bosetzky aus Reinickendorf so spannend, dass er sie literarisch umgesetzt hat: „Der König vom Feuerland: August Borsigs Aufstieg in Berlin“, heißt Bosetzkys neuestes Buch, aus dem er am Freitag las. Wie ein Krimi wirkt besonders die Schilderung der Wettfahrt gegen die Engländer im Jahr 1840, bei der es anfangs keineswegs nach einem Sieg der Berliner Underdogs ausgesehen hatte: Wegen technischer Probleme hatte sich Borsigs Dampflok zunächst nicht in Bewegung gesetzt.

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