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Abo (l.) und Ahmad M. streiken vor dem Auswärtigen Amt
© Büsra Delikaya

„Zeit, dass die Berliner Solidarität mit uns zeigen“: Angst um Eltern und Geschwister in Afghanistan – Brüder halten Mahnwache

Ahmad M. hat in Afghanistan der Bundeswehr gedient. Zusammen mit seinem Bruder demonstriert er nun vor dem Auswärtigen Amt für seine Familie.

Sie bangen um ihre Familien in Afghanistan. Seit nunmehr neun Tagen harrt eine Gruppe von Afghanen vor dem Auswärtigen Amt in Mitte aus, noch vor 8 Uhr früh sind sie da und bleiben bis 20 Uhr abends, fordern Hilfe und, wie auf einem ihrer Transparente steht: „Ortskräfte retten!“

Zwei Männer stehen dicht beieinander, halten ebenfalls Plakate vor sich. Die Brüder sind aus Essen angereist, Abo und Ahmad M., der ältere von beiden. Seit Mitte August wachen sie vor dem Auswärtigen Amt, in der Hoffnung, so die Ausreise ihrer Familie, ihrer Eltern und der neun Geschwister zu erreichen.

Ahmad M. gehörte selbst zu den Ortskräften, die im Zuge des Bundeswehreinsatzes jahrelang für Deutschland und die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe, die ISAF, gearbeitet haben. „Wir zwei stehen hier für unsere ganze Heimat, im Namen all der Leute, die in die Kurse gegangen sind, Englisch gelernt haben, Deutsch gelernt haben, um die Truppen zu unterstützen.“

Man habe Prüfungen absolviert, erzählt Abo M., damit die Bundeswehr Köche, Verkäufer, Sprachmittler zur Verfügung hatte, genau wie sein Bruder Ahmad. „Ich war in meiner Heimatstadt Masar-e Sharif neun Jahre lang für die Bundeswehr als Dolmetscher tätig“, erklärt Ahmad M. Er habe gut verdient und einen Großteil des Geldes in die Bildung seiner zehn Geschwister investiert. Wohl auch, weil er und ein anderer Bruder, der als Ingenieur ebenfalls als Ortskraft gearbeitet hat, für die Taliban als Ungläubige gelten, als Verräter.

„Wir jüngeren Geschwister haben unsere Schulen mit Bestnoten abgeschlossen, dank meines Bruders, er hat sich um uns gekümmert und Tag und Nacht als Ortskraft gearbeitet“, sagt Abo M. Ein anderer Bruder und die Ehefrau von Ahmad M. sind Ärzte. Die Familie besaß zwei Apotheken, erzählen sie, beide wurden angezündet und liegen nun in Schutt und Asche. Die Arbeit als Ortskraft sei ein großes Risiko gewesen.

Viele Ortskräfte und ihre Angehörigen hoffen in Kabul auf eine sichere Evakuierung.
Viele Ortskräfte und ihre Angehörigen hoffen in Kabul auf eine sichere Evakuierung.
© Marc Tessensohn

Abo M. war 14 Jahre alt, als sein damals 26-jähriger Bruder ihn 2015 mit auf die Flucht nahm. Sie hätten nur mitnehmen können, was sie am Leib trugen, erinnert sich Abo M. Der heute 22-jährige sagt, er sei sehr jung gewesen, habe den Grund der Flucht erstmal nicht begreifen können. Sein Bruder habe Drohungen erhalten, man habe auf ihn geschossen. „Du musst deine Arbeit als Ortskraft verlassen, egal, wie du das machst, sonst wirst du einen Kopf kürzer! Das war eine reale Bedrohung, deswegen sind wir nach Deutschland gekommen.“

Ahmad M. nickt: „Ja, ich sagte: Komm, Bruder, vielleicht haben wir woanders eine Chance.“ Damals seien sie davon ausgegangen, ihre Familien bald nachholen zu können. Ahmad S. deutet auf eine schwarze Aktentasche auf dem Boden: „Ich habe bis 2015 für die Bundeswehr gearbeitet, Verträge und Absicherungen, alles ist hier drin, mit Datum, mit Unterschrift.“

„Bruder, wir sind noch am Leben“

Die Brüder versuchen, mit der Familie in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Nur mit einem Bruder könnten sie alle paar Tage telefonieren, aber nie länger als zwei oder drei Minuten, da sie die Handyortung ihrer Familien durch die Taliban fürchten. Ihr Bruder telefoniere nur während des Joggens, sodass der Standort nicht so einfach ermittelt werden kann. „Er sagt dann nur: Bruder, wir sind noch am Leben. Er sagt nicht, ob sie gegessen haben, ob es ihnen gut geht oder nicht.“ Abo M. bricht die Stimme weg, er weint.

Bevor der 32-jährige Ahmad M. als ältestes seiner zehn Geschwister mit der Arbeit als Ortskraft begann, habe er beim deutschen Vorgesetzten Rückversicherung eingeholt. „Wenn etwas Schlimmes passiert, was macht ihr dann mit uns, habe ich gefragt. Er sagte: Wir sind immer hinter euch.“ Dieses Versprechen habe er schriftlich, sagt Ahmad M., „aber es nützt mir nichts.“

Während im Mai der Bundeswehr-Abzug in vollem Gange war und über die Transportmöglichkeiten des in Masar-e Sharif errichteten Gedenksteins für gefallene deutsche Soldaten im Afghanistan- Einsatz diskutiert wurde, erhielten Ahmad und Abo M. einen Brief, der ihre eventuelle Abschiebung ankündigte. „Es gäbe in Afghanistan sieben sichere Städte, hieß es. Wo sind diese sicheren Orte gewesen?“

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Ahmad M. berichtet von Afghan:innen in Deutschland, die auch nach Afghanistan abgeschoben wurden, während die Taliban vorrückten. „Ich als Afghane kenne in meiner Heimat nicht einen Zentimeter eines sicheren Ortes.“

Sie würden sofort nach Afghanistan fliegen, wenn sie könnten, sagt Ahmad M: „Meine Frau ist doch dort und meine ganze Familie ist in Gefahr.“ Beide Afghanen sind in Deutschland bloß geduldet, Abo M. beklagt, dass er dadurch nicht wie erhofft ein Studium aufnehmen kann. „Ich habe Sprachkurse besucht, die zehnte Klasse erfolgreich beendet, einen Abschluss in der Tasche, aber darf nicht studieren.“

Menschen, die ihren Kopf für diesen Job riskiert haben

Dass sie nun „einfach so im Stich gelassen werden“, habe der ehemalige Bundeswehr-Mitarbeiter nie gedacht. „Ich habe fast zehn Jahre lang täglich mit deutschen Soldaten gearbeitet, wir waren dauernd zusammen“, man habe sich morgens mit den Worten „Hallo, mein lieber Freund!“ begrüßt. „Und jetzt? So viele Ortskräfte sind hilflos, mindestens 300 Familien sind involviert.“ Ahmad M. erzählt von seinem Kollegen, der vor Kurzem von den Taliban ermordet wurde, „er hat sieben Kinder und eine Frau zurückgelassen“.

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Ohne seinen Bruder und all die Ortskräfte, ergänzt Abo M., hätte die Bundeswehr nichts machen können, „nicht einmal bis zum Basar hätten sie gehen können, um sich was zu trinken zu holen.“ Er verstehe nicht, wie man Menschen, „die ihren Kopf für diesen Job riskiert haben“, nun im Stich lassen könne.

„Wir sind die Leute, denen die Bundeswehr, ISAF und NATO versprochen hatten, sie zu schützen“, sagt Ahmad M. Doch von den Zuständigen im Auswärtigen Amt sei bisher niemand zu ihnen gekommen. Die ersten sechs Tage hätten sie im Hungerstreik verbracht, sagen die Brüder, seit drei Tagen essen und trinken sie wieder ein wenig.

„Jetzt ist die Zeit, dass die Menschen in Berlin Solidarität mit uns zeigen“, sagt Abo M., denn „das Land, die Frauen dort, brauchen jede Hilfe.“ Laut um Hilfe zu rufen, Abo M. schüttelt im Kopf, das könne in Afghanistan niemand, das würde Leben kosten. Aber in Deutschland, hier in Berlin könne man das.

Büsra Delikaya

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