Studierendenansturm: Zu viele Studierende sind überfordert
Deutschland setzt auf eine weitergehende Akademisierung. Das ist verheerend: ein Appell zum Umdenken.
„Die Mär vom Akademisierungswahn“ – unter diesem Titel schrieb Jan-Martin Wiarda im Tagesspiegel, dass Deutschland nicht zu viele Studierende hat, sondern ein Problem mit dem dualen Ausbildungssystem. Wiardas zentrale Thesen: Eine vermeintliche Überakademisierung der Gesellschaft ist empirisch nicht zu belegen, weil die Arbeitslosenquote unter Akademikern die niedrigste überhaupt ist und immer weiter sinkt. Vielmehr gebe es einen enormen Verbesserungsbedarf bei der dualen Ausbildung. So müssten sich Betriebe stärker als Bildungsstätten begreifen. Auf den Text antwortet heute der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Tsp
Im Jahre 2017 ist die Über-Akademisierung in Deutschland nicht mehr ein Streitthema für Interviews, Podiumsdiskussionen und Publikationen, sondern eine schlichte, unbestreitbare Tatsache. Die Abbrecherquoten steigen in letzter Zeit auch an den Fachhochschulen, die Unzufriedenheit der Studierenden oder präziser: die Diskrepanz zwischen Erwartung und Studienrealität nimmt zu. Psychologen konstatieren ein Überforderungssyndrom von Studierenden an den Universitäten trotz Jahr für Jahr sinkender Leistungsanforderungen. Unterdessen warten Bundesbürger im Durchschnitt zehn Wochen auf einen Handwerker, weil die Handwerksbetriebe der Nachfrage nicht nachkommen können und vier von zehn Betrieben Schwierigkeiten haben, offene Stellen zu besetzen.
Laut einer Umfrage unter rund 24 000 Unternehmen hat fast jede zweite Firma inzwischen Schwierigkeiten, offene Stellen in Lehrberufen mit Fachkräften zu besetzen – vor einem Jahr waren es 37 Prozent. Der DIHK schätzt aus hochgerechneten Antworten in der Befragung, dass insgesamt rund 1,6 Millionen Stellen in Deutschland längerfristig nicht besetzt werden können – im Vorjahr waren es rund 1,3 Millionen Stellen. Diese Zahl werde sich in den nächsten Jahren weiter erhöhen, mit Milliardenverlusten in der deutschen Wirtschaft als Folge.
Gutes Ausbildungssystem - niedrige Jugendarbeitslosigkeit
Die Zahl der Auszubildenden ist vor allem infolge der massiven Verlagerung von der beruflichen in die akademische Bildung mit einem Plus von sechzig Prozent in nur sechs Jahren zwischen 2006/7 und Wintersemester 2012/13 eingebrochen. Dies entsprach einer bildungspolitischen Zielsetzung, die sich an den internationalen Daten und Perspektiven der OECD orientierte und dem seit Langem beklagten vermeintlichen Mangel an Akademikern in Deutschland aufhelfen wollte. Vermeintlich deswegen, weil hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Das, was in Deutschland in der beruflichen Bildung vermittelt wird, findet in den USA an Hochschulen (Colleges) statt, allerdings mit weniger Praxisbezug und Berufsaussichten. Die drei Länder mit den niedrigsten Akademikerquoten und einem entwickelten System beruflicher Bildung haben unter allen Industrieländern die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit: Schweiz, Deutschland und Österreich.
Für diese massive Verschiebung spielte auch der Wechsel von der Hochschulreife zur Hochschulzugangsberechtigung eine Rolle. Statt Hochschulreife zu garantieren, was die Aufgabe der Schulen war, die mit dem Abitur abschlossen, haben die Ministerialbürokratie und die Bildungspolitik sich von diesem Bildungsziel verabschiedet und stattdessen Kriterien der Hochschulzugangsberechtigung entwickelt, die jeder inneren Logik entbehren.
Die Folge ist, dass ein wachsender Anteil der Studierenden in den ersten Semestern nicht reif für ein Studium ist. Wie könnte es auch anders sein. Wenn man die Hochschulreife als Voraussetzung einer Hochschulzugangsberechtigung abschafft, dann muss man es konsequenterweise den Hochschulen überlassen, den Zugang durch entsprechende studienspezifische Testverfahren selbst zu bestimmen. Die Hochschulreife aufzugeben und zur gleichen Zeit den Hochschulen zu untersagen, selbst für Qualität zu sorgen, musste in steigenden Abbrecherquoten, steigender Unzufriedenheit und einer dysfunktionalen Bildungsentwicklung münden.
Deutschland ist, anders als Frankreich oder Großbritannien, nicht deindustrialisiert. Das verarbeitende Gewerbe ist hier fast drei Mal so gewichtig für die Wertschöpfung wie in den europäischen Nachbarstaaten. Zugleich ist die mittelständische Wirtschaft, zumal die im Bereich Handwerk und Technik, hochspezialisiert, oft auf dem Weltmarkt führend, in hohem Maße auf qualifizierte, nicht-akademische Fachkräfte angewiesen. Eine Über-Akademisierung nach britischem oder französischem Muster würde dieses Erfolgsmodell zerstören.
Die Hochschulen sollen weiter Studienplätze aufbauen
Das Merkwürdige allerdings ist, dass die Systemlogik sich fortsetzt, obwohl unterdessen die Akteure ganz überwiegend eingesehen haben, dass das nicht sinnvoll ist. So werden zum Beispiel immer noch Zielvereinbarungen mit den Universitäten und Fachhochschulen zwischen Landesministerien und Hochschulleitungen geschlossen, die einen Anstieg der Studierenden- und Absolventenzahlen vorsehen. Wie man angesichts der demografischen Schrumpfung noch Zielvereinbarungen vonseiten der Bildungspolitik forcieren kann, die einen weiteren Aufwuchs der Studierendenzahlen beinhalten, ist mir schleierhaft. Während die Wirtschaftsressorts fast durchgängig die Gefahr erkannt haben und für eine Stärkung der beruflichen Bildung werben, ohne dass dafür allerdings bislang viel geschehen ist, setzen die meisten Bildungs- und Wissenschaftsministerien der Länder nach wie vor auf eine weitergehende Akademisierung mit verheerenden Folgen für die Zukunftsperspektiven der beruflichen Bildung.
Die Bildungspolitik sollte in der gleichen Weise, wie sie die Stärkung der tertiären Bildung über Jahre gefördert hat, sich nun der beruflichen Bildung zuwenden und die Dysbalancen zwischen den beiden Hauptsäulen der Bildungsentwicklung abstellen. Dazu bedarf es einer engen Kooperation von Wirtschafts- und Bildungsministerien, einer massiven Stärkung der Berufsschulen, auch damit sie für die Herausforderungen der Zukunft fit gemacht werden, und das offene Bekenntnis zu einem deutschen (und österreichischen und schweizerischen) Sonderweg in Europa, den es zu verteidigen gilt.
Die Akademisierung wertet andere Begabungen ab
Neben diesen ökonomischen und technologischen Aspekten gibt es aber auch einen humanen: Es ist inhuman, die akademische Bildung als höchste Form anzusehen und damit systematisch alle anderen Fähigkeiten, Begabungen und Interessen abzuwerten. Wir sollten uns von der Vorstellung lösen, es gäbe ein Oben und ein Unten, oben throne die wissenschaftliche Qualifikation und unten seien die Handwerker und darunter die Ungelernten. Dieses Oben und Unten ist inhuman. Wir sollten dazu übergehen, das Bildungssystem als ein Angebot zu verstehen, das unterschiedlich interessierten und befähigten jungen Menschen ermöglicht, ihr Eigenes zu finden.
Es sind nicht die Besseren, die den akademischen Weg, und die Schlechteren, die den anderen, nicht-akademischen Weg gehen, sondern es sind die einen, die besonders kognitive Interessen und Fähigkeiten haben, und die anderen, die ebenso wichtige gleichrangige Interessen und Fähigkeiten haben, wie zum Beispiel handwerklich-technische, künstlerisch-gestalterische, soziale oder kaufmännische. Lasst die Menschen in gleicher Würde und gleichem Respekt ihren eigenen Bildungsweg finden. Das heißt aber auch, dass die nicht-akademischen Abschlüsse aufgewertet und die noch bestehenden Unterschiede, insbesondere im öffentlichen Dienst, zwischen akademischer und nicht-akademischer Qualifikation bei den Gehältern eingeebnet werden sollten. Es gibt andere Möglichkeiten, zu differenzieren, nach Engagement, nach Erfahrung, nach Qualifikation.
Weg vom Bildungsdünkel
Der Einsicht in eine gefährliche Fehlentwicklung, die unterdessen weitgehend gestoppt ist, müssen nun die Taten folgen: Unternehmen sollten sich wieder stärker in der Ausbildung engagieren, nur noch ein Fünftel aller Unternehmen bildet aus. Die Wissenschaftsministerien sollten aufhören, Zielvereinbarungen mit den Hochschulen zu treffen, die auf einen weiteren Zuwachs der Studierendenzahlen hinauslaufen. Die Wirtschaft und die Gewerkschaften, auch die Bildungs- und Wirtschaftspolitik, müssen die berufliche Bildung wieder attraktiver machen, in Berufsschulen investieren, Berufsschullehrer bilden, Englischkenntnisse und Allgemeinbildung forcieren. Und die Akademikerinnen und Akademiker sollten sich von ihrem Bildungsdünkel verabschieden, wonach wahre Bildung akademisch sei und erst mit Abitur und Studium eigentliches Menschsein beginne.
Der Autor lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, er war Kulturstaatsminister in der ersten Regierung Schröder. Im Jahr 2014 publizierte er das Buch „Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“.
Julian Nida-Rümelin