Studium vs. Duale Ausbildung: Die Mär vom Akademisierungswahn
Den Akademisierungswahn beklagen Politiker immer wieder. Doch sie irren: Deutschland hat nicht zu viele Studierende, sondern ein Problem mit dem dualen Ausbildungssystem.
Die Warnung war deutlich. „Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen“, appellierte der Münchner Philosophieprofessor Julian Nida Rümelin 2013 in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Innerhalb weniger Jahre war die Studierendenzahl um 700 000 gestiegen, auf mehr als 2,6 Millionen. Die Bildungspolitik, befand Nida-Rümelin, habe einen Weg eingeschlagen, der dazu führen könnte, „die einzigartige Qualität des Bildungssystems zu beschädigen oder sogar zu zerstören.“ Ganz Europa schaue neidisch auf Deutschlands Ausbildungsmodell, doch würden bald die Studenten den Azubis den Rang ablaufen. „Das finde ich falsch.“ Nida-Rümelin warnte vor Qualitätseinbußen. „Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass, wenn alle studieren, alle in Zukunft Führungsfunktionen in Staat und Wirtschaft einnehmen werden? Das ist naives Wunschdenken.“
Tatsächlich ist die Zahl der Studierenden seit 2013 weiter gestiegen – auf zuletzt 2,84 Millionen. Und die Warnung des einsamen Rufers von einst ist inzwischen im Mainstream angekommen. Wer kürzlich den führenden Bildungspolitiker der Bundesrepublik bei der Vorstellung des Nationalen Bildungsberichts zuhörte, vernahm wenig Lob für die unglaubliche Expansionsleistung der Hochschulen, wohl aber den Ruf nach mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung. Sie müsse gestärkt werden mit „vergleichbaren Aufstiegsmöglichkeiten“ wie nach einem Studium, forderte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Das Thema liege ihr „besonders am Herzen“. Der KMK-Präsident neben ihr forderte einen „höheren Stellenwert“ für Lehrberufe. Deren Bedeutung für erfolgreiche Lebenswege sei „leider in der Vergangenheit in den Schatten gerückt worden“, sagte Helmut Holter (Linke), der im Hauptberuf Bildungsminister in Thüringen ist.
Die These der Überakademisierung ist empirisch nicht zu belegen
Es gibt da allerdings ein Problem. Abgesehen vom mediengewandten Nida-Rümelin sagen die meisten Bildungswissenschaftler, erst recht die empirisch arbeitenden, dass die These einer vermeintlichen Überakademisierung der Gesellschaft nicht zu belegen ist. „Ganz sicher nicht anhand der Daten zur Arbeitsmarktentwicklung, die uns vorliegen“, sagt der Hochschulforscher Andrä Wolter vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und von der Humboldt-Universität. „Die Arbeitslosenquote von Akademikern ist die niedrigste überhaupt und ist in den vergangenen Jahren weiter gesunken.“ Natürlich gebe es Unterschiede etwa zwischen Germanisten und BWLern, trotzdem fänden die allermeisten Hochschulabsolventen entgegen verbreiteter Überzeugungen eine „adäquate Beschäftigung“, also ihrer Qualifikation angemessen. „Und das entsprechende Geld verdienen sie auch.“
Die Daten, von denen Wolter spricht, befinden sich übrigens allesamt in dem Bildungsbericht, den Karliczek in Berlin präsentierte und dabei – paradoxerweise – ihre Sorge über die allzu hohe Studierneigung der jungen Leute äußerte. Wolter ist Mitglied der Autorengruppe, die den Bericht im Auftrag von Bund und Ländern erarbeitet hat, wie auch Susan Seeber. Die Expertin für berufliche Bildung am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen sagt: „Die Herausforderung besteht nicht darin, dass immer mehr Schulabsolventen ein Studium anstreben, da ihr Großteil ja offensichtlich erfolgreich ins Berufsleben startet. Die Herausforderung ist, dass das duale Ausbildungssystem nicht in Ansätzen so gut funktioniert, wie manche es immer noch behaupten.“
Bei der dualen Ausbildung gibt es enormen Verbesserungsbedarf
Woraus sich eine differenzierte Bestandsaufnahme ergibt: Das Problem ist nicht ein unverschuldet schlechtes Image der dualen Ausbildung, das, verbunden mit einem unerklärlichen Studierhype, zu einem mangelnden gesellschaftlichen Stellenwert der Lehrberufe geführt hat. Im Gegenteil: Dass mittlerweile jährlich mehr als 500 000 Menschen oder, anders formuliert, fast 45 Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen, ist die logische Folge der gesellschaftlichen und ökonomischen Attraktivität eines Hochschulabschlusses. Dass 2017 nur noch gut 700 000 junge Menschen eine Berufsausbildung begannen und damit gut 60 000 weniger als 2005, hat umgekehrt eine ganze Reihe von Gründen, die alle nicht mit den Hochschulen zusammenhängen.
Die zwei wichtigsten nennt Susan Seeber. Erstens: „Wir haben es mit einer mangelhaften Passung zu tun“, sagt die Göttinger Bildungsforscherin. Es gebe Regionen mit vielen jungen Menschen aber schwacher Wirtschaftskraft und daher zu wenig Ausbildungsplätzen. Anderswo wiederum seien die Stellen da, aber durch den Geburtenrückgang fehlten die Bewerber, und im Vergleich zu angehenden Studierenden seien Azubis bundesweit deutlich weniger mobil. „Das stärkste Missverhältnis besteht aber zwischen dem, was junge Menschen heute von ihrem Berufsleben erwarten, und dem, was in einer Reihe von Ausbildungsberufen an Geld, Arbeitszeiten und Aufstiegsmöglichkeiten geboten wird.“ Im Hotel- und Gastgewerbe etwa gebe es in Bezug auf die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen einen enormen Verbesserungsbedarf, sagt Seeber. „So bleiben die Stellen leer.“ Den Jugendlichen deshalb mangelhafte Einsatzbereitschaft oder Flexibilität vorzuwerfen, führe nicht weiter.
Zu viele potenzielle Azubis landen im Übergangssektor
Zweitens: „Viele junge Menschen, die eigentlich eine Ausbildung absolvieren würden, kommen gar nicht so weit“, sagt Seeber. Allein 2017 landeten 292 000 junge Menschen neu im sogenannten Übergangssektor, weil sie nach Ende der Schulpflicht als nicht ausbildungsreif erachtet wurden oder keine passende Stelle gefunden haben. Sie besuchen ein, zwei oder mehr Jahre sogenannte Berufsvorbereitungsklassen, um ihre aus der Regelschule mitgebrachten Lerndefizite aufzuarbeiten, bevor gut die Hälfte von ihnen doch noch den Sprung auf eine Lehrstelle schafft. Der Rest – rund ein Sechstel aller Menschen in Deutschland – bleibt auch langfristig ohne Berufsabschluss. Andrä Wolter sagt: „Wenn es der Bildungspolitik gelänge, den Anteil der Menschen im Übergangssystem auf die Hälfte zu senken, würde keiner mehr von zu wenigen Auszubildenden oder einer Überakademisierung sprechen.“
Der Übergangssektor gehört allerdings nicht zu den Lieblingsthemen der Bildungspolitik. Die fünfseitige gemeinsame Pressemitteilung zur Präsentation des Bildungsberichts, herausgegeben von Karliczeks Ministerium und der KMK, widmete ihm ganze fünf Zeilen. Die Unternehmen verweisen derweil auf ihr großes Engagement für „leistungsschwächere Jugendliche“ etwa in Form betrieblicher Einstiegsqualifizierungen oder assistierter Ausbildungsformate. So sei die Zahl der Schulabgänger ohne Studienberechtigung zwischen 2003 und 2016 um 26,9 Prozent zurückgegangen, die der abgeschlossenen Ausbildungsverträge aber nur um 6 ,6 Prozent. Unternehmen könnten aber nicht zu dauerhaften „Reparaturbetrieben“ werden, betont der Arbeitgeberverband BDA, „umso wichtiger sind Qualitätsverbesserungen in der Schulbildung.“
"Unternehmen sollten sich als Bildungsstätten begreifen"
Aber, siehe oben, eben nicht nur. „Die Unternehmen sollten sich schon auch selbst stärker als Bildungsstätten begreifen“, sagt Susan Seeber. Und offener werden für jene, die auf den ersten Blick „nicht ausbildungsfähig“ zu sein scheinen. Auch in dieser Hinsicht hält der Bildungsbericht ein überraschendes Ergebnis bereit: Jugendliche, die im Übergangssektor gelandet sind, lesen und rechnen im Schnitt fast genauso gut wie jene in Ausbildung.
Zurück zur Vorstellung des Bildungsberichts in Berlin, die sich auf die berufliche Bildung konzentrierte und die Frage, wie man sie wieder attraktiver macht. Das sei richtig gewesen, sagen die Bildungsforscher. „Man erreicht aber sicherlich keinen stärken Zulauf von Abiturienten in die Ausbildung, indem man das Studium als nachweislich erfolgreiche Alternative in Frage stellt“, sagt Andrä Wolter. Die Zukunft liegt seines Erachtens in Modellen, die Ausbildung und Studium kombinieren: indem Betriebe Azubis erst eine Ausbildung und später ein Studium anbieten. Oder in Form dualer Studiengänge, wo Phasen im Betrieb und an der Hochschule sich abwechseln und die sich in den vergangenen zehn Jahren zum Renner entwickelt haben.
Der Trend zu hochqualifizierten Jobs nimmt zu
Nida-Rümelin hat also Unrecht. Aber muss das auch so bleiben? Kann das System nicht doch irgendwann kippen, und 26-jährige Hochschulabsolventen hocken arbeitslos herum, während 70-jährige Handwerker ihnen die Bude reparieren?
„Bislang hat der Arbeitsmarkt noch jede Akademisierungswelle der vergangenen 50 Jahre verkraftet und auch als Innovationschance genutzt“, sagt Wolter. Ob Lehrerarbeitslosigkeit in den 80ern oder Ingenieurüberschuss in den 90ern: alles vorübergehende Phänomene. Nichts deute darauf hin, dass der akademische Jobmarkt in absehbarer Zeit die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit erreiche, im Gegenteil: Durch die Digitalisierung und den Strukturwandel nehme der Trend zu hochqualifizierten Jobs weiter zu. Aber natürlich, sagt Wolter, wolle er als Wissenschaftler nicht über die Zukunft spekulieren.