Ausbildung in Berlin: Firmen finden keine Azubis - und viele Azubis keine Firma
Sie finden nicht zusammen. Berliner Schulabgänger bewerben sich nicht um Ausbildungsplätze, obwohl es viele gibt. Woran das liegt und was getan wird. Fragen und Antworten.
Immer mehr Berliner Betriebe beklagen, dass sie keine Auszubildenden finden – und die, die sie finden, seien weniger belastbar als früher und schlechter in Mathematik und Deutsch. Die Jugendlichen wiederum haben keine Lust mehr auf unzählige Überstunden, frühes Aufstehen und einen langweiligen Job. Und so wird es immer schwerer, dass sie zueinander finden. Nach den jüngsten Arbeitsmarktzahlen gab es in der Hauptstadt noch 7583 freie Lehrstellen und 9176 Bewerber ohne einen Platz.
Was beklagen die Unternehmen?
Vier von zehn Berliner Betrieben können mittlerweile nicht mehr all ihre Ausbildungsplätze besetzen. Besonders drastisch sieht es im Gesundheitswesen (46 Prozent), Handel (53 Prozent), Gastgewerbe (59 Prozent) und im Baugewerbe (82 Prozent) aus. Gerade in den beiden extremsten Branchen liege das unter anderem daran, dass „die jungen Menschen die hohe körperliche Belastung, die enorme Anstrengung, abschreckt“, sagt Simon Margraf von der Berliner Industrie- und Handelskammer.
Die Zahl der frei bleibenden Lehrstellen hat sich laut der aktuellen Aus- und Weiterbildungsumfrage der IHK, die am Dienstag vorgestellt wurde, seit 2009 vervierfacht. Am wenigsten Probleme haben noch die Finanz- und Immobilienbranche. Zweidrittel der Unternehmen begründen den Missstand damit, dass sich keine geeigneten Jugendlichen gemeldet hätten; fast ein Drittel bekam erst gar keine Bewerbungen. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren hatten bei der Umfrage 45 Prozent gesagt, sie seien mit den Lebensläufen und Noten nicht ausreichend zufrieden und nur einer von hundert hatte erst gar kein Zeugnis vor sich liegen, das er ablehnen konnte.
Warum ist das so?
Als ein wesentlicher Grund wird die Akademisierung in schrumpfenden Schulklassen genannt. Hauptsache Abitur war jahrelang das Credo von Wirtschaft und Politik – und wer Abi hat, der soll studieren. Seit zwei Jahren gehen allerdings mehr junge Menschen nach der Schule an die Uni als dass sie eine Lehre beginnen – und die Politik wirbt inzwischen für die duale Ausbildung.
Speziell in Berlin kommt erschwerend die Konkurrenz durch die Oberstufenzentren (OSZ) hinzu, für die sich die Jugendlichen nicht bewerben, sondern bloß anmelden müssen. Die duale Ausbildung müsse aus Sicht der IHK aber Vorrang haben. Hilfreich wäre schon, die Anmeldetermine am OSZ vom Frühjahr in den Spätsommer zu verschieben, wenn der neue Lehrjahrgang beginnt. „Zu viele machen es sich im OSZ erstmal bequem. Dort müssen sie ja auch nicht um fünf Uhr morgens aufstehen“, sagte Hauptgeschäftsführer Jan Eder kürzlich.
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Die IHK fordert zudem schon länger, die Berufsvorbereitung an den Schulen zu verbessern. Mehr als jedes achte Unternehmen findet immerhin in der aktuellen Umfrage, dass Schulabgänger zu unklare Vorstellung von der wirklichen Berufswelt hätten – trotz Google und Wikipedia. 2010 sagten das 56 Prozent, 2014 schon 77 Prozent. Außerdem gibt es in Berlin nicht so viele Konzerne wie BMW, die als Marke bekannt und beliebt sind, sondern vor allem kleine und mittelgroße Betriebe. Und dann kritisieren die Berliner Betriebe noch die Azubis selbst: Zu wenig belastbar und leistungsbereit (65 Prozent) seien sie, zu schlecht im Ausdruck (60 Prozent), bei elementaren Rechenfertigkeiten (48 Prozent) und im Umgang (41 Prozent). Nur einer von zehn Betrieben nennt keine Mängel bei den Auszubildenden.
Was machen die Unternehmen?
Fast die Hälfte der Unternehmen bietet Praktika an, um Jugendlichen mit schlechteren Noten oder einem nicht so guten ersten Eindruck dennoch eine Chance zu geben – und spricht andere Bewerbergruppen wie etwa Studienabbrecher an. Mehr als jeder Dritte senkt seine Anforderungen, nimmt Schulabsolventen mit Defiziten und bietet ihnen Nachhilfe an. Ein Drittel verbessert sein Marketing, da Jugendliche heute besser auf Instagram erreicht werden als über Flyer aus Papier. 20 Prozent kooperieren mit Schulen und Hochschulen. 17 Prozent locken Mädchen und Jungen mit finanziellen Anreizen zu sich. 2014 war dazu noch weniger als jeder Zehnte bereit.
So teilten die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg vor einem Monat mit: 2007 zahlten die Betriebe im Durchschnitt knapp 630 Euro an Ausbildungsvergütung. Im vergangenen Jahr waren es knapp 880 Euro. Zehn Prozent bilden inzwischen Geflüchtete aus.
Allerdings gibt es auch Unternehmen, die aufgegeben haben oder darüber nachdenken: Fast ein Drittel fürchtet, dass der Azubi doch wieder abspringt. Ein Fünftel hat in den vergangenen Jahren zu schlechte Erfahrungen gemacht, ein Siebtel fürchtet zu sehr um seine wirtschaftlichen Perspektiven – und ein Achtel könnte seine Lehrlinge im Anschluss nicht übernehmen.
Was sagen die Auszubildenden?
Die Gewerkschaft erinnert die Unternehmen regelmäßig daran, dass sie nicht ganz unschuldig an der Entwicklung sind. In Berlin löst jeder dritte Lehrling seinen Ausbildungsvertrag wieder auf, was nicht gerade von Zufriedenheit zeugt. Im öffentlichen Dienst gehen acht von hundert vor Ende. In der Industrie und im Handel ist es jeder Vierte. Im Handwerk bricht fast die Hälfte ab. Laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund ist das Risiko besonders hoch, wenn die Vergütung besonders niedrig ist – wie etwa in Restaurantküchen, Hotels, und Friseursalons. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack fordert die Bundesregierung deswegen auf, den geplanten Mindestlohn für Azubis zügig durchzusetzen. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht geschrieben, dass dieser zum 1. Januar 2020 in Kraft treten soll – was Wirtschaftsverbände als Eingriff in die Tarifautonomie ablehnen. Im Berufsbildungsbericht wird zwar auch gesagt, dass die Jugendlichen oft falsche Berufsvorstellungen hätten. Die Hauptgründe für die hohe Auflösungsquote sind aber Konflikte mit Vorgesetzten und eine schlechte Ausbildungsqualität.
Dazu kommt, dass sich die jungen Menschen – auch wegen der Digitalisierung – andere Berufe wünschen als zu den Lehrzeiten ihrer Eltern. Der recht junge Ausbildungsgang in Berlin zum E-Commerce-Kaufmann wird beispielsweise gut nachgefragt. Was sie sich noch wünschen, ist eine andere Art zu arbeiten. In Befragungen antworten sie auf die Frage nach ihrem wichtigsten Lebensziel: ein sinnvoller Job, Unabhängigkeit und genügend Raum und Zeit, um das eigene Leben zu genießen. Die Jahrgänge 1980 bis 2000 legen mehr Wert auf Freizeit und Vereinbarkeit mit der eigenen Familie als Generationen zuvor. Sie wissen, was Stress und zu wenig Zeit mit den Kindern aus ihren Eltern gemacht haben. Wer den Nachwuchs für sich gewinnen will, muss sich also etwas einfallen lassen. Es geht um einen Mix aus Geld, mehr Zeit, flexiblen Arbeitsbedingungen und einer sinnstiftenden, nicht eintönigen Tätigkeit. Ihr Glück ist, dass der Arbeitsmarkt gerade auf Grund des demografischen Wandels arbeitnehmerfreundlich ist, dass sie diese Ansprüche stellen können und ansonsten mehr Möglichkeiten haben, was anderes zu machen.
Was macht die Berliner Politik?
Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Berlin noch immer zwölf Prozent, während sie im Bundesdurchschnitt bei 3,6 Prozent liege. Sehr spät, mit durchschnittlich 20 Jahren, beginnen junge Menschen hier eine duale Ausbildung. Daran ändern auch die Jugendberufsagenturen anscheinend nichts, die in den vergangenen drei Jahren nach dem Hamburger Vorbild errichtet worden sind. Die IHK sagt selbst jetzt noch, es sei zu früh, um festzustellen, ob sie etwas taugen. Vor kurzem sagte Eder ebenfalls, dass die Schulen „Anschlussquoten“ erheben sollten, um zu wissen, was die Jugendlichen nach ihrem Abschluss tun. Eigentlich sollte dies wie in Hamburg eine Aufgabe der Jugendberufsagenturen sein, doch die Verbleibstatistik wird es laut Eder vorerst nicht geben: „Das ist eine Frage des politischen Willens. Man will sich erst noch andere Lösungen anschauen.“
Neu ist: Vom kommenden Schuljahr an gibt es nach einem guten Mittleren Schulabschluss zudem eine neue Möglichkeit: In vier Jahren das Abitur und eine Berufsausbildung erwerben – und zwar vergütet. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) und Vertreter von Handwerkskammer und IHK erläuterten vor kurzem die Konditionen. Zunächst starte das „Duale Abitur/Berufsabitur“ im Heizungs- und Sanitärgewerk sowie im Hotelgewerbe. Sechs Bundesländer bieten die neue Kombination von Schule und Ausbildung bereits seit 2017 an, um etwas gegen den Nachwuchsmangel im Handwerk zu tun und leistungsstärkere Mitarbeiter zu gewinnen.
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