Kolumne "Was Wissen schafft": Ziel verfehlt
2015 wollte Deutschland masernfrei sein, doch der Berliner Ausbruch lässt das Ziel in weite Ferne rücken. Dabei geht der Schutz der Schwächsten alle an. Ein Kommentar.
Schluss. Aus. Ende. Im Jahr 2015 wollte Deutschland ein für alle Mal masernfrei sein. Daraus wird nichts. Wie bereits 2000 und 2010 wird die Deadline der Weltgesundheitsorganisation still und leise verstreichen. Der Masernausbruch in Berlin hat bereits mehr als 400 Menschen krank gemacht, 219 davon allein seit Anfang des Jahres. Das sei ein herber Rückschlag, heißt es aus dem Robert-Koch-Institut. Die Berliner quittieren die Nachricht höchstens mit Kopfschütteln.
Donald Duck mit Ausschlag
In den USA kann man kaum glauben, dass die Deutschen so gelassen bleiben. Auf jener Seite des Atlantiks gelten die Masern als ausgerottet. Ausgerechnet das kalifornische Disneyland wurde nun zum „Ground Zero“ eines neuen Ausbruchs. Eine ungeimpfte Reisende hatte den Vergnügungspark besucht, bevor sie sich krank fühlte. Die Folge: 121 Menschen in 17 Staaten sind infiziert. Das Thema schafft es immer wieder auf die Titelseiten. Es erscheinen Karikaturen von Donald Duck und Mickey Mouse mit Ausschlag. „Was für ein Spaß!“, steht darunter. In manchen Staaten will man Ausnahmen von der Impfpflicht künftig nur noch aus religiösen Gründen zulassen.
Eine von denen, die durch die Leichtsinnigkeit Einzelner der Seuche ausgesetzt waren, ist Maggie. Das kleine Mädchen hat Leukämie, nach sechs Runden Chemotherapie darf sie sich für ein paar Wochen bei ihrer Familie erholen. Statt diese Zeit zu genießen, ist sie nun in Quarantäne. Die Ärzte hoffen, dass sie durch eine gleich dreifache Masernimpfung einen Schutz aufbauen konnte. Ihr Vater schrieb einen wütenden Brief an das Magazin „Mother Jones“, um sich bei den Eltern des ungeimpften Kindes zu bedanken, das Maggie zusätzlich gefährdete. Die emotionale Reaktion des Vaters zeigt, was oft vergessen wird: Mit der Impfung schützt man nicht nur sich selbst oder das eigene Kind. Man schützt gleichzeitig die, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, Babys unter einem Jahr zum Beispiel und immungeschwächte Patienten. Diejenigen, die im Erkrankungsfall am meisten unter der Seuche leiden.
Keine harmlose Kinderkrankheit
Kaum ein anderes Virus ist so ansteckend wie die Masern. Die Mikroben setzen sich nicht tief in der Lunge fest, sondern vermehren sich in den oberen Atemwegen. Jedes Gespräch, jedes Husten und Niesen ist für sie wie ein Sprungbrett ins Freie. Stundenlang können sie in einem Wartezimmer, einem Kino oder einem U-Bahn-Waggon durch die Luft schweben. 90 Prozent der Ungeimpften, die diese Luft einatmen, werden selbst krank. Noch schlimmer: Sie können die Masern weitergeben, bevor sie selbst typische Symptome haben.
Die Masern sind auch keine harmlose Kinderkrankheit. Sie schwächen das Immunsystem wochenlang. Drei von zehn Patienten haben Komplikationen, einer von 20 eine Lungenentzündung, einer von 1000 eine folgenreiche Entzündung des Gehirns. Es gibt keine Therapie, selbst in reichen Ländern wie Deutschland sterben noch immer einer oder zwei von 1000 Patienten. In Berlin musste bisher ein Drittel der Erkrankten in eine Klinik.
Längst widerlegte Nebenwirkungsmythen
Umso unverständlicher ist es, dass sich manche Eltern vor der Impfung fürchten, die seit 40 Jahren sehr effektiv gegen die Masern schützt. Obwohl die Mythen um angebliche Nebenwirkungen längst widerlegt sind, geistern sie weiter durchs Netz. Sie werden in Berlin vor allem von bildungsnahen Familien im Westen der Stadt geglaubt. Den Titel „Problemkiez“ verdient in diesem Fall eher Zehlendorf als Neukölln. Ob sie sich künftig durch eine Impfberatung umstimmen lassen, ist fraglich.
Doch es sind nicht nur die Impfkritiker, die den Masernausbruch befeuern. Ausgelöst wurde er durch Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo während des Krieges in den 1990er Jahren Impflücken entstanden. So breiteten sich die Masern zunächst in Flüchtlingsheimen aus, die Gesundheitsämter haben deshalb spezielle Impfaktionen gestartet.
Dass sich die Seuche weiterverbreiten kann, hat mit der Nachlässigkeit der Berliner zu tun. Sie stellen mittlerweile zwei Drittel der Erkrankten; auffallend viele davon sind Erwachsene. Denn zwischen 1970 und 1990 wurden viele gar nicht oder nur einmal gegen Masern geimpft. Den Blick in den eigenen Impfpass halten viele trotzdem für unnötig. Dabei ist das – im Dienste der Gemeinschaft – wirklich nicht zu viel verlangt.