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Ansteckend. Das Masernvirus ist hochinfektiös. 90 Prozent der Menschen, die nicht immun sind und mit einem Erkrankten in Berührung kommen, stecken sich an.
© mauritius images

Kinderkrankheit: Risiko Masern

Eigentlich sollten die Masern in Europa längst ausgerottet sein. Doch gerade westeuropäische Länder gefährden das Ziel der Weltgesundheitsorganisation – weil viele Eltern die Krankheit unterschätzen und ihre Kinder aus Bequemlichkeit oder falscher Vorsicht nicht impfen lassen.

Als Max im Unterricht immer unaufmerksamer wurde, dachten Lehrer, Eltern und Ärzte zuerst an ADHS. Die Diagnose schien zu passen: Der lebhafte 10-jährige Junge wusste manchmal nicht wohin mit seiner Energie, war etwas chaotisch, wollte alles wissen. Die ersten zwei Klassen hatte er mit links gemeistert. Jetzt machte sich seine Grundschullehrerin Sorgen. Ein paar Wochen lang gaben ihm die Eltern Ritalin. Aber die Aussetzer hatten nichts mit einer Aufmerksamkeitsstörung zu tun. „Max hat das später Not-Aus genannt“, erinnert sich seine Mutter, Anke Schönbohm. „Er war wie eine abgelaufene Spieluhr, blieb mitten in der Bewegung stehen und war einfach weg. Ein paar Sekunden oder Minuten später machte er weiter, als sei nichts geschehen.“

Einige Monate später saßen Anke und Rüdiger Schönbohm im Uniklinikum Heidelberg einem ganzen Ärztegremium gegenüber: Chefarzt, Oberärztin, ein Assistenzarzt und fünf oder sechs weitere. Die Botschaft war knallhart: „Ihr Kind hat SSPE. Es wird daran sterben.“ Während die Ärzte den Verlauf der Krankheit erklärten, brach Rüdiger Schönbohm zusammen. „Aber er hat erst vor ein paar Monaten ein Schachturnier gewonnen“, schoss es ihm durch den Kopf. Seine Frau hörte die Worte der Ärzte und dachte nur: „Das kann nicht sein. Das geht gar nicht.“

SSPE steht für subakute sklerosierende Panenzephalitis, eine seltene Spätkomplikation von Masern. Die Viren dringen ins Gehirn ein und zerstören dort nach und nach Nervenzellen. Es dauert meist Jahre, bis die ersten Symptome auftreten. Zuerst ändern sich Wesen und Verhalten, der Verstand baut ab. Später kommt es zu neurologischen Ausfällen, schließlich versagen ganze Hirnteile ihren Dienst. Die meisten Kinder mit SSPE sterben nach zwei bis drei Jahren. Für Deutschland trägt der Würzburger Virologe Benedikt Weißbrich die Fallzahlen zusammen: Etwa 140 Mal wurde die Krankheit zwischen 1988 und 2009 diagnostiziert. Da sie nicht meldepflichtig ist, gibt es vermutlich noch mehr betroffene Kinder.

„Wir hatten von SSPE noch nie gehört“, sagt Anke Schönbohm. Auch die Maserninfektion von Max war längst ad acta gelegt. Die junge Familie wohnte damals noch in Berlin. An einem sehr kalten Januartag im Winter 1995 bekam das erst sechs Monate alte Baby hohes Fieber und dann Ausschlag am ganzen Körper. Masern. Doch irgendwann war die Kinderkrankheit überstanden und die Schönbohms gingen zur Tagesordnung über.

Heute ist Max 18 Jahre alt. Während sein Bruder Julian Tontechnik studiert, bekommt Max von seiner Außenwelt nichts mehr mit. Erst wurden die Anfälle heftiger und er verlernte alltägliche Dinge. Im April 2006 löste eine heftige Erkältung einen Schub aus. „Da hat das Masernvirus getobt in seinem Gehirn“, sagt Anke Schönbohm. „Von einem Tag auf den anderen ging gar nichts mehr.“ Max fiel in ein Wachkoma. Mittlerweile kann er kaum noch kauen und schlucken, er braucht eine Magensonde. Manchmal bekommt er während seiner epileptischen Anfälle keine Luft mehr. Sollten sie sich irgendwann nicht mehr durch spezielle Tropfen unterbrechen lassen, wird er ersticken.

Ausgerechnet Europa hinkt bei der Ausrottung der Masern hinterher.

SSPE kommt nur bei einem von 10 000 Masernpatienten vor. Aber auch sonst ist es keine harmlose Kinderkrankheit. Weil die Masern für etwa sechs Wochen das Immunsystem schwächen, können in der Zeit zusätzliche Erreger unter anderem Mittelohrentzündungen, Bronchitis oder Lungenentzündungen verursachen. Gelegentlich kommt es kurz nach einer Masernerkrankung zu einer Gehirnentzündung. Bei manchen Kindern bleiben schwere Folgeschäden wie geistige Behinderungen und Lähmungen zurück. Mehr als 150 000 Kinder hat das Virus 2011 weltweit getötet. Auch in reichen Ländern wie Deutschland sterben immer noch zwei von 1000 Erkrankten.

Dieses Leid wäre vermeidbar, denn es gibt eine sichere Impfung, die Kinder vor dem Virus schützt und ohne Probleme verfügbar ist, sagt Ole Wichmann, der Leiter des Fachgebiets Impfprävention am Robert Koch-Institut in Berlin. Zwar schmerzt bei bis zu fünf Prozent der Geimpften die Einstichstelle, manche bekommen Fieber, Kopf- oder Bauchweh. Auch nicht ansteckende „Impfmasern“ sind möglich (siehe Grafik). Doch der Schutz vor der ungleich gefährlicheren Maserninfektion wiegt das auf.

Wenn sich mehr als 95 Prozent der Bevölkerung zwei Mal gegen Masern impfen lassen, wird die Impfung zu einem Schirm, der über alle gespannt wird. Die Infektionskette wird durch die „Herdenimmunität“ unterbrochen, eine Epidemie wird sehr unwahrscheinlich. Damit sinkt auch das Ansteckungsrisiko für die, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Drängen aber immer mehr Menschen unter den Schutzschirm, weil sie die Impfung vergessen oder ablehnen, dann zerreißt er und alle stehen im Regen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO will deshalb die Masern ausrotten. Amerika, inklusive der armen Staaten in Mittel- und Südamerika, hat das vor über zehn Jahren geschafft. Auch die Pazifikregion ist auf dem besten Weg. Insgesamt sinkt die Zahl der Masernfälle – von 853 500 im Jahr 2000 auf 355 000 im Jahr 2011. Trotzdem gefährden weiterhin große Ausbrüche den Fortschritt.

Das betrifft nicht nur das krisengebeutelte Afrika oder Staaten wie Pakistan. Auch die WHO-Region Europa, die von Grönland bis in den Fernen Osten reicht, hinkt hinterher. Zwei Mal wurde die Eliminierung hier bereits verschoben: Von 2000 auf 2010, von 2010 auf 2015. Aber auch dieser Termin ist kaum noch zu schaffen.

2011 war sogar ein besonders schwarzes Jahr. Ausgerechnet in reichen westeuropäischen Ländern wütete das Virus, etwa in Frankreich (14 949 Fälle), Italien (5189 Fälle), Spanien (3802 Fälle) und Deutschland (1607 Fälle – davon 70 Prozent in Baden-Württemberg, Berlin und Bayern). Reisende exportierten das Virus wieder in die USA, wo mehr als 200 Menschen erkrankten. 2012 folgte ein besonders schwerer Ausbruch in der Ukraine mit mehr als 11 000 Fällen.

Die Ursachen sind vielfältig, sagt Dina Pfeifer, die das Impfprogramm der WHO-Region Europa leitet. In manchen Staaten wurden die Gesundheitssysteme immer wieder verändert, darunter litten auch die Impfprogramme. Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder Sinti und Roma seien außerdem schwer zu erreichen. Ärzte und Schwestern wüssten oft nicht mehr aus eigener Anschauung, was Masern anrichten können. „Ich selbst habe das auch erst begriffen, als ich in der Dritten Welt eine Masernepidemie durch ein Flüchtlingslager fegen sah und jeden Tag kleine Gräber ausgehoben werden mussten“, sagte Pfeifer auf einer EU-Konferenz für Kinderimmunisierung in Luxemburg. Die wichtigsten Gründe seien Bequemlichkeit, Zeitdruck, ein fehlendes Verantwortungsgefühl für die Allgemeinheit und die Kontroversen rund um die Impfstoffe.

Eine Fälschung stützte die Argumente der Impfgegner.

Einer, der die Kontroversen befeuert hat, ist der britische Arzt Andrew Wakefield. 1998 hatte er im Fachblatt „Lancet“ von zwölf Kindern berichtet, die nach der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) autistisch wurden oder ein Reizdarmsyndrom bekamen. Kein anderer Forscher konnte diesen Zusammenhang nachweisen – im Gegenteil, große Studien widerlegten die Annahme. Schließlich kam heraus, dass Wakefield den Inhalt von Patientenakten verzerrt hatte, die Studie war eine Fälschung. Das Magazin zog die Veröffentlichung zurück. Wakefield verlor wegen professionellen Fehlverhaltens in Großbritannien seine Approbation. Die Behauptung, die MMR-Impfung würde Autismus verursachen, geistert weiter durchs Netz und verunsichert Eltern.

An antroposophischen Einrichtungen, wie Waldorfschulen, wird die Impfung ebenfalls sehr kritisch gesehen. „In anthroposophischen Schulen haben wir oft nur eine Impfquote von 20 bis 30 Prozent“, sagt Wichmann. Nach Rudolf Steiners Lehre sind Krankheiten nicht unbedingt ein Übel, das mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Vielmehr solle man sie mithilfe der eigenen Abwehrkräfte durchstehen.

Ähnliche Ansichten sind zum Beispiel in einem neuen Kinderbuch zu lesen: „Melanies wunderbare Masern“. Impfungen seien riskanter als die eigentliche Infektion. Die Masern „natürlich“ durchzumachen und so lebenslang immun zu werden, habe viele Vorteile, heißt es dort. Manche Eltern setzen ihre Kinder auf „Masernpartys“ sogar bewusst dem Virus aus.

„Absolut verantwortungslos“, findet das Anke Schönbohm. „Aber Impfgegner kann man nicht belehren, die wissen alles besser. Das Problem ist: Sie gefährden damit nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch andere.“ Kinder wie damals Max, die noch zu klein für die Impfung sind. Oder Menschen, deren Immunsystem zum Beispiel durch eine Krankheit geschwächt ist. Treffen sie in der U-Bahn oder im Wartezimmer des Kinderarztes auf einen Masernpatienten, haben sie das Nachsehen.

Ein unzureichender Impfschutz der Kinder habe aber nur bei einer Minderheit mit einer Skepsis gegenüber der MMR-Impfung zu tun, meint Wichmann: „Sonst würden wir nicht seit etlichen Jahren mehr als 95 Prozent der Kinder mit der ersten Impfung erreichen.“ Oft fehle aber Nummer zwei, sei es nun aus Bequemlichkeit, Vergesslichkeit oder Zeitdruck. Da Eltern in der Regel ihre Kleinkinder unter zwei Jahren noch zu den Vorsorgeuntersuchungen bringen, habe die Ständige Impfkommission vor etwa zehn Jahren das Impfschema geändert: Statt mit fünf Jahren wird nun vor dem vollendeten zweiten Lebensjahr zum zweiten Mal geimpft. „Den Erfolg haben wir 2010 bei den Schuleingangsuntersuchungen gesehen“, sagt Wichmann. Statt 60 bis 70 Prozent wie im Jahr 2004 hatten in fast allen Bundesländern mehr als 90 Prozent der Kinder die zweite Impfdosis bekommen – außer in Süddeutschland. In Ostdeutschland seien die WHO-Kriterien für die Eliminierung schon fast erreicht.

Anke Schönbohm wünscht sich eine MMR-Impfpflicht für Kindergarten- und Schulkinder sowie Studierende. Für Amerikaner, die sonst vehement auf Wahlfreiheit bestehen, ist sie längst gang und gebe. Auch Wichmann kennt solche Forderungen. Auf internationalen Kongressen wird er regelmäßig gefragt, warum sich ausgerechnet das reiche Europa so schwer tut, obwohl es anderswo funktioniert. „Aber ein Diktat von oben wird von den meisten Europäern abgelehnt“, sagt er. Außerdem kollidiere eine solche Impfpflicht bei Aufnahme in die Schule mit dem Recht auf Bildung.

Er und seine Kollegen müssen auf öffentlichkeitswirksame Kampagnen setzen. Seit letztem Herbst sieht man zum Beispiel allerorten Plakate mit dem Slogan „Deutschland sucht den Impfpass“. Sie richten sich ausdrücklich an Jugendliche und junge Erwachsene. Denn wie überall in Europa machen sie mehr als die Hälfte der nicht ausreichend Masern-Geimpften aus. Sie zum Arzt zu lotsen, damit sie sich dort die kostenlose Impfung abholen, ist mehr als knifflig. Gezielte Erinnerungen sind ohne Impfregister wie in Dänemark schwierig. Außerdem hat kaum ein Gesundheitsamt Zeit und Geld, um die Impfung zumindest in den Schulen anzubieten. Gleichzeitig sind gerade die Jugendlichen besonders mobil und können bei Austauschen und Reisen die Masern weiterverbreiten.

„Wenn wir 1995 woanders gelebt hätten, hätte unser Kind ein ganz normales Leben gehabt“, sagt Rüdiger Schönbohm. Er und seine Frau wollen anderen Familien ein ähnliches Schicksal ersparen. Sie haben sich daher entschieden, Max' Geschichte immer wieder zu erzählen. „Ich weiß nicht, wer du bist“, das seien Max letzte Worte an ihn gewesen, erinnert sich der Vater. „Dieser Satz verfolgt mich.“

Weitere Informationen unter:

www.aktion-max.de

www.impfen-info.de

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