Zwischen Verunsicherung und Skepsis: Zahl der Mers-Patienten in Südkorea steigt weiter
Ein Patient, drei Krankenhäuser und kein Arzt fragte den Patienten mit Atemnot nach seinen Reisen. Nun kämpft Korea mit dem größten Mers-Ausbruch außerhalb des Nahen Ostens.
Gangnam-Style, das stand bisher für ein Lied des Musikers Psy und damit für eine Karikatur des verschwenderischen Lebensstils in einem Vergnügungsviertel der südkoreanischen Hauptstadt. Dieser Tage sind die teuren Restaurants und Bars jedoch alles andere als überfüllt. Das Straßenbild in Gangnam ist von weißen Atemmasken geprägt. Denn in Korea haben sich 122 Menschen mit dem Atemwegsvirus Mers angesteckt, neun sind gestorben. In 30 Krankenhäusern der Region werden die Patienten behandelt und Verdachtsfälle isoliert. Über 3400 Menschen, die mit ihnen in Kontakt gekommen sein können, haben die Behörden unter Quarantäne oder Aufsicht gestellt. Von einer Mers-Hysterie kann in der 11-Millionen-Metropole trotzdem keine Rede sein. Eher von Verunsicherung.
Das liegt nicht zuletzt an der anfangs schleppenden Informationspolitik der koreanischen Behörden. Sie berichteten zwar detailliert über die Zahl der Mers-Fälle. „Aber stetig steigende Zahlen allein machen Angst“, sagte Peter Ben Embarek, der Leiter der Mers-Einsatzgruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO. „Man muss auch die Schlussfolgerungen daraus kommunizieren.“ Bislang spreche alles dafür, dass sich der Ausbruch in Seoul auf Krankenhäuser beschränkt. Kein Fall sei eindeutig auf eine Infektion außerhalb eines Krankenhauses zurückzuführen – anders als auf der Arabischen Halbinsel, wo das Virus 2012 entdeckt wurde. Seitdem sind vor allem im Nahen Osten 1219 Menschen erkrankt, 449 sind gestorben.
Der bisher größte Ausbruch außerhalb des Nahen Ostens begann mit einem 68-jährigen Geschäftsreisenden. Er war bis Anfang Mai in Bahrain, Katar, den Emiraten und Saudi-Arabien unterwegs und muss sich dort infiziert haben. Als er nach seiner Rückkehr am 11. Mai krank wurde, wurde er zunächst in seiner Heimatstadt ambulant betreut und drei Tage später in die familienmedizinische Klinik St. Mary’s südlich von Seoul überwiesen. Da sich sein Zustand nicht verbesserte, suchte er dann – wie in Südkorea üblich – Hilfe in einem größeren Krankenhaus, dem Samsung Medical Center im Gangnam-Distrikt von Seoul. Dort vergingen wieder drei Tage, bevor dort ein Test die Mers-Infektion bestätigte und er isoliert wurde. Bis dahin hatten sich Dutzende Ärzte, Pfleger, Patienten und Verwandte bei Krankenbesuchen angesteckt.
Das Erbgut der Viren hat sich nicht verändert
„Das war ein Superspreading-Event“, sagte der Epidemiologe Sung-Han Kim von der Abteilung für Infektionskrankheiten des Asan Medical Center in Seoul auf einer Pressekonferenz. Bei einem solchen Ereignis infiziert ein Einzelner aufgrund besonderer Umstände besonders viele andere Menschen. Das beobachteten Forscher auch beim Sars-Virus, das wie Mers zu den Coronaviren gehört.
Angefacht wurde die Verbreitung allerdings nicht durch Mutationen im Erbgut der Viren. Erste Analysen zeigen, dass es sich nicht von den Viren im Nahen Osten unterscheidet. Vielmehr ist ein Mers-Infizierter erst dann ansteckend, wenn er bereits heftigen Husten und Atembeschwerden hat. „Wir wissen, dass manche Patienten sehr viel Virus ausscheiden, wenn sie schwer krank sind und eine Beatmung brauchen“, sagte Christian Drosten von der Universität Bonn. Dann sind die Patienten bereits in einer Klinik, wo die Viren auf kranke Menschen mit geschwächtem Immunsystem treffen.
Unklar ist bisher, wie sich die Viren in den koreanischen Krankenhäusern ausgebreitet haben. Offenbar haben sich auch Menschen angesteckt, die das Zimmer des ersten Patienten gar nicht betreten haben. Die koreanischen Behörden werten daher Videoaufzeichnungen aus den Kliniken aus. Sie wollen jene Personen identifizieren und isolieren, die sich in der Nähe des Krankenzimmers aufgehalten haben, sagte Ben Embarek. In den Filtern der Klimaanlage seien zwar Viren gefunden worden, ergänzte Sung-Han Kim. Aber ob sie noch eine Infektion auslösen konnten, sei unbekannt. Er vermute eher, dass die Viren über Personen oder Krankenhausbedarf verschleppt wurden. „Die Übertragung über die Luft ist eher unwahrscheinlich.“ Eine Maske sollten nur die tragen, die Husten oder Schnupfen haben, meint der Forscher. So könne man andere vor Mers schützen.
Mers ist vor allem für die gefährlich, die eine Vorerkrankung haben
Ben Embarek wäre trotzdem nicht überrascht, wenn sich in den nächsten Tagen jemand außerhalb einer Klinik ansteckt: „Es sind viele Menschen betroffen, und es kann sein, dass nicht jede Kontaktperson erfasst wird.“ Grund zur Panik wäre das aber nicht, denn bei dem Mers-Ausbruch in Südkorea handele es sich noch nicht um eine „nachhaltige“ Übertragung von Mensch zu Mensch. Diese Stufe einer Epidemie sei erst erreicht, wenn sich Neuinfektionen nicht mehr zurückverfolgen lassen, es also eine unkontrollierbare Quelle von Viren in der Bevölkerung gibt.
Ob sich das Virus auf der Arabischen Halbinsel derart unkontrolliert verbreitet, ist unklar. Dort gibt es mindestens eine weitere Ansteckungsquelle. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Mers ein Fledermausvirus. Über Kamele als Zwischenwirt kann es auf Menschen überspringen – vor allem im Frühling, weil die Temperaturen dann anscheinend für die Viren günstig sind und sich der Kamelnachwuchs reihenweise infiziert. Unter den Menschen beschränkten sich die Folgeinfektionen bisher zu 97 Prozent auf Krankenhäuser, anders als bei der Sars-Epidemie 2003, wo sich zehn bis 20 Prozent zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit infizierten. Dass Mers ein weniger ansteckendes und weniger krank machendes Virus sein könnte, zeigt auch eine Studie des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung. Demnach haben sich in den letzten zehn Jahren etwa 40 000 Menschen mit Mers-Viren infiziert, ohne krank zu werden. Das bedeutet, dass die Anzahl der übertragenen Viren und der Zustand des Immunsystems entscheiden, ob die Krankheit ausbricht.
WHO empfiehlt, die Schulen wieder zu öffnen
Die Chancen stehen gut, dass der Ausbruch in Seoul in ein bis zwei Wochen unter Kontrolle ist. „Die Neuinfektionen werden anscheinend weniger“, sagte der Direktor des Koreanischen Pasteur-Instituts Kee-Jong Hong in Seoul. Doch es habe zu lange gedauert, bis die Krankheit beim ersten Patienten erkannt wurde. Er hatte nur Bahrain als Reiseziel der letzten Wochen angegeben, die Ärzte fragten nicht weiter nach. „Wir haben die Gelegenheit verpasst, den Ausbruch sofort zu kontrollieren“, gab Hong zu. Man werde aus den Fehlern lernen und die Situation in Notaufnahmen verbessern. „Wir haben gute Sicherheitsstandards, aber sie müssen auch befolgt werden.“ Die Regel, sich stets die Hände zu waschen, werde nur zu 60–70 Prozent eingehalten, ergänzte Kim, der auch die überfüllten Notaufnahmen für die erhöhte Infektionsgefahr verantwortlich machte.
Die Task Force der WHO empfiehlt inzwischen, die 2400 Schulen und Kindergärten wieder zu öffnen, „weil sie in keinem Zusammenhang mit der Verbreitung von Mers stehen“. Stattdessen sollten Ärzte in den Krankenhäusern bei Patienten mit Fieber und Atemwegsbeschwerden vorsichtshalber zunächst von einer Mers-Infektion ausgehen, die Patienten isolieren und testen. Menschen, die Kontakt mit Mers-Patienten hatten, sollten nicht reisen. Das würde Fälle wie den des Sohns des dritten Seouler Mers-Patienten verhindern. Er hatte seinen kranken Vater in der Klinik besucht. Dann reiste er nach China bis in die Provinz Guangdong, wo er nun behandelt wird.
Sascha Karberg
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