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Heilige Stätte. Zur Haddsch pilgern jedes Jahr Millionen Muslime nach Mekka. Doch bei der Massenveranstaltung können sich Krankheitserreger wie das neue Mers-Virus ausbreiten.
© REUTERS

Gefährlicher Erreger: Pilger könnten das Mers-Virus verbreiten

Ein tödliches neues Coronavirus breitet sich auf der Arabischen Halbinsel aus. Ab Juli werden dort Millionen Pilger erwartet. Den Forschern bleibt wenig Zeit, die Gefahr richtig einzuschätzen.

Es war keine einfache Reise für Abid Hussain. Im November 2012 hatten britische Ärzte bei seinem Sohn Khalid einen Hirntumor gefunden, direkt hinter den Augen und schwer zu operieren. Die Überlebenschancen standen 1 zu 5. Während für den 38-Jährigen die Chemotherapie begann, flog der Vater nach Pakistan und erzählte der restlichen Familie von dem Krebs, von der Schwiegertochter und ihren kleinen Zwillingen, die jede Hilfe bräuchten. Vor seiner Rückkehr nach Großbritannien machte er einen Abstecher nach Saudi-Arabien, um in Mekka und Medina für die Genesung Khalids zu beten.

Doch als sein Flugzeug am 28. Januar 2013 wieder in Birmingham landete, brachte Abid Hussain einen blinden Passagier mit: Mers-CoV. Die Abkürzung steht für „Middle Eastern Respiratory Syndrome Coronavirus“, also ein Virus aus dem Nahen Osten, das eine Atemwegserkrankung auslöst. Sechs Coronaviren sind bisher bekannt, die Menschen infizieren. Vier davon verursachen harmlose Erkältungen. Die beiden anderen – Sars und Mers – können tief in der Lunge schwere Schäden anrichten. Oft versagen auch andere Organe. Seit das Virus im vergangenen Sommer entdeckt wurde, haben sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 58 Menschen angesteckt. 33 von ihnen haben es nicht überlebt (siehe Karte).

Abid Hussain war Fall Nummer zehn. Er hatte sich schon in Saudi-Arabien krank gefühlt, vier Tage nach seiner Rückkehr musste er auf die Intensivstation. Sein ohnehin geschwächter Sohn konnte Mers nichts entgegensetzen und wurde eine Woche später eingeliefert. Zaida, die Tochter, steckte sich bei Besuchen im Krankenhaus an. Aber die junge Frau hatte Glück. Während Maschinen für die beiden Männer die Atmung ersetzen mussten und sich ihr Zustand immer weiter verschlechterte, bekam sie durch das Virus nur eine Art Erkältung. Neun Tage später war sie wieder gesund – gerade rechtzeitig, um ihren toten Bruder nach Pakistan zu überführen. Noch während sie dort war, starb der Vater.

Gekrönt. Eiweiße auf der Oberfläche des Mers-Erregers erinnern an eine Krone (Corona) und geben den Coronaviren ihren Namen.
Gekrönt. Eiweiße auf der Oberfläche des Mers-Erregers erinnern an eine Krone (Corona) und geben den Coronaviren ihren Namen.
© NIAID

Das Schicksal der Familie ließ die Fachwelt aufhorchen. Erstmals gab es einen Nachweis, dass dieses Virus zum Beispiel in Familien oder im Krankenhaus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Zaida Hussain zeigte den Virologen außerdem, dass die Infektion viel weniger dramatisch verlaufen kann. Seitdem fragen sie sich, ob im Nahen Osten weitgehend unbemerkt eine Mers-Epidemie begonnen hat.

Ein Krankenhausausbruch in Al-Hofuf, im Osten Saudi-Arabiens, scheint das zu bestätigen. Seit Anfang Mai meldet Saudi-Arabien Dutzende Mers-Fälle, die Zahl ist dort mittlerweile auf 43 gestiegen. Doch die dürren Mitteilungen des saudischen Gesundheitsministeriums lassen offen, wie viele Krankenhäuser insgesamt betroffen sind, wo sich die Patienten infiziert haben und ob Angestellte krank werden. „Diese Ausbrüche erinnern an die Anfangszeit von Sars“, sagt Christian Drosten von der Uni Bonn, der Coronaviren erforscht und für Sars und Mers diagnostische Tests entwickelt hat. Vor zehn Jahren raste Sars in wenigen Monaten um die Welt und infizierte mehr als 8000 Menschen in 30 Ländern. Etwa jeder zehnte Patient starb an der Lungenkrankheit. Auch damals fielen die Infektionen zuerst in Krankenhäusern auf.

Sars nutzte Hongkong als Sprungbrett zur Welt. Bei Mers könnten Mekka und Medina diese Funktion übernehmen. Am 9. Juli beginnt der Fastenmonat Ramadan und damit die Hochsaison für die kleine Pilgerfahrt, die Umrah. Saudi-Arabien erwartet in den Sommerwochen Millionen Menschen. Mitte Oktober findet die Haddsch statt, die große Pilgerfahrt, die jeder Muslim einmal im Leben machen soll. In diesen Tagen werden sich abermals Millionen Menschen in den Zeltstädten und in den heiligen Stätten dicht an dicht drängen, darunter viele Alte und Kranke. Die Menschenmassen und die Flugzeuge, die sie später besteigen, sind für ein Virus eine perfekte Mitreisegelegenheit in jede Himmelsrichtung.

Es wäre nicht das erste Mal. Pest und Pocken wurden einst über dieses Drehkreuz in alle Welt getragen. In jüngerer Vergangenheit hatten Pilger Meningitis und Polio mitgebracht und weitergegeben – zwei Krankheiten, gegen die sich mittlerweile alle Pilger impfen lassen müssen.

Je näher die Massenveranstaltungen rücken, desto dringlicher wird der Ruf nach detaillierten Daten und mehr Kooperation mit internationalen Forschern. Nicht zuletzt wegen der großen Wissenslücken bezeichnete die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, Mers als „Gefahr für die ganze Welt“, die kein Staat allein bewältigen könne.

Bisher hatten nach Angaben der WHO zwar alle Fälle ihren Ursprung in Jordanien, Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Aber auch in Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und Tunesien wurden bereits einzelne Patienten behandelt, die entweder aus dem Nahen Osten in europäische Krankenhäuser verlegt worden waren oder als Reisende das Virus mitgebracht hatten.

„Wir werden auch in Deutschland mehr solcher Patienten bekommen“, sagt Clemens Wendtner vom Klinikum Schwabing in München, das eines von sieben nationalen Referenzzentren für Infektiologie beherbergt. „Es ist sehr wichtig, dass man sie dann erkennt.“

Wendtner hatte seit vier Jahren den Krebs eines 73-jährigen Patienten aus Abu Dhabi behandelt. Im März wurde der Mann erneut mit einem Privatjet eingeflogen. Seine Lungen waren entzündet, Medikamente halfen nicht. „Es war klar, dass es ein Virus ist. Wir haben ihn sofort in einem Schleusenzimmer isoliert“, sagt Wendtner. Herkunft und Krankheitsbild passten zu Mers, ein Test bestätigte den Verdacht. Jeder – egal ob Arzt oder Pfleger – musste von da an bei grippeähnlichen Symptomen zu Hause bleiben, bis für sie ebenfalls ein Testergebnis vorlag. Es steckte sich niemand an. Der Patient aber starb einige Tage später. Er war der erste und bisher einzige Mers-Tote in Deutschland.

Anders als zahlungskräftige Medizintouristen werden rückkehrende Reisende oder Pilger nicht immer in Spezialzentren behandelt. Nicht einmal ihre Symptome müssen typisch sein, wie ein Patient in Frankreich zeigte, der zunächst vor allem unter Durchfall litt. Ohne gesichertes Wissen über die Übertragungswege und das volle klinische Spektrum ist die Suche nach den Infizierten selbst für westliche Länder eine Herausforderung. In Entwicklungs- und Schwellenländern, wo eine Krankenversicherung die Ausnahme ist und zusätzlich Tropenkrankheiten kursieren, ist sie ungleich schwerer.

Möglicherweise ist die Krankheit längst in Ländern wie Pakistan angekommen. Abid Hussain zum Beispiel fühlte sich schon während seiner einwöchigen Pilgerfahrt schlecht, doch die bisher bekannte Inkubationszeit für Mers beträgt etwa zehn Tage. Nach dieser Rechnung müsste er sich in Pakistan angesteckt haben. Doch der Mann hatte zusätzlich Schweinegrippe, und so kann niemand eindeutig rekonstruieren, was wann welche Symptome auslöste.

Genau wie Saudi-Arabien hat auch Pakistan den „International Health Regulations“ der WHO zugestimmt. Sie verpflichten alle Unterzeichner, ungewöhnliche Infektionen innerhalb von 24 Stunden an die WHO zu melden. Ein Schnellwarnsystem wurde dazu in den letzten Jahren aufgebaut und hat sich zum Beispiel bei der Flutkatastrophe bewährt. Doch die Rädchen greifen nicht immer ineinander.

„Ich glaube nicht, dass in unseren Krankenhäusern besonders auf Mers geachtet wird“, sagt Naseem Salahuddin, Leiterin der Infektiologie am spendenfinanzierten Indus-Krankenhaus in Karachi. Ihr wurden die WHO-Empfehlungen zur Überwachung in Pakistan erst auf Anfrage weitergeleitet. Die Pilger kommen darin kaum vor.

Die amerikanische Seuchenbehörde CDC hat derweil Flugbegleiter angewiesen, bei Reisenden aus dem Nahen Osten auf Fieber und Atemprobleme zu achten und diese Passagiere schon vor der Landung in den USA zu melden. Ob eine so strenge Überwachung nötig ist, ist nicht klar. Wie ein Team um Simon Cauchemez vom Imperial College in London im Fachblatt „Eurosurveillance“ schreibt, gibt es weiterhin drei mögliche Szenarien: Ähnlich wie bei der Vogelgrippe könnten sich die Menschen immer wieder bei einem Haus- oder Nutztier anstecken (das wiederum das Virus wahrscheinlich von Fledermäusen hat). Eine Übertragung von Mensch zu Mensch wäre selten. Findet man rechtzeitig die Quelle im Tierreich und vermeidet den Kontakt, ließe sich so ein Ausbruch kontrollieren.

Eine zweite Möglichkeit ist, dass das Virus zwar ab und an von Tier zu Mensch überspringt und dabei Übertragungsketten bildet, diese bisher aber durch Zufall immer wieder ein Ende finden. In diesem Fall würden die meisten Infektionen sehr schwer verlaufen. Die dritte Variante: Die Epidemie ist bereits im Gange, viele Menschen erkranken nur leicht und tauchen deshalb nicht in der Statistik auf.

Jedes Szenario führe zu einer anderen Risikoeinschätzung und anderen politischen Entscheidungen. Um das richtige auszuwählen, brauchen Forscher alle Daten, die sie bekommen können – und nicht nur die allernötigsten Eckpunkte der neuen Fälle. Auch Autopsien dürften nicht tabu sein, fordert zum Beispiel Christian Drosten.

Ein Anfang sind vier neue Viruserbgut-Sequenzen, die Saudi-Arabien Anfang der Woche in einer Datenbank frei zugänglich gemacht hat. Es sind die ersten von dem Ausbruch im Osten des Landes. Drosten hat daraus einen Stammbaum des Virus rekonstruiert, das wahrscheinlich Mitte 2011 erstmals Menschen infizierte und sich nun in zwei Zweige unterteilt. Den jüngeren Zweig – mit den Patienten, die in Großbritannien und Deutschland behandelt wurden und dem Krankenhausausbruch im Osten Saudi-Arabiens – hält er für besser übertragbar. Mit diesem Virus sei Szenario drei wahrscheinlich, sagt er. Andrew Rambaut von der Universität von Edinburgh widerspricht der Interpretation: Er hält es für wahrscheinlicher, dass das Virus immer wieder vom Tier auf den Menschen überspringt. Eine wirkliche Epidemie wäre nicht auf die Arabische Halbinsel beschränkt geblieben.

Nächste Woche konferieren Forscher und Vertreter aller betroffenen und interessierten Länder in Kairo, um ihre Informationen auszutauschen, Saudi-Arabien wird erstmals für seine Kooperation vorsichtig gelobt. Doch die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass im Kampf gegen das Virus bereits viel Zeit verspielt wurde.

Wie leicht und auf welchem Wege ist das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar? Wie verbreitet sind schwache Krankheitsverläufe? Welches Tier trägt das Virus? Je mehr dieser entscheidenden Fragen offen bleiben, umso schwerer ist es einzuschätzen, ob die Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten des Islam eine Gefahr für die Weltgesundheit sein könnten und wie sich die Staatengemeinschaft darauf vorbereiten sollte.

Jana Schlütter

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