Katastrophales Krisenmanagement: Wie die „Diamond Princess“ zur Todesfalle wurde
705 Infizierte, sechs Tote: Auf der „Diamond Princess“ verbreitete sich das Coronavirus auch durch die misslungene Quarantäne. Eine Rekonstruktion.
Als das Luxus-Kreuzfahrtschiff Diamond Princess planmäßig am 25. Januar um sieben Uhr morgens im Hafen von Hongkong anlegte, schien noch alles wie immer zu sein. Unter den von Bord gehenden Passagieren war auch ein Reisender, der sich in den Tagen zuvor nicht wohlgefühlt hatte – wie es immer wieder mal vorkommt.
Sechs Tage später – die Diamond Princess hatte in der Zwischenzeit Häfen in Thailand, Vietnam und Taiwan angelaufen und war auf Kurs nach Yokohama – wurde bei dem Reisenden eine Infektion mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 nachgewiesen. Spätestens jetzt zeichnete sich ab, dass diese Reise der Diamond Princess nicht mehr normal verlaufen würde.
Zehn Infizierte an Bord eines Schiffes mit mehr als 3700 Passagieren
Die Diagnose wurde dem Kapitän der Diamond Princess übermittelt, der sie an die Hafengesundheitsbehörde in Yokohama weiterleitete. Diese benachrichtigte das Nationale Institut für Infektionskrankheiten in Tokio. Nachdem das Schiff am Kai angelegt hatte, kamen Mitarbeiter der Behörde an Bord und stellten fest, dass sich auf dem Schiff mindestens zehn mit Sars-CoV-2 infizierte Passagiere befanden.
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Die oberste Gesundheitsbehörde entschied daraufhin, die Diamond Princess mit ihren 3711 Passagieren und Besatzungsmitgliedern unter Quarantäne zu stellen. Bei der Dimension des Schiffes eine Seuchenbekämpfungsmaßnahme ohne Präzedenz.
In den folgenden Wochen wurde die Weltöffentlichkeit – vor allem über Posts und Videos der Passagiere in sozialen Netzwerken – Zeuge des katastrophalen Missmanagements eines gesundheitlichen Notstands, bei dem Passagiere wie Crew quasi in Isolationshaft genommen wurden.
Als die japanischen Behörden am 20. Februar die Quarantäne beendeten – 17 Tage nachdem die Diamond Princess am Pier von Yokohama stillgelegt worden war – ergab sich eine erschreckende Bilanz: Nahezu jeder Fünfte an Bord war infiziert oder erkrankt, insgesamt 705 Menschen. Sechs Personen überlebten die Virusinfektion nicht.
Laienhaftes Krisenmanagement
Mittlerweile ist klar, dass das Krisenmanagement auf der Diamond Princess ausgesprochen laienhaft war. Offensichtlich gab es weder im Nationalen Institut für Infektionskrankheiten noch im medizinischen Dienst des Schiffes einen Masterplan, wie man in einem solchen Fall vorgeht.
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Selbst die Verantwortung für die Quarantänemaßnahmen und für das Wohlergehen von Passagieren und Besatzung war nicht geregelt. Nach heftiger Kritik am Krisenmanagement aus dem Ausland teilte das japanische Außenministerium in einer Stellungnahme mit, „man habe nur Verhaltensregeln verfügt, um die Ausbreitung des Virus auf dem Schiff zu verhindern, ansonsten liege die Verantwortung für die Gesundheit der Passagiere bei der Reederei“.
Die Schiffseigner sahen es anders und argumentierten, dass der medizinische Dienst an Bord nur den Anordnungen der Gesundheitsbehörde gefolgt sei.
Professor Kentaro Iwata, eine Infektionsmediziner der Universität von Kobe, der einige Tage im Auftrag der japanischen Gesundheitsbehörden auf der Diamond Princess tätig war, erlebte ein Kreuzfahrtschiff, auf dem Chaos und Panik herrschten.
Die Crew wusste bis zum letzten Tag nicht, in welchen Kabinen Infizierte waren
Mit Coronavirus infizierte Passagiere wurden nicht von gesunden nicht separiert. „Grüne“, also sichere Bereiche des Schiffes, waren nicht von „roten“, möglicherweise kontaminierten, getrennt. Es dauerte Tage, bis die Essensversorgung der in den Kabinen festsitzenden Passagiere den Hygieneprinzipien bei einem Ausbruch entsprach.
Die Crew wusste bis zum letzten Tag nicht, in welcher Kabine ein infizierter Passager war und welche Kabinen ohne Risiko betreten werden konnten. Eine systematische Testung der Passagiere auf Sars-CoV-2 fand nicht statt. Proben wurden nur von Personen genommen, die sich krank fühlten, und es dauerte Tage, bis das Testergebnis vorlag. Kranke Crew-Mitglieder wurden erst ab der zweiten Woche auf das Coronavirus untersucht, arbeiteten und schliefen aber weiterhin mit gesunden Kollegen in gemeinsamen Kabinen.
Atemschutzmasken waren bei Beginn der Quarantäne überhaupt nicht vorhanden und wurden nur zeitverzögert peu-à-peu an Passagiere ausgeteilt. Besatzungsmitglieder, die Essen austeilten, trugen teilweise nur minderwertige oder gar keine Masken.
Dass auch die japanischen Seuchenkontrolleure nicht adäquat ausgestattet waren, ergibt sich aus der Tatsache, dass sich ein Mitarbeiter auf dem Schiff infizierte. Für den Experten aus Kobe waren die Verhältnisse an Bord so „furchterregend“, dass er sie als Video postete.
Erst die Quarantäne löste die explosive Ausbreitung des Virus auf dem Schiff aus
Bei Verhängung der Quarantäne hatte die japanische Gesundheitsbehörde die wohlmeinende Absicht, die Einschleppung des Erregers zu verhindern. Sie war sich aber offensichtlich nicht im Klaren darüber, dass 3700 Menschen, die auf engem Raum leben und arbeiten, der ideale „Brutkasten“ für die rasche Vermehrung und Weiterverbreitung des Coronavirus sind.
„Die Behörden haben sozusagen eine in einem Container zusammengepferchte Menschenmenge mit einem hochvirulenten Erreger eingesperrt“, so beurteilte David Fishman, Epidemiologe an der Universität von Toronto, die Situation an Bord der Diamond Princess. „Es war die Quarantäne selbst, die die explosive Ausbreitung von SARS-CoV-2 in Gang gesetzt hat“. Daten einer gerade online publizierten Studie im Journal of Travel Medicine untermauern das Debakel auf der Diamond Princess. Infektionsepidemiologen aus Umeå, London und Heidelberg errechneten, dass in den ersten Tagen der Quarantäne die sogenannte Basisreproduktionsrate (ein Messwert, der die Zahl von Ansteckungen anzeigt, die von einer erkrankten Person ausgehen) 14,8 betrug. Ein Wert, der viermal höher ist als die entsprechende Zahl in Wuhan, dem Epizentrum der Sars-CoV-2 Pandemie. Am Ende der Quarantäne sank die Ansteckungsrate auf 1,8. Was bedeutet, dass immer noch jeder Infizierte im Durchschnitt etwa zwei Gesunde ansteckte.
Eine frühzeitige Evakuierung hätte die hohe Zahl an Infektionen verhindern können
Die Wissenschaftler errechneten zudem, dass eine frühzeitige Evakuierung der Passagiere die Gesamtzahl der Infektionen dramatisch reduziert hätte. Hätte man das Schiff in der ersten Woche evakuiert, wären zwar 76 Passagiere in der Inkubationszeit gewesen und hätten dementsprechend den Erreger in ihr Heimatland tragen können. Bei der tatsächlichen Evakuierung am 20.Februar waren dagegen 246 Passagiere potenziell infektiös. Die Studie zeigt ebenfalls, dass die Übertragungsrate zwischen Passagieren ähnlich hoch war wie innerhalb der Crew, während die Übertragungswahrscheinlichkeit von Crew zu Passagieren deutlich geringer war. Ein Hinweis darauf, dass die Viren durch die zentrale Belüftung des Schiffes übertragen wurden, und die Besatzung durch die Unterbringung in Mehrbettkabinen tief im Inneren des Schiffes besonders gefährdet war.
Dass die Lebensverhältnisse auf einem modernen Kreuzfahrtschiff den Ausbruch von Epidemien begünstigen, die durch Tröpfcheninfektion verursacht werden, ist seit langem bekannt. Im September 2000 entwickelte sich auf einem australischen Kreuzfahrtschiff eine Influenzaepidemie. Am Ende der Reise waren 37 Prozent der 1100 Passagiere an Grippe erkrankt und zwei gestorben.
Reeder haben wenig Interesse, das erhöhte Infektionsrisiko auf Kreuzfahrten zu thematisieren
Im Mai 2019 zirkulierten gleich zwei Influenza-Viren (der pandemische H1N1- und der saisonale H3N2-Stamm) auf einem Kreuzfahrtschiff vor der australischen Küste. Acht Prozent der Passagiere und Besatzung erkrankten. Im Februar 2012 kam es auf einem Kreuzfahrtschiff vor der brasilianischen Küste zu einem Ausbruch akuter Atemwegserkrankungen mit 16 Fällen von akutem Lungenversagen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Reedereien derartige Ausbrüche nicht an die große Glocke hängen. In Anbetracht der Tatsache, dass bei Kreuzfahrten die große Mehrheit der Passagiere im siebten oder achten Lebensjahrzehnt ist (also zur Hochrisikogruppe für schwere Atemwegserkrankungen gehört), haben die Veranstalter auch wenig Interesse daran, über Gesundheitsrisiken zu informieren, die im Zeitalter nahezu unbegrenzter Mobilität von Reisenden und Erregern bei einer Kreuzfahrt zu erwarten sind.
Hermann Feldmeier