Die Zukunft der Kreuzfahrtindustrie: Schwimmende Modellstädte
Wie viel Platz braucht ein Mensch, in welchen urbanen Strukturen wollen wir leben? Kreuzfahrtschiffe können zu Labors für das Wohnen von morgen werden.
Moderne Kreuzfahrtschiffe sind Meer- Zweckhallen. Sie wollen alles gleichzeitig sein: Hotel und Entertainmentcenter, Wellnessoase, Freibad, Shoppingmall, Diskothek, Kinderparadies, Joggingstrecken – und blasen dabei zwangsläufig jede Menge CO2 in die Luft.
Hinzu kommen bis zu einem Dutzend Bars und Restaurants sowie Theater mit 1000 Plätzen und bester technischer Ausstattung. Dass er sich in seinem Urlaub übers Wasser bewegt, merkt der Kreuzfahrtgast nur beim Blick aus dem Fenster. Das sehr selten ein Bullauge ist. In 1040 der 1267 Kabinen auf der „Mein Schiff 6“ von TUI Cruises beispielsweise tritt man durch eine raumhohe Glasschiebetür auf seinen privaten Balkon hinaus.
Kurt Tucholskys ironische Vision des irdischen Paradieses, hier ist sie Realität geworden: „Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße, mit schöner Aussicht, ländlich-mondän – ja, das möchste!“ In wenigen Schritten ist auf dem 295 Meter langen Schiff alles erreichbar, was man sich zur Freizeitgestaltung nur wünschen kann.
Denn wie in einer idealen Stadt wohnt hier jeder mitten im Zentrum. Eine schwimmende Utopie mit 65 000 PS. Und 1000 Dienstleistern, häufig aus Niedriglohnländern, die sich um das Wohlbefinden jener kümmern, die hier Urlaub machen.
Zwischen Beachclub und Großstadtlounge
Die Branche hat sich rasant entwickelt in den letzten beiden Jahrzehnten. Die Demokratisierung dieser Reiseform – 2,3 Millionen Deutsche haben 2018 eine Kreuzfahrt gebucht – brachte auch einen Wandel in der Ausstattung der Schiffe mit sich. Teakholz- oder Mahagoni-Vertäfelungen sind ebenso verschwunden wie das Captain’s Dinner oder die festen Sitzplätze im Restaurant.
Sonnig soll das Ambiente sein, hell und freundlich die Farben, in dezenter maritimer Anmutung, um die Urlaubsstimmung zu unterstützen, auch wenn mal Wolken aufziehen.
Die Gemeinschaftsbereiche changieren ästhetisch zwischen Beachclub und Großstadtlounge. Mögen sich die Ingenieure auf der Werft die Köpfe darüber zerbrochen haben, wie die Stahlungeheuer am sichersten zu bauen sind – die Reedereien tun alles dafür, dass man sich an Bord wie in einem Vier-Sterne-Hotel fühlt.
Dabei mangelt es just an dem, was in den All-Inclusive-Anlagen à la Robinson Clubs im Überfluss vorhanden ist: Platz. Jeder Kubikmeter Raumvolumen will ideal ausgenutzt werden, weil er ja von Hafen zu Hafen transportiert werden muss.
Die Leute sollen sich hier wohlfühlen
Also versucht man mit geschickter Beleuchtung, Weite zu simulieren. Die 17-Quadratmeter-Kabinen sollen durch „Homing“-Design den Eindruck erwecken, ein privates Zuhause zu sein, mit Bildern und Kissen in verschiedenen Größen und Stilen, als hätte sie jemand über Jahre zusammengekauft.
Ihre Flotte nennt die Reederei „Wohlfühlschiffe“, in Abgrenzung zu den Spaßschiffen der Konkurrenz. Allerdings gibt es sehr viele verschiedenste Zustände, in denen sich Leute wohlfühlen. Darum findet man Bistros, die 24 Stunden geöffnet sind; wer mag, bedient sich am Buffet, und wer lieber mit weißen Tischdecken speist, lässt sich im À-la-Carte-Restaurant nieder.
Morgens joggen die Sportlichen dort, wo die Faulenzer später ihre Sonnenliegen hingestellt bekommen, es gibt einen Fußballplatz, Escape Games, Vorträge zu allen Destinationen. Nachmittags und spätabends spielen Musiker in den Bars, im Theater gibt es Shows, einmal die Woche findet eine Poolparty statt. Und in den Fluren hängt Fotokunst.
Stadtplanung auf dem Wasser
Unterschiedlichsten Zielgruppen positive Erlebnisse zu verschaffen ist das Ziel bei Pauschalreisen auf dem Meer. Aber gilt das nicht auch an Land? Geht es in der Stadtplanung nicht genau darum, das menschliche Miteinander so zu gestalten, dass der Einzelne genug Raum für sich hat, in einem Umfeld, in dem er gerne lebt?
Dieter Brell von der Wiesbadener Designagentur 3deluxe sieht das genau so. Im Auftrag von Royal Caribbean Cruises arbeitet er derzeit an Schiffen für die kommenden Jahrzehnte. Dabei sieht er die Ozeanriesen als „Labors für das urbane Wohnen von morgen“, als schwimmende Modellstädte, wie er der Journalistin Brigitte Jurcyk in einem Interview für die "Welt" sagte.
Brell denkt über Logistik nach, über Vernetzung und die gewandelten Wohnbedürfnisse. Bislang sind die Kabinen für Paare ausgelegt – oder, wenn man das Sofa zum Bett umfunktioniert, für Kleinfamilien. Das entspricht aber immer weniger der sozialen Realität: „Die Auflösung der Familie, Mehrgenerationenwohnen, Wohnen in kleinen Gruppen – das wird sich auch im Kabinendesign spiegeln“, prophezeit Brell.
Und fragt weiter: „Brauchen Passagiere eigentlich noch ein Sofa und einen Schreibtisch in der Kabine?“ Schließlich werde vieles mittlerweile vom Bett aus gemacht: „Deshalb könnte es in Zukunft auch das zentrale Element werden.“
Identische Überlegungen gibt es für das Wohnen an Land: Wer mit seinem Smartphone vom Arbeiten übers Einkaufen bis zum Fernsehen alles erledigen kann, braucht kein Wohnzimmer mehr. Und ein Arbeitszimmer schon gar nicht. Was die benötigte Quadratmeterzahl pro Kopf zusammenschnurren lässt.
Zukunftsvisionen mit Charme
In Großstädten wird über die maximal effektive Platzauslastung ebenso intensiv nachgedacht wie in den Planungsbüros der Reedereien. Andererseits müssen immer mehr Arbeitnehmer auch während des Urlaubs weiterarbeiten. Also bräuchten nach Dieter Brells Meinung Kreuzfahrtschiffe explizite Zonen dafür: Coworking Spaces auf dem Meer.
An den Traumstränden der Welt klappen die Arbeitsnomaden ihre Laptops ja schon ganz selbstverständlich auf, nach dem morgendlichen Surftrip. Brells Fantasie geht so weit, dass er sich Rentner vorstellen kann, die ihren Lebensabend an Bord verbringen, während sie ganzjährig der Sonne hinterherreisen.
Gerade die deutschsprachige Kundschaft treibt mit ihrem ausgeprägten Umweltbewusstsein die Anbieter Aida und TUI Cruises vor sich her, erzwingt schnelle Schritte in Richtung Nachhaltigkeit. Dass die „Mein Schiff“-Flotte nicht in Venedig ankert, hat ebenfalls mit der hohen Kundensensibilität in diesen Fragen zu tun.
Sollte es tatsächlich gelingen, den Betrieb der Schiffe von Schweröl auf regenerative Energien umzustellen, haben die Zukunftsvisionen der Branche durchaus Charme. Weil die schwimmenden Städte ein urbanes Gewebe konservieren, das an Land zunehmend verloren geht. Einkaufsstraßen, die verwaisen, weil alle online shoppen, gibt es hier nicht.
Eine Utopie, die an Tucholsky erinnert
Statt Vereinzelung erlebt man an Bord Kommunikation, Menschenströme, die sich ständig zu neuen Freizeitzielen bewegen, von Sport bis Kultur. Und man kann sogar noch seine Sozialkompetenz trainieren. Wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, ist Egoismus Tabu. Remplern und Dränglern – die Entsprechung zu innerstädtischen Zweite-Reihe-Parkern und Autobahnrasern – begegnet man hier tatsächlich kaum.
Auf Kreuzfahrtschiffen wird analog gelebt, in der vitalen Gemeinschaft statt der virtuellen Realität. Und den Nachwuchs kann man ruhig rausschicken zum Spielen, er geht ja nicht verloren in dieser gated community, die zudem eine Fußgängerzone über 15 Etagen ist.
Gleichzeitig hat so eine künstliche Kommune mit 2500 Passagieren und 1000 Besatzungsmitgliedern eine Größe, die es dem Einzelnen auch erlaubt, in die Anonymität abzutauchen, wenn er mag.
Das Für-sich-Sein pflegen und im nächsten Moment wieder eintauchen in die Masse, das klingt eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Oder lässt sich diese Utopie vielleicht doch vom Wasser zurück aufs Land übertragen, in die Städte der Zukunft?
Kurt Tucholskys Parodie des Paradieses mit der Ostsee-Friedrichstraßen-Kombination geht übrigens so weiter: „Ja, und das hab’ ich ganz vergessen: Prima Küche – erstes Essen – alte Weine aus schönem Pokal – und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal. Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit. Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.“ Der Titel des Gedichts lautet „Das Ideal“.
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