Epidemiologe warnt vor noch schärferen Maßnahmen: „Gibt keinen Grund, das ganze Land in häusliche Quarantäne zu schicken“
Charité-Experte Stefan Willich hält Ausgangssperren für falsch. Auch die gesundheitlichen Kosten der Isolation können enorm sein, sagt er. Ein Interview.
Stefan Willich ist seit 1995 Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité. Das Interview wurde für den Tagesspiegel BACKGROUND Gesundheit & E-Health geführt. Hier können Sie sich für den Entscheider-Newsletter anmelden.
Herr Willich, die Deutsche Gesellschaft der Epidemiologen hat am Donnerstag ein Papier veröffentlicht, in dem für eine rasche Senkung der Infektionsraten plädiert wird. Innerhalb der nächsten zwei Wochen müsste die Politik diese deutlich nach unten bringen, um eine Überlastung der Intensivstationen in Deutschland zu verhindern. Teilen Sie diese Prognose?
Die aktuellen Prognosen haben die Einschränkung, dass sie mit vielen statistischen Unsicherheiten und unbekannten Größen arbeiten. So ist noch nicht genau abzusehen, wie viele der Infizierten in Deutschland stationär behandlungsbedürftig sind – die aktuellen Zahlen deuten auf zirka fünf Prozent – und wie viele sogar intensivmedizinische Versorgung benötigen, aktuelle Schätzungen liegen bei einem Prozent.
Die Dunkelziffer der tatsächlich Infizierten dürfte in Deutschland wie auch in anderen Ländern sehr hoch sein.
Genauere Zahlen wären aber wichtig, um die Frage zuverlässig beantworten zu können, ob und wann unser Gesundheitssystem an die Grenzen kommen kann. Bis jetzt sind die Kliniken kaum betroffen, und das wird sich nach meiner Einschätzung in dieser Woche auch nicht ändern.
Aber die Zahl der Infizierten könnte in den nächsten Wochen weiter schnell ansteigen und für diesen Fall müssen Gesundheitspolitik und Kliniken planen. Wir sollten uns für das Worst-Case-Szenario vorbereiten. Es ist aber nicht gesagt, dass es eintritt.
Aber alle Daten deuten darauf hin, oder?
Es gibt noch keine Daten, inwieweit sich die bisher getroffenen Maßnahmen in Deutschland auf die Infektionszahlen auswirken. Das können wir erst frühestens Ende dieser Woche beurteilen. Ich gehe fest davon aus, dass die bisherigen Maßnahmen wirksam sein werden und erwarte eine deutliche Abschwächung des bisherigen Anstieges.
Deshalb halte ich es auch nicht für sinnvoll, jetzt schon einen nächsten Schritt zu gehen, zum Beispiel in Form flächendeckender Ausgangssperren.
Sie meinen also, die derzeitige Pandemie ist nicht gefährlich?
Gemessen an der Letalität, also der Anzahl der Fälle, die zum Tode führen, liegt sie etwas über der Influenza-Grippe: In Deutschland sterben nach aktuellen Trends zirka 0,3 bis 0,4 Prozent aller infizierten Patienten. SARS oder gar Ebola bewegen sich in völlig anderen Dimensionen.
Und auch die gelegentlich zum Vergleich angeführte Spanische Grippe um 1918 war bezüglich der Letalität und auch Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung viel bedrohlicher. Bei SARS-Cov-2 sind Personen unter 65 Jahren und ohne Vorerkrankungen offenbar kaum gefährdet. Die Krankheit ist gefährlich vor allem für ältere Personen mit chronischen Vorerkrankungen. Dieses Risikoprofil ist anders als bei der Influenza-Grippe, bei der auch Kinder und Schwangere gefährdet sind.
"Die Pandemie ist vermutlich nicht zu verhindern."
Aber in der Risikogruppe gibt es ja trotzdem Millionen Menschen, die es zu schützen gilt.
Deswegen ist es sinnvoll und notwendig, bestmöglichen Schutz für diese gefährdeten Personengruppen zu entwickeln. Es ist vermutlich nicht zu verhindern, dass die Pandemie durch die Welt geht und große Teile der Menschheit infiziert. Die Frage ist, ob das Monate oder Jahre dauert. Und natürlich, wann Impfstoffe zur Verfügung stehen werden.
In der jetzigen Situation ist es wichtig, die Krankenhaus-Kapazitäten im Blick zu behalten, also sicherzustellen, dass alle Patienten in den nächsten Wochen und Monaten bestmöglich versorgt werden können. Die Anstiegskurve der Infektionen muss abgeflacht werden, damit die Kapazität des Gesundheitssystems und konkret die intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausreichen.
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Ihr Kollege Christian Drosten, Chefvirologe der Charité und einer der wichtigsten Berater der Bundesregierung in der derzeitigen Pandemie, klingt da aber deutlich anders. Er warnt vor dramatischen Zuständen. Gibt es da einen Dissens zwischen dem Virologen Drosten und Ihnen, dem Leiter des Charité-Instituts für Epidemiologie?
Hätte man in den letzten Tage nichts unternommen, wären Engpässe möglich, vor denen Herr Drosten völlig zu Recht gewarnt hat. Aber wenn die Maßnahmen, die letzte Woche in Kraft getreten sind, konsequent weitergeführt werden, dann erwarte ich eine deutliche Verringerung der Neuerkrankungen.
Das hat man in Südkorea gesehen, dort übrigens ohne allgemeine Ausgangssperren. In Deutschland scheinen sich die meisten Bürgerinnen und Bürger vernünftig zu verhalten und es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, jetzt das ganze Land in die häusliche Quarantäne zu schicken. Als Sozialmediziner muss ich zudem die gesellschaftliche Perspektiven berücksichtigen.
Welche?
Mit einem kompletten Lockdown gefährdet man direkt oder indirekt die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen, schon jetzt sind nachteilige Auswirkungen zu sehen. Die Arbeitslosenzahlen könnten nach oben gehen und prekäre Lebensverhältnisse sowie in Folge auch psychische Erkrankungen zunehmen.
Und es ist nachdrücklich belegt, dass Armut der wichtigste gesellschaftliche Risikofaktor für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit ist. Wenn jetzt einzelne Todesfälle verhindert werden, sich dafür aber in den nächsten Jahren die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung erhöht, wäre die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr gewahrt.
Kann man das einfach so gegeneinander aufrechnen?
In den nächsten Wochen muss sichergestellt werden, dass Patienten in den Krankenhäusern gut versorgt werden können. Eine wichtige Basis für angemessene gesundheitspolitische Entscheidungen wären unter anderem Informationen zu den Kapazitäten in den Kliniken und zu den bisherigen Patientenverläufen.
Wie viele Covid-19-Patienten werden stationär behandelt, wie alt sind sie, welche Vorerkrankungen liegen vor, wie ist ihre Krankenhaus-Verweildauer und wie der klinische Verlauf?
Sowohl für Deutschland als auch Europa werden diese Daten dringend benötigt, für realistische Szenarien und Prognosen als Grundlage für politische Regulation und klinische Einsatzplanung.
Aber zudem sind gesundheitspolitische Maßnahmen auch in ihren längerfristigen Konsequenzen abzuwägen. Die aktuelle Bedrohung darf nicht zu Reaktionen verleiten, mit denen gravierende zukünftige gesundheitliche Krisen eingeleitet werden.
"Es ist eine konsequente Infektionstestung notwendig."
Sie plädieren also dafür, nach den Osterferien das gesellschaftliche Leben wieder hochzufahren?
Wenn das bisher exponentielle Wachstum der Neuerkrankungen gebrochen ist, sollte der schrittweise Wiedereinstieg ins normale gesellschaftliche Leben erfolgen. Natürlich wird es nicht sofort zu einer Normalisierung in allen Lebensbereichen kommen, das wäre blauäugig und vielleicht auch riskant, wenn der Prozess nicht ausreichend evaluiert wird.
Dabei ist die konsequente Infektionstestung auf Bevölkerungsebene besonders wichtig, wie etwa in Südkorea. Nur so sind die Anzahl der Infektionen und die Immunitätslage zuverlässig einzuschätzen. Wenn wir nicht breit testen, laufen wir Gefahr, schnell wieder vor der gleichen unklaren Gefährdungssituation zu stehen wie jetzt.
Warum kriegt es Südkorea hin, massenhaft zu testen, Deutschland nicht?
Das frage ich mich auch. Es wäre eine prioritäre Aufgabe aller Beteiligten, hier Kapazitäten zu schaffen. Ein gutes Monitoring ist die Grundvoraussetzung, um sukzessive wieder zu einer Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens zu kommen. Das wird ein Prozess von vielen Monaten sein, nicht von Wochen, das ist leider jetzt schon abzusehen.
Was ist mit den Älteren, den vorerkrankten Menschen? Müssten die in dieser Zeit nicht weiterhin isoliert werden?
Der besondere Schutz für Risikogruppen wird so lange nötig sein, bis es Impfmaßnahmen und spezielle Medikamente gibt, die Gesamtbevölkerung ausreichend immunisiert ist, oder das Virusrisiko abgeschwächt ist, zum Beispiel in den Sommermonaten. Für die Phase des sukzessiven Wiedereinstiegs müssen jetzt Konzepte entworfen werden.
Auch hier ist Kosten-Nutzen-Abwägung wichtig. Eine längere Quarantäne von älteren und chronisch kranken Menschen kann wiederum zu gesundheitlichen Schäden und ernster Gefährdung führen. Ich plädiere dringend dafür, bei Lösungsstrategien in der jetzigen Situation auch die längerfristigen Konsequenzen zu bedenken.
Public Health ist bislang eine nationale Angelegenheit, die EU-Kommission wünscht sich hier mehr Durchgriffsrechte. Müssten Maßnahmen, wie Sie sie skizzieren, in einem so dicht besiedelten und von extrem hoher Mobilität geprägten Kontinent wie Europa nicht sehr eng abgestimmt werden?
Ich finde es sehr enttäuschend, wie schlecht die europäische Idee im Gesundheitswesen funktioniert, man sieht das zum Beispiel an den fehlenden Krankenhausinformationen. Man muss sich auf europäischer Ebene und darüber hinaus dringend abstimmen, um für zukünftige Notfälle besser vorbereitet zu sein.
Wir sollten die jetzige Situation auch für notwendige Lernprozesse nutzen. Asiatische Länder wie Südkorea, Singapur, Japan und Taiwan hatten die SARS-Krise 2003 zum Anlass genommen, umfangreiche Präventionspläne zu entwickeln und zu testen und sind den europäischen Ländern bei der Bewältigung von Epidemien deutlich voraus.
Gleichzeitig gibt es in Deutschland auf den unteren Ebenen ein sehr dezentrales System, mit den Ländern und den lokalen Gesundheitsämtern, die ihre Arbeit nicht immer aufeinander abstimmen. Ist in diesem Bereich nicht auch ein Richtungswechsel nötig?
Das Robert Koch-Institut hat hohe Kompetenz für Infektionsnotfälle. Aber der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland insgesamt gilt als nicht besonders modern entwickelt, zumindest im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern, die außerdem viel mehr Public-Health-Foschung betreiben als wir.
Mehr Expertise, Standardisierung, Abstimmung und weniger Flickenteppich wäre wichtig, gerade in einer gefährlichen Lage wie jetzt.
Die angelsächsischen Länder USA und Großbritannien sind allerdings derzeit offenbar völlig überfordert damit, eine Corona-Strategie zu formulieren. Was halten Sie von der dort anfangs vorgebrachten Idee, auf die sogenannte Herdenimmunität zu setzen?
Das Konzept einer Herdenimmunität, also dem Virus weitgehend freien Lauf zu lassen und auf Schutz der Risikogruppen zu fokussieren, scheint zu riskant. England ist von dieser Idee nach Beratung durch Infektionsepidemiologen zurückgerudert, und fast alle westlichen Länder einschließlich der USA verfolgen jetzt ähnliche Eindämmungs- und Präventionsmaßnahmen nach asiatischem Vorbild. Ich denke, das ist auch die sicherere Variante.
Holland aber hat sich für einen Mittelweg entschieden: Dort lässt man die Ausbreitung des Virus zu, isoliert aber gefährdete Bevölkerungsgruppen soweit möglich. Während in Brasilien, als Gegenmodell, zumindest aus Sicht des Präsidenten überhaupt keine Gegenmaßnahmen nötig sind.
Wir werden erst in ein paar Monaten wissen, welche Strategien im internationalen Vergleich am besten funktionieren. Auch daraus sollten dann die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Denn gesundheitliche Katastrophen durch virale Bedrohung hat es immer wieder gegeben und wird es auch in der Zukunft geben.