„Deutschland verletzt das Solidaritätsprinzip“: Wie Deutschland von Organen aus dem Ausland profitiert
Deutschland ist derzeit Nutznießer ausländischer Organspenden. Die sogenannte Widerspruchslösung könnte das Problem lösen.
Im Januar wird der Bundestag darüber entscheiden, ob künftig jeder als Organspender gilt, wenn er oder seine Angehörigen dem nicht aktiv widersprechen. Es wäre ein Paradigmenwechsel, wie ihn viele andere Länder, etwa Spanien, schon vollzogen haben.
Derzeit gilt man in Deutschland als Organspender, wenn man dies ausdrücklich dokumentiert hat, beispielsweise in einem Spenderausweis. Gibt es keine Aussage zur Spendenbereitschaft, obliegt die Entscheidung nach dem Tod den Angehörigen.
Unterstützer der sogenannten doppelten Widerspruchslösung plädieren jetzt mit einem eindringlichen Appell an die Abgeordneten des Bundestags, den Weg für das grundsätzlich neue Verfahren frei zu machen. Andernfalls werde sich der Negativtrend bei den Organspenden fortsetzen.
Schon jetzt funktioniere das System hierzulande nur, weil Deutschland im transnationalen Netzwerk Eurotransplant Nutznießer ausländischer Organspender sei, sagte Volkmar Falk, Direktor der Klinik für Kardiovaskuläre Chirurgie der Charité, am Freitag. Die Stimmung in den anderen Ländern sei „schlecht, weil von Deutschland das Solidaritätsprinzip verletzt werde“. So würden für jedes Organ, das aus Deutschland zu Eurotransplant gehe, im Schnitt drei importiert.
Zu Eurotransplant gehören neben Deutschland die Beneluxstaaten, Österreich, Slowenien, Kroatien und Ungarn – die Bundesrepublik sei das einzige Mitglied ohne Widerspruchslösung. Trotz dieser Schieflage werde die Wartezeit auf Organe in Deutschland stetig länger, betonte Felix Berger, Direktor der kardiologischen Kinderklinik der Charité. Habe ein Kind in den 90er Jahren in Deutschland im Schnitt maximal 111 Tage auf ein Spenderherz gewartet, seien es heute 867 Tage.
Debatte um Freiwilligkeit oder Pflicht bei der Organspende
Bei der Parlamentsabstimmung im Januar stehen bislang drei Anträge auf der Tagesordnung, der der AfD ist aber ohne Chance. Die Widerspruchslösung wird von einer Gruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach favorisiert.
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Abgeordnete um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock und die Linken-Chefin Katja Kipping plädieren dafür, Organe nur zu entnehmen, wenn es vorher eine Zustimmung der Betroffenen gab – es sollen allerdings mehr Möglichkeiten geschaffen werden, sich als Spender zu registrieren. Beide Anträge setzen also auf Freiwilligkeit, bei der Widerspruchslösung müsste man sich aber aktiv als Nichtspender definieren.
Organspende-Debatte für Betroffene schwer erträglich
Dies sei alles andere als ein Eingriff in Grundrechte, sagte die Medizinethikerin Christiane Woopen, ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und heute in dieser Position beim Europäischen Ethikrat. Es werde bei der Widerspruchslösung „nicht einmal verlangt, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, sondern nur mit der Frage, ob man sich damit auseinandersetzen will“.
Für Betroffene sei die „Diskussion, wie sie in Deutschland geführt wird, oft schwer erträglich“, sagte Woopen. Einer von ihnen ist Phillip Lange (Name geändert), dessen neunjährige Tochter in Hamburg auf ein Spenderherz warte. „Die Organspende-Situation in Deutschland ist eine Katastrophe, wir erfahren das seit anderthalb Jahren am eigenen Leib“, sagte er. „Es scheint aber niemanden zu interessieren.“
Die Herzchirurgin und Bundestagsabgeordnete Claudia Schmidtke (CDU) will – außerhalb ihrer Funktion als diesbezüglich zur Neutralität verpflichtete Patientenbeauftragte der Bundesregierung – in den Wochen bis zur Abstimmung weiterhin um Unterstützung für die Widerspruchslösung kämpfen, wie sie ankündigte.
Bis jetzt gebe es etwa 220 Unterstützer und 200 Unentschlossene im Parlament, berichtete sie. Nötig ist eine Mehrheit der 709 Abgeordneten. Es sei noch viel Arbeit, sagte Schmidtke, „aber es ist auch das erste Mal, dass wir so kurz davorstehen“.