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Zweitklässler singen in einer Schulaula für neu Eingeschulte und ihre Eltern.
© imago/Marc Schüler

Neue Arten der Bildungsauslese: Verschleierter Rassismus im neoliberalen Schulsystem

Der Mythos der Chancengleichheit trägt zur Verschärfung von Bildungsungerechtigkeiten bei, zeigt eine neue Studie. Menschen mit Migrationsgeschichte sind benachteiligt.

Struktureller Rassismus in der Schule? Die Abwehr dieses Vorwurfs dürfte in etwa so vehement sein, wie bei den Sicherheitskräften in Deutschland. Doch die diskursanalytische Studie der Bildungsforscherin Ellen Kollender über die Situation von „als migrantisch positionierten Eltern“ legt genau solche rassistischen Logiken nahe.

Die Kulturwissenschaftlerin an der Hamburger Bundeswehruniversität hat für ihre Untersuchung an Kreuzberger und Neuköllner Schulen eine Fülle bildungspolitischer Dokumente der Jahre 2000 bis 2017 ausgewertet und Interviews mit vielen Lehrerinnen und Lehrern sowie mit zahlreichen Eltern geführt.

Das Ideal vermeintlich farbenblinder Leistungsgerechtigkeit

Ihre Kernthese ist, dass im Zuge des Erstarkens von Werten wie „Eigenverantwortung“ und „Leistungsbereitschaft“ durch neoliberale politische Reformen neue Arten der Auslese aufkamen. Diese gerierten sich als frei von Rassismus, hätten diesen aber lediglich verschleiert.

Das am Ideal vermeintlich farbenblinder Leistungsgerechtigkeit ausgerichtete Selektionskriterium, das gute Eltern von schlechten Eltern trennt, könne seinen diskriminierenden Charakter jedoch nur schlecht verbergen, so Kollender.

[Lesen Sie hier eine Reportage über einen Wohnblock in Neukölln, in dem Corona ausgebrochen ist. Auch die dortigen Bewohner müssen sind rassistischen Zuschreibungen ausgesetzt]

Dem neoliberalen Paradigma gemäß würden Eltern für die Bildungsbiographie ihrer Kinder heute immer stärker verantwortlich gemacht. Indem die Eltern mehr in das Schulsystem einbezogen und die Elternrechte stetig erweitert werden, sei auch die „Pflicht“ der Eltern gewachsen, für den Schulerfolg ihrer Kinder Sorge zu tragen.

Dies habe das Schulsystem allerdings nur vordergründig demokratischer gemacht, meint Kollender. So zeigten einige Studien, dass die Erweiterung von Elternrechten und Partizipationsmöglichkeiten mitunter dazu führt, dass sich die ohnehin privilegierten Teile der Elternschaft auf Kosten der randständigen Gruppen von Eltern zusätzliche Vorteile verschaffen.

[Ellen Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2020, 378 Seiten, 29 €.]

„Der neoliberale Mythos eines freien Marktes, auf dem alle Bürgerinnen und Bürger unter vermeintlich gleichen Bedingungen um Bildungschancen konkurrieren können, trägt zu einer maßgeblichen Verschärfung von Bildungsungerechtigkeiten bei“, sagt Kollender im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

So könnten Eltern aus verschiedenen Milieus die Möglichkeiten, die der Bildungsmarkt eröffne, natürlich nicht in gleicher Weise wahrnehmen, da sie von völlig unterschiedlichen Positionen aus an den Start gingen. Die schlechten Startpositionen kämen dabei nicht nur durch soziale Benachteiligungen – etwa prekäre Arbeitsverhältnisse, unsichere Aufenthaltstitel oder psychische und physische Gesundheitsprobleme – zustande, sondern auch durch in Politik, Gesellschaft und Schule verankerte, dichotome Bilder von „den Anderen“ und „uns“.

Den Eltern wird "Passivität" zugeschrieben

Ihrer qualitativen Untersuchung zufolge werden Eltern mit Migrationsgeschichte im „deutschen Bildungsdispositiv“ vielfach als „bildungsfern“, „wenig aktiv“ und „wenig leistungsorientiert“ gelabelt: Die den Eltern zugeschriebene „Passivität“ wird laut Kollender oft kulturalisiert: Lehrkräfte leiten Leistungsdifferenzen häufig aus „kulturellen Unterschieden“ ab.

[Einen Gastbeitrag der Vizepräsidentin der TU Berlin über fehlende Diversität an den Hochschulen in Deutschland finden Sie hier]

„Im Kontext von kulturalisierenden und individualisierenden Debatten über die Ursachen von Bildungsdifferenzen geraten die ungleichen Ausgangsvoraussetzungen verschiedener Familien aus dem Blick“, erklärt die Bildungsforscherin. Mit der neoliberalen Aushöhlung des Prinzips der Bildungsgerechtigkeit würden als bildungsfern geltende Eltern für die Lage ihrer Kinder zunehmend in Verantwortung genommen.

Die Losung „jedes Elternteil ist seines Kindes Schulerfolges Schmied“ erweist sich aber als scheinheilige Floskel. Über Items wie „fehlendes Interesse“ oder „mangelnde Einsatzbereitschaft“ werden rassistische Klischees im neoliberalen Vokabular gleichsam unausgesprochen mittransportiert. Als migrantisch verstandene Eltern, die sich in schulische Prozesse aktiv einbrächten, würden hierbei meistens als „Ausnahme“ gefeiert.

Eine Frau, die Kopftuch trägt, holt in am späten Nachmittag ihre Kinder von der Schule ab.
Als migrantisch verstandene Eltern, die sich in schulische Prozesse aktiv einbringen, werden als „Ausnahme“ gefeiert, schreibt Ellen Kollender.
© imago/Winfried Rothermel

Verschiedene politische Diskurse und Praktiken haben demnach ein als selbstverständlich erachtetes Wissen über die als „anders“ konzipierten Eltern erzeugt, das, so Ellen Kollender, „von Pädagog_innen aus Berliner Schulen in alltäglichen Interaktionen mit Eltern angewendet, aber zuweilen auch umgedeutet wird“. Teilweise würden die „geanderten Eltern“ sich selbst mit den Augen der Herrschenden betrachten, die Fremdzuschreibung also übernehmen.

Schulen konkurrieren um "gute Eltern"

Die Kulturwissenschaftlerin hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich nicht wenige Eltern im Rahmen verschiedener Initiativen gegen den Rassismus, den sie und ihre Kinder im Schulsystem erfahren, auf kreative Weise zur Wehr setzen. Leider nicht immer mit Erfolg. Denn dass die Schulen zunehmend stärker auf Effizienz und Wettbewerb getrimmt wurden, verstärke die beschriebene Kluft.

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So haben viele Studien gezeigt, dass Schulen ihr Handeln oft an Zielvorgaben ausrichten, die eine gute Positionierung in einschlägigen „Rankings“ versprechen. Schulen konkurrieren um „gute Eltern“, Eltern konkurrieren um „gute Schulen“. Die als „muslimische Eltern“ oder „als arbeitslose Mütter mit Migrationshintergrund“ typisierten Altneuköllnerinnen hätten zum Beispiel gegenüber den als „bildungsnahe deutsche Eltern“ geltenden Neuneuköllnern das Nachsehen.

Im gegenwärtigen Deutschland seien rassistische Strukturen, anders als oft behauptet werde, also keineswegs abgebaut worden, sagt Kollender. „Stattdessen verbinden sich rassistische Logiken und die neoliberale Rationalität zu einem neoliberalen Rassismus.“ Diese oft verschleierte Rassismus-Dimension müsse bei einer inklusiven und diskriminierungssensiblen Entwicklung des Bildungssystems berücksichtigt werden.

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