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Josephine Apraku und Malcolm Ohanwe rufen im Netz Weiße dazu auf, sich endlich selbst mit ihrer Identität zu beschäftigen.
© Lars Walther und Özgün Turgut

Zwei People of Color fragen Deutschland: Liebe Weiße, wie profitiert ihr von Rassismus?

Weiße sollten endlich über Rassismus sprechen, finden Josephine Apraku und Malcolm Ohanwe. Im Netz machen schon Hunderte mit. Ein Interview.

Als die Bilder vom brutalen Polizeieinsatz gegen George Floyd um die Welt gehen, Menschen auf den Straßen zu protestieren beginnen und sich – als käme es plötzlich – viele wieder für Rassismus interessieren, glauben Josephine Apraku und Malcolm Ohanwe, dass diesmal etwas anders laufen muss.

Unabhängig voneinander starten sie in sozialen Netzwerken Aufrufe: Genug Schwarzes Leid, es sei Zeit, dass die Weißen sich mit ihrem Weißsein beschäftigen.

Apraku lebt in Berlin und hat das Institut für diskriminierungsfreie Bildung mitgegründet. Auf Instagram hat sie eine Aktion gestartet. Für einen Monat postet sie unter dem Hashtag #kritischeWeiß_heiten jeden Tag eine Frage. Zum Beispiel: „Wann ist dir das erste Mal bewusst geworden, dass du weiß bist?“

Ohanwe, Journalist in Bayern, schrieb auf Twitter: „Wir sind ausgelaugt und müde! Wir haben keinen Bock mehr auf Morddrohungen und Beleidigungen. Macht euch an die Arbeit, weiße Leute! Seid Botschafter!“ Per Videokonferenz erklären sie, was es damit auf sich hat.

Frau Apraku, Herr Ohanwe, wie oft müssen Sie sich bewusst machen, welche Hautfarbe Sie haben?

APRAKU: Ich frage mich selten, wie wenig oder wie viel Melanin ich habe. Was ich mich aber oft frage, ist, wo befinde ich mich in Deutschland, auch in Berlin, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Wo kann ich hin, ohne Angst zu haben? Als ich das erste Mal zur Alice-Salomon-Hochschule in Hellersdorf gefahren bin, wo ich unterrichte, habe ich mir vorher Sorgen gemacht. Weil ich den Weg nicht genau wusste, habe ich eine Frau angesprochen. Sie hat ihre Handtasche an sich gezogen und ist vor mir weggerannt. Und da geht es noch nicht mal um Gewalt.

OHANWE: Dass ich eine schwarze Person bin, ist mir viel zu oft bewusst. Dadurch, dass ich eine nicht-schwarze Mutter habe, kenne ich aber auch die andere Seite. Ein Beispiel: Ich habe als politischer TV-Korrespondent in Nigeria gearbeitet, in dieser Gesellschaft gelte ich als weiß. Als ich am Flughafen in München los bin, wurde ich intensiv kontrolliert, mir wird unterstellt, ich sei kriminell oder arm. Am Flughafen in Lagos war es genau umgekehrt. Ich hatte fast Unbehagen, wie leicht alles vonstatten ging. Ich habe auch gespürt, wie mir mein Weißsein ein ungerechtfertigtes Gefühl von Überlegenheit gegeben hat. Und ich denke, dass es Leuten die überall weiß sind, wohl immer so geht.

Wann haben Sie das erste Mal gemerkt, dass Ihre weißen Mitmenschen sich nicht so intensiv mit ihrer Identität beschäftigen?
APRAKU: Als Kind war mir das schon klar.

OHANWE: Im Kindergarten sagte ein weißer Junge zu mir: Gib mir mal die Hautfarbe. Ich habe ihm einen braunen Stift gegeben. Und er sagte: Nein! Hautfarbe! Da wurde ganz klar, wie selbstverständlich es für ihn war, dass er der Standard ist. Er denkt: Hautfarbe bedeutet rosa. In einem der größten Einwanderungsländer der Welt, einem Land mit Kolonialgeschichte und Schulen mit so hohem Migrationsanteil, kommt so vielen Menschen nicht in den Sinn, dass Hautfarbe mehr ist als …

APRAKU: … ein Stift.

Sie haben beide in sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, sich mit ihrem Weißsein auseinanderzusetzen. Was soll das bringen?
APRAKU: Schwarze werden regelmäßig gefragt: Wie fühlt sich Rassismus an, erzähl doch mal! Ich habe ein Problem damit, meine persönlichen, echt schmerzhaften Erfahrungen zu teilen, damit Weiße etwas lernen können. Weiße können auch ganz gut Rassismus thematisieren, ohne dass wir nur über die schrecklichen Erfahrungen von Schwarzen sprechen. Denn das Minus, dass Schwarze Menschen erfahren – schlechterer Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt –, das ist das Plus für Weiße. Wir sind Teil eines rassistischen Systems. Deswegen ist es wichtig, dass auch Weiße sich fragen: Wo ist es für mich leichter gewesen? Wo habe ich in der Schule vielleicht ein Kind rassistisch beschimpft? Oder stand ich nur daneben und habe nichts gesagt? Und das kann zu der Frage führen: Muss ich mehr Verantwortung übernehmen?

OHANWE: Wir sind nicht so viele Schwarze Menschen in Deutschland. Wir müssen das jetzt mal gemeinsam angehen. Als Schwarzer Journalist wird ständig von dir verlangt, dein Schwarzsein zu exponieren. Du wirst seziert und zu einem Objekt. Ich glaube, es ist gesund, mal Weiße diese Arbeit machen zu lassen. Sie können aus Erfahrungswerten schöpfen, die wir nicht haben. Ich will tolle, intelligente weiße Gehirne anregen mitzuhelfen. Natürlich kann da auch ein Haufen Mist bei rumkommen. Aber man darf Fehler machen, so lange man ehrlich Mühe reinsteckt. Wer es versucht, wird merken, wie schwer es ist, etwas Sinnvolles zu seiner eigenen Identität und Herkunft zu schreiben. Und sie werden selber mal die Abwehrreaktionen von Weißen erleben, sich mit den Trollen rumschlagen, statt diese ganzen Streits nur den Betroffenen von Rassismus zu überlassen.

Durch die „Black Lives Matter“-Proteste haben die Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen und anderen People of Color aber eine enorme Aufmerksamkeit. Wäre das nicht auch ein Schlüssel für Weiße zu lernen?
APRAKU: Aus der Pädagogik weiß ich, dass das Wissen um Gewalterfahrungen und Bilder von Gewalt nicht dazu beitragen, dass die Menschen empathischer werden. Wir haben die Videos von Schwarzen, die in den USA getötet oder verprügelt werden. Trotzdem sind die USA kein weniger rassistisches Land. Es ist wichtig, dass Aufmerksamkeit auf dem Thema ist. Aber das muss auch gehen, ohne die Erzählungen und Darstellung der Gewalt immer wiederholen zu müssen.

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OHANWE: Da schwingt auch diese Beweispflicht mit, und damit drehen wir uns im Kreis. Wir reden dann nicht darüber, wie wir Rassismus bekämpfen können, sondern darüber, ob es Rassismus überhaupt gibt. Diese Frage muss man nicht mehr diskutieren. Schwarzer Schmerz wird viel zu gerne und viel zu viel konsumiert und dadurch normalisiert. Wir lieben Filme wie „12 Years a Slave“ oder „Just Mercy“, sie werden in den Himmel gelobt. Man wird taub. Das ständige Exponieren von Schwarzen Körpern, die leiden, kann nicht der Weg sein. Es verzerrt auch, was vermeintliche Kleinigkeiten bedeuten, dass man als Schwarzer eine Wohnung nicht bekommt oder komisch angemacht wird. Muss denn erst jemand gelyncht werden, damit das Problem Aufmerksamkeit bekommt? Nur weil etwas nicht direkt zum Tod führt, heißt es nicht, dass man es nicht bekämpfen sollte.

Wie haben die Menschen auf Ihren Aufruf reagiert?
APRAKU: Ich bin davon ausgegangen, dass mir vielleicht fünf Leute antworten. Und bin überrascht, wie viele das ernst nehmen und mitmachen. Das Spannendste ist, dass die Leute untereinander diskutieren. Es ist wichtig, dass Weiße lernen: Weißsein ist eine kollektive Erfahrung. Viele sagen: Ich fühle alles individuell, meine Abwehr ist individuell, dass ich mich damit nicht beschäftigen will, ist individuell – das ist es eben nicht. Deswegen ist der öffentliche Austausch gut. Die Leute merken: Krass, das Gefühl kenne ich auch. Ich bin auch überrascht, wie viele bereit sind einzugestehen, dass mit ihrer weißen Identität Schmerz einhergeht. Es ist auch eine entmenschlichte Position, weil das Weißsein mit der Entmenschlichung anderer einhergeht.

OHANWE: Es gibt jetzt so viele Beiträge, ich kann die gar nicht alle lesen. Interessant, wie leicht es dann doch für so viele ist, auf den Punkt zu bringen, welche Privilegien sie haben, wovon sie profitieren. Das ist nützlich, denn wenn eine weiße Person dasselbe sagt, was Schwarze schon immer gesagt haben, dann glaubt man ihr leider tendenziell eher. Jetzt würde ich mir aber wünschen, dass mehr Menschen wirklich über sich selbst schreiben. Eine erzählte zum Beispiel, dass sie am Schreibtisch einer Kollegin ein Bild von schwarzen Kindern sah und sich immer fragte, warum die den Flyer einer Hilfsorganisation da aufgehängt hat. Bis sie irgendwann merkte: Das sind die Enkel ihrer Kollegin. Sowas ist unangenehm. Aber genau da muss man hin. Und da geht noch mehr. Viele haben auch die Sehnsucht nach einem Freifahrtschein. Die sagen, ich mache das jetzt einmal …

APRAKU: … und dann bin ich nieee wieder rassistisch!

OHANWE: Genau! Aber in Wahrheit haben sie gerade erst verstanden, worum es geht.

Warum glauben Sie, ist es für Weiße so schwer, sich damit zu beschäftigen?
OHANWE: Genau solche Fragen sollen jetzt Weiße beantworten.

APRAKU: Wir leben in einem Land, das an Leistungsgesellschaft glaubt und dass jeder seines Glückes Schmied sei. Wenn sich dann herausstellt, ich habe mein Glück gar nicht selber geschmiedet, sondern jemand hat mir einen Koffer gegeben und da war mein Glück die ganze Zeit drin, ich habe den Koffer halt noch tragen müssen – wenn ihn nicht sogar jemand für mich getragen hat –, ist das eine unangenehme Erkenntnis. Außerdem meinen Menschen, wenn sie über Rassismus sprechen in aller Regel die bösen anderen und die Nazis. Den Vorwurf zu hören, man sei rassistisch, ist einer der schlimmsten. Wir müssen aber wegkommen von der Frage: Sind wir gute oder böse Menschen? Wir müssen uns bewusst werden, dass Rassismus durch Gesetze, Normen, Wertvorstellungen immer eine Rolle spielt. Niemand ist böse, weil er Privilegien hat, aber er muss sich fragen, welche Verantwortung daraus folgt.

OHANWE: Ich will auch nicht, dass Weiße sich in Schuldgefühle stürzen. Aber die Situation ist da und jetzt müssen wir eben damit umgehen. Nur weil du als Weißer nicht dein halbes Gehalt als Reparationszahlung für die Herero hergibst, heißt das nicht, dass du gar nichts machen kannst. Wie – das muss jeder selbst wissen. Wir sind nicht die schwarze, moralische Instanz.

Ihre Aktion zielt auf Eigenverantwortung, Sie sagen aber, das Problem ist systemisch.
APRAKU: In Institutionen sitzen Menschen. Und wenn wir einige von ihnen erreichen, kann sich etwas verändern. Sie gehen vielleicht zur Arbeit, sehen sich um und stellen fest: alle weiß. Muss das so sein? Was ist mit unserer Einstellungspraxis? Oder Lehrkräfte schauen in ihre Schulbücher und fragen sich: Möchte ich das so unterrichten? Auf struktureller Ebene muss noch total viel passieren, ja. Aber es kann von der individuellen Ebene ausstrahlen. Das ist die Ebene, wo wir nicht abhängig von Entscheidungen irgendwelcher Politiker sind. Wir können sofort etwas tun.

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