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Berlins Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial
© Paul Zinken/dpa

Interview mit Berlins Integrationsbeauftragter: „Nicht Deutsch sprechen heißt nicht, sprachlos zu sein“

Katarina Niewiedzial hat als erste Berliner Integrationsbeauftragte selbst Migrationshintergrund. Sie will, dass das nicht mehr als Sonderstatus gesehen wird.

Frau Niewiedzial, als kürzlich ein CDU-Wirtschaftspolitiker erklärte, Kinder, die nicht ausreichend Deutsch könnten, gehörten erst einmal nicht in die Schule, da meldeten sich viele Erwachsene zu Wort, die einmal solche Kinder waren - viele von ihnen sind heute deutsche Politikerinnen und Schriftsteller. Wie ging es Ihnen als sie als Zwölfjährige aus Polen nach Deutschland kamen? 

Genauso. Ich konnte kein Wort Deutsch. Aber wenn ich nicht in eine deutsche Schule gekommen wäre, wo hätte ich es denn lernen sollen? Schule ist der integrative Ort schlechthin. Die Grundschule kann eine soziale Durchmischung herstellen wie kaum eine sonst. Natürlich beherrschen Kinder, die gerade aus dem Ausland gekommen sind, nicht die deutsche Sprache. Aber sie sind nicht sprachlos, sie bringen ihre Herkunftssprache mit - darauf muss man aufbauen. In Deutschland ist man viel zu rasch defizitorientiert. 

Und zu monokulturell, finden etliche Bildungsforscherinnen. Ist das Problem eher diese Monokultur der deutschen Schule als die Diversität der Schüler - oder würden Sie das diplomatischer formulieren? 

Ich würde sagen: Das ist die Realität einer Einwanderungsgesellschaft. Wenn die Mehrheit der Kinder eine andere Herkunftssprache hat, dann müssen die Bildungsinstitutionen das stärker berücksichtigen. Ich finde es fragwürdig, dass wir immer noch den Anteil der Kinder mit einem sogenannten Migrationshintergrund an Schulen beziffern, auch wenn ihr Anteil in manchen Stadtteilen bei mehr als 70 Prozent liegt. Damit tun wir so, als würden sie eine Sondergruppe darstellen und nicht zu uns gehören. Es sind aber unsere Kinder. Sie sind die Zukunft unserer Gesellschaft. 

Welche Sprache sprechen Sie selbst mit ihren Kindern? 

In der Regel Polnisch. Wir hielten es lange mit der Regel "Ein Elternteil, eine Sprache". Ihr Vater spricht Deutsch mit ihnen. Allerdings sind wir nicht dogmatisch und mischen die Sprachen auch häufig. 

Haben Sie auch schon gehört, dass das gar nicht geht, dass zu Hause Deutsch gesprochen werden muss, damit die Kinder es ordentlich lernen? 

Das hat sich in den letzten Jahren zum Glück geändert. Ich erinnere mich aber: Als als wir 1990 in Deutschland ankamen, gingen wir zu einer Kinderärztin. Als sie meinen Vater Polnisch mit mir sprechen hörte, fuhr sie ihn an. Mich fragte sie, ob ich deutsche Freunde hätte. Ich hatte noch keine und habe mich sofort geschämt. Wie so viele Polen früher, die mir sagten, sie hätten nicht gewagt, laut Polnisch zu sprechen. In der Sprache tuschelte man. 

Warum ist Ihnen so wichtig, dass Ihre Kinder auch die erste Sprache ihrer Mutter lernen?

Weil - erstens - die Muttersprache die Sprache des Herzens ist. Wenn ich mich mit den Kindern freue oder mit ihnen schimpfe, passiert das spontan in der Sprache, die ich zuerst gelernt habe, auf Polnisch. Polnisch ist auch die Sprache ihrer Großeltern. Und eine Sprache ist ein Tor zur Welt, sie ist nicht nur Grammatik und Semantik, sondern sie transportiert auch Geschichte, Weltbilder und womöglich auch eine Identität. 

Da gibt es auch den Einwand, die Identität bikultureller Menschen sei gespalten.

Ich würde sagen: Identität ist auch Entscheidung, eine Wahl. Mein Sohn zum Beispiel ist nicht ganz sattelfest auf Polnisch, aber er definiert sich ganz klar und selbstbewusst als zweisprachig. Solche Kinder haben als Erwachsene die Wahl, als was sie sich sehen wollen. Egal, ob sie das nutzen: Die Mehrsprachigkeit ist auf jeden Fall soziales Kapital, das wir ihnen mitgeben. Aber es gibt noch andere gute Gründe, die Herkunftssprache zu stärken.

Zum Beispiel?

Wir wissen aus der Bildungsforschung, dass Mehrsprachigkeit die kognitiven Fähigkeiten der Kinder stärkt. Zudem hilft die Pflege der Herkunftssprache dabei, auch die Sprache des Landes zu lernen, in dem man lebt. Und sie hilft gegen eine verbreitete und ernstzunehmende Angst.

Angst?

Eine Angst, die alle Menschen mit Migrationserfahrung verbindet. Dass die Kinder die Sprache der Eltern verlieren. Ich höre das jetzt immer wieder von Geflüchteten. Das Auswandern bringt so viele Verluste mit sich. Diesen einen wollen sie unbedingt vermeiden, weil er auch eine andere Furcht befeuert: Mit der Sprache die Kinder selbst zu verlieren. Hier könnten die Schulen stärker ansetzen: Mit der Wertschätzung der Herkunftssprache stärkt man die Kinder und holt auch die Eltern besser mit ins Boot. Es reichen schon kleine Symbole: Lesewettbewerbe in den jeweiligen Herkunftssprachen, Schulfeste mit interkultureller Ausrichtung oder ein Schulchor mit internationalen Liedern etc.

Tun das die Schulen ausreichend?

Es gibt Schulen, die da viel tun.

Aber nicht genug?

Statt auf die andern mit dem Finger zu zeigen, möchte ich mich lieber mit denen zusammensetzen, die positive Beispiele geben. Natürlich ist da noch Luft nach oben. Es ist wichtig, Deutsch zu lernen! Und viele Lehrer und Erzieher beschäftigen sich intensiv damit, wie Kinder besser in Deutsch werden. Doch der methodische Blick ist manchmal zu eng. Im Fokus müsste die Frage stehen: Wie baue ich auf dem auf, was die Kinder mitbringen?

Sie sprachen kürzlich von einer Hierarchie der Sprachen. Zweisprachig deutsch-englisch und deutsch-französisch ist prima, deutsch-arabisch und deutsch-türkisch nicht.

Das sehen Sie sogar an den Wegweisern in der öffentlichen Verwaltung. Wenn ein Hinweisschild zurechtweist, verbietet oder sich an sozial Hilfebedürftige wendet, findet sich die Übersetzung häufig auf türkisch, arabisch oder polnisch. Touristeninformationen sind auf englisch oder französisch verfasst.  

Und das in einer Stadt, die mit den bilingualen Europaschulen einen deutschlandweiten Vorbildcharakter hat. Aus meiner Sicht ist das ein tolles Leuchtturmprojekt der Berliner Bildung. Übrigens, an den Europaschulen gibt es ebenfalls einen hohen Migrationsanteil, dennoch spricht hier keiner von "Brennpunktschulen". Wir sollten uns also ehrlich fragen: Geht es wirklich um Integration oder sprechen wir in Wirklichkeit von sozialen Problemen? Wenn ja, sollten wir differenziert argumentieren und soziale Problemlagen nicht ethnisieren. Das gilt auch für die Integrationspolitik: Sich in einem neuem Land zurechtzufinden ist nicht leicht. Hier brauchen wir Strukturen, die von Anfang an greifen und den Menschen erlauben, selbstbestimmt teilzuhaben. Denn genau das braucht eine kosmopolitische Stadt wie Berlin: Menschen, die ankommen, teilhaben und mitgestalten.

 Eine Stadt, die vor bald 40 Jahren die erste Integrationsbeauftragte hatte, Barbara John - seinerzeit noch "Ausländerbeauftragte". Nun sind Sie die erste mit eigenem Migrationshintergrund auf diesem Posten. Was ist da schiefgelaufen? Oder würden Sie sagen: Ist doch egal, wer den Job macht? 

Nein, egal ist das nicht. Integrationspolitik ist immer auch Symbolpolitik. Natürlich kann auch eine Person ohne Migrationshintergrund in diesem Amt gute Arbeit leisten. Aber wenn jemand wie ich, die tatsächlich migriert ist, die anderswo sozialisiert und zur Schule gegangen ist, das Auswahlverfahren besteht und in ein hohes Amt in der öffentlichen Verwaltung kommt, ist das ein wichtiges Signal. Schaut her, auch Menschen mit Migrationsgeschichte können Karriere machen! Solche Vorbilder sind wichtig. Ich selbst hätte nicht gedacht, welches öffentliche Echo meine Berufung in Polen schlägt. Meine Migrationsgeschichte beeinflusst, wie ich auf Dinge schaue. Uns Menschen mit Migrationserfahrung fällt womöglich schneller auf, wer am Tisch fehlt. Und wir wissen, dass die, die fehlen, oft Wichtiges beizutragen hätten. Deutschland neigt häufig zu Selbstbezogenheit. Nehmen Sie aktuell die Feiern zur friedlichen Revolution. Als die 1989 in Deutschland begann, gab es in Polen bereits halbfreie Wahlen. Seit 1980 hatte die Gewerkschaftsbewegung dort auf das Ende der Diktatur hingearbeitet. Auf diese Rolle Polens als Wegbereiterin stärker hinzuweisen, würde ganz andere Gemeinsamkeiten mit dem Osten der EU schaffen.

Wo sehen Sie die größten Baustellen der Einwanderungsgesellschaft?

Ich sehe da zwei Ebenen: Die eine ist die diskursive, die Frage der Zugehörigkeit: Wer ist Deutsch, wer gehört dazu? Können wir das Deutschsein von der ethnischen Kategorie entkoppeln und als eine politische Kategorie verstehen? Können wir als Gesellschaft anerkennen, dass man auch nichtweiß und deutsch sein kann? Wenn ja, dann müssen wir auch konsequent für mehr Sichtbarkeit und Repräsentanz der neuen Deutschen sorgen. Dazugehören heißt nicht nur die Teller im Restaurant spülen, sondern auch in staatlichen Institutionen zu arbeiten. Und wer dort ist, ist dann auch fürs Ganze zuständig und nicht nur für einzelne Gruppen. Ich bin als Integrationsbeauftragte für diese Stadt zuständig, ich muss verstehen, wie sie tickt und welche Forderungen und Interessen es in ihr gibt.

Das ist die eine Ebene.

Die andere Baustelle hat mit der starken Dynamik der Zuwanderung nach Berlin zu tun. Die Stadt wächst, wir bauen Wohnungen, Straßen, richten Schulen ein, aber wir reflektieren zu wenig: Wer kommt eigentlich zu uns? Die Zahlen sind aber eindeutig: Es ziehen vor allem Menschen aus dem Ausland nach Berlin - manche temporär, manche bleiben länger - Bayern oder Thüringerinnen kommen eher selten. Das heißt aber auch, dass wir uns darauf einrichten müssen und Unterstützung bieten, bevor Probleme entstehen. Erstorientierung ist wichtig, möglichst in den Sprachen, die die Menschen sprechen. Die Verwaltungsabläufe müssen einfach und verständlich sein. Wir müssen strukturelle Hürden abbauen und dabei auch über Rassismus sprechen. Und wir dürfen den Blick in die neuen Nachbarschaften nicht vergessen: An Ort und Stelle im Kiez entscheidet sich ja, ob Menschen wirklich ankommen. Familienzentren oder Stadtteilzentren sind tolle Orte, in denen sich alte und neue Nachbarn begegnen können.

 Geschieht denn da nicht schon viel?

Wir holen viele Versäumnisse nach, mit Erfolg: Wir haben heute Sprachkurse, die es früher nicht gab, ausländische Qualifikationen können anerkannt werden, und auch die Bildungsverläufe von Einwanderern sind immer besser geworden. Das wird oft nicht gesehen, wenn man Deutsche und Nichtdeutsche vergleicht, tatsächlich sind große Sprünge gelungen.

Aber Zuwanderung ist ein dynamischer Prozess, bei dem man ständig nachjustieren muss, je nach Zielgruppe. Daher lohnt die Frage nach Bedarfen: Was brauchen die Menschen von einer funktionierenden Stadt? Bildung, Arbeit, Wohnen - das brauchen alle - Alteingesessene wie Neue. Auch wenn es schön wäre, wenn mehr Neue wüssten, dass wir in Berlin ein Willkommenszentrum als Erstanlaufstelle haben.

Sie können ja mal ein bisschen Reklame dafür machen. Ist Integration vielleicht einfach nicht laut genug? Auch Sie sind öffentlich nicht sehr präsent.

Ich muss mich in diesen aufgeregten Zeiten nicht zu allem sofort öffentlich äußern. Stattdessen höre ich in sehr vielen Antrittsbesuchen sehr vielen Menschen zu, um mehr über ihre Themen zu erfahren. Das hilft mir, mit der Stadt ins Gespräch zu kommen. Es gibt inzwischen sehr viele Migrantenorganisationen, die immer wieder ihre eigene Stimme erheben. Das finde ich gut. 

Mit wem sprechen Sie?
Zum einen mit den anderen Ressorts der Verwaltung - Integration ist ein Querschnittsthema. Zum anderen mit Migrantenorganisationen, Wissenschaftlern, Think Tanks und natürlich auch Politikerinnen. Aber ich versuche auch, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die bis jetzt nur wenig Berührungspunkte mit dem Thema Migration hatten. Ich finde es wichtig, diese Menschen gut zu informieren, damit Ängste und Vorurteile abgebaut werden. Ich will möglichst viele mitnehmen.

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